Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 182
Von Philipp Christoph Kayser

15. Februar 1784, Mailand

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   Während meines Auffenthaltes in Genf habe ich ein Paket an Sie über
Zürich versandt welches hoffentlich angelangt seyn wird. Wir waren
nur vier Tage daselbst und traffen Saußüre nicht an, indem er um
den Ballon abreisen zu sehen nach Lyon verreist war. Das nur von
Steinen erbaute Schauspielhauß welches in dem Platze des alten hölzer-
nen stehet das die Bürger anzündeten, ist diesen Winter eingeweihet
worden und wird von den Einwohnern häuffig besucht. Ich habe die
Évenemens imprévues mit Gretry's Musik, sammt einigen andern
französischen Lustspielen und Farçen ganz artig aufführen sehen
und meine Sinnen zum erstenmale an der franz. National Action
gewezt. Die böse Wirthschaft da in dieser Stadt liegenden fremden
Offiziers, das Mißtrauen, die Verschloßenheit und der tiefe Piede der
Einwohner unter einander, der gemischte Ton und die Posten in
allen Winkeln, Ecken und freyen Plätzen der Stadt, zerstörten
jämmerlich mein Ideal, und machten mich froh daß ich fortkam.
Roußeaus Vaterland, die Krone der Schweitz und der heutige Zu-
stand, sind Contraste die mir wenigstens nicht in den leib wolten.
Die Reise von Genf durch Savoyen über den Mont Cenis nach Pie-
mont ist sehr interreßant, und ich wolte um vieles nicht, daß ich
sie selbst in dieser Jahrszeit, nicht gemacht hätte. Stellen Sie sich
vor was das Gedult übet acht volle Tage lang in einer engen Se-
die, Schritt vor Schritt durch ein weites Land zickzack fortzurücken
und Gebürge zu umfahren deren Hauffen einen Täglich wie die
ganze kleine Schweitz vorkommt. Wenn Sie Freunde haben die die-
sen Weg machen wollen, so dürfen Sie ihnen rathen in einer vierräde-
rigen Kutsche mit vier Pferden zu fahren, und die fatale Idee aller
Deutschen der Sedien wegen sich aus dem Sinne zu schlagen. Der Weg
ist bis an den Fuß des Mont Cenis breit und gut, und drüben des-
gleichen, die Sedien sind ein verjährtes Vorurtheil das ich verwünsche.
Die so gerühmte schrekliche Paßage über den Cenis ist nichts weiter
als ein groses Alpenfeld wie sie es in der Schweitz nennen, und die | 2 |
piemontesische Seite fährt man so weit der Schnee geht mit
Schlitten hinunter die man sich wohl zu besteigen hüten würde
wenn nur einigermaßen etwas Abgrundähnliches da wäre.
Rings um Turin herum bis an die Füße der Gebürge lag den
ganzen Januar kein Schnee, aber in Mayland liegt er heute Fuß-
hoch, und in Pavia habe ich diese Woche so gefroren als noch
wenig in meinem Leben. Die ältesten Leute wißen sich keinen
solchen Winter zu erinnern, und von dem Ausbleiben des Cour-
riers von Rom der vor einigen Wochen durch den Schnee auf den
Toskanischen Gebürgen um viele Täge verspätet wurde, wollen
die Kaufleute kein Beyspiel haben. bis nach Pavia und durch das
ganze Stück der Lombardey durch welches ich bisher gekommen,
hab' ich die Buben auf den Gassen schliefen sehen. Ich gestehe daß
ich ein milderes Clima erwartete, und daß die unbequemen
Einrichtungen des Landes gegen die Strenge des Winters mir phy-
sich und moralisch zusetzen. Mann hat wenig Beruf in den Kir-
chen, Opernhäußern, Tanzplänen und öffentlichen Orten sich die
Zähen abzufrieren, und wenn man heim kommt ein Küchenka-
min und einen steinernen Stubenboden, und übel verwahrte
Thüren und Fenster anzutreffen.


   Neapel soll diesen Carnaval die größte und beste Musik haben; Mar-
chesini der jezt so berühmte Castrat, Pugnani der erste Violinspieler
beyde in Diensten des Königs v. Sardinien, waren von Turin abwesend;
der erste singt in Rom und der andere führt seine Oper in Neapel auf.
In Turin ist kein groser Hang zur Musik, der Hof geht Tag Täglich in Galla
zur Meße und läßt sich ohne es zu achten etwas von der Capelle vorspielen
oder singen, und Abends geht er zur Oper. Ich bin also in die Meße und
Oper gegangen, ohne von der ersten erbaut, oder von der andern befriedi-
get worden zu seyn. Das Spiel bey der Meße ist ein liebes muß. Wann
der Priester endigt, endet das Chor, sie mögen nun in einem Tutti oder
Solo stehen. Zur zweyten Oper dieses Jahres hat ein Dichter das Sujet
aus der Mogolischen Geschichte genommen; ma, a riguardo della musica si
sono cangiati i nomi d' Homaioun di Thahamasb e di Schir-­Kan in quelli
d' Amaionne, di Tamaspe, e d' Ircano. Mir war's als ich das Opernbuch | 3 |
zur Hand kriegte, als würde ich in die Zeiten versezt wo mein Vater ein-
mal ein solches Ding mit von Mannheim nach Hause brachte, welches
ich damals so sehr respectirte und immer so an mir herum fahren
sah, als Fresenius Predigtbuch. Aber die würkliche Scene, die Castra-
ten mit Schnurrbärten, Prinzessinnen mit Reifröcken und hoch
frisirten Köpfen, die Ketten, kleine silberpapierne Meßerchen,
sammt dem ganzen Apparat Festungen zu bestürmen, feyerlich zu
Throne zu sitzen, Heere bey sich vorbey defiliren zu laßen, in Ohn-
macht zu fallen, und ohne alle Action eine ganze grose Action vor-
zustellen, das war mir würklich neu; und denken Sie, hier in Mayland
gibt man gar Iphigenia auf Tauris als Oper, und wie bey Eröfnung
der Scene einige zwanzig Priesterinnen einen Chor und Tanz beginnen,
war ich Kind genug mich zu vergeßen und die Schrödern als Iphige-
nia zu erwarten, da Tratt hervor eine herrliche prima donna in
einer weiß seidenenen Robe über und über mit Perlen übersäet u.
einen hohen Federbusch auf der Frisur, welche im lezten Akte dem
armen Thoas einen so kalten Meßerstich gibt, für welchen der Dichter,
Musiker und Akteur so gut sorgen, daß ich in dem Buche aufsuchen
mußte wo der Thoas hingekommen sey.   Kurz, ich hatte glücklich ver-
geßen daß ich die Italienische Oper nicht allein als das unerträglichste
Ding, sondern auch besonders gänzlich in ihrem Verfall erwarten müßte,
und ward mit Schmerzen von meinem Ideal zurück gebracht. Es ist
als ob Roußeaus, Allgarottis und Glucks Critiken gar nicht in der
Welt wären, und was noch ärger ist, als ob es nie keinen Metastaßio
Haße, Jomelli oder Galuppi gegeben hätte. Die Oper in Turin hat
Ottani Capellmstr. des Königs, und die in Mayland Monza, Capellmstr. des
Erzherzogs gesezt. Ottani ist noch erträglich, und obgleich sein Sujet
gar nichts groses litte, und er nur Sopranistinnen, Castraten und einen
einzigen Tenor hat, so haben doch seine Arien Gesang und etwas Feuer
der Tenorist heißt David und selbst Marchesini soll jaloux auf ihn seyn.
Er hat etwas Action, welche Marchesini auch haben soll; die einzige ita-
lienische Aktrize aber soll eine Buffasängerinn in Neapel seyn, welche
die reisenden Franzosen denn erschrecklich deswegen loben. Monza's Mu-
sik hingegen ist kalt, und dem erhabenen Gegenstande gar wenig ange-
meßen. Ganz Mayland ist misvergnügt, weil es nun aber die Mode ist | 4 |
alle Carnavale zwey Opern zu haben, so müßen sie sich leiden und
der ersten vergeßen die beßer war. Wenn die Deutschen solche
Theater, solche Dekorationen und einen solchen Hauffen Sänger ver-
mögten als die Mayländer haben, was würden sie leisten! Die Turi-
nischen Ballette verdienen daß ich sie Ihnen lobe. Mann hat unter
anderm die Abentheuer des Don Quieoxtte gegeben, wo eine ungeheuere
Menge Tänzer vorkamen, und alles bis auf die Pferde voller Sinn
und Reitz war. Dupré aus Paris ist die erste Ballerina seria, in
Mayland aber wird mehr gesprungen; auch ist weder das theater noch
die Dekorationen noch das Orchester so schön und gut als in Turin
wenn sie gleich erschrecklich neidisch drauf sind.


   Was soll ich Ihnen nun noch von dem Betragen der Italiener in den
Schauspielhäußern sagen! Alle Reisebeschreibungen reden davon, aber
es ist über alle Beschreibung. In Turin kam ich grad auf den Tag an
da die zweyte Oper zum erstenmal gegeben wurde, ich stand hart am
Orchester, und kaum konnte ich das Akkompagnement des Clavires
in den Recitativen, geschweige denn die Worte der Sänger verstehen.
In Mayland ists noch ärger, da hat man gar nicht einmal Interreße
für die Arien, der Abschaum aber ist in Pavia wo ich die vorige
Woche war. Nicht hundert Zuschauer sind in einem ungeheuern
Hause, und unter diesen etwa 30 Studenten, deren einige das Par-
terre grade zu zum Biergenuse und für gesittete Menschen zur
Hölle machen. Sie begnügten sich nicht nur von den Sängern über
ihre Kräfte Repetitionen zu fordern, Conversation mit ihnen auf die
Scene hinauf zu haben, und ihnen Zweydeutigkeiten zuzuruffen,
sondern sie brüllten sogar wie Thiere wenn sie sich behagten, und
übertäubten das ganze Orchester in den Tänzen so sehr daß einem
keine Sinne mehr als ein bißchen Gesicht übrig blieben. Ein von
Gluck, vermuthlich in seinen jüngern Jahren für Wien geseztes Ballet
worinnen der Harlekin als Bedienter eines spanischen Aventuriners vor-
kommt, und den Titel il convitato di Pietro führet, haben mir die
Bursche gänzlich verschunden, und weil sie die Oper die v. Metastaßio
war auswendig wußten, so sangen sie oft statt der Akteurs.


   Genehmigen Sie geneiget dieses wenige in seinem Broullion. Mögte ich
Ihnen etwas in diesem Lande seyn können! Ihre Aufträge werden mir
von Zürich aus, gleich Ihrem ersten Briefe richtig zukommen.


    K.


S:  GSA 28/474 St. 3  D:  -  B : -  A? : 1784 Juni 24 (WA IV 6, Nr. 1953) 

G. erhalte ein von K. aus Genf über Zürich gesandtes Paket. - Ausführlich über seine auf dem Weg von Genf über Savoyen, Piemont, Turin und Pavia nach Mailand gewonnenen Reiseeindrücke. Genf mache durch die böse Wirtschaft der in dieser Stadt liegenden fremden Offiziers einen sehr schlechten Eindruck; er sei nur vier Tage dort gewesen und habe H. B. von Saussure nicht angetroffen. Von seiner beschwerlichen und langwierigen Weiterreise und dem ungewöhnlich harten Winter, dem gegenüber die unbequemen Einrichtungen des Landes nur ungenügend Schutz böten. - Ausführlich über die ihm auf der Reise begegneten Musikereignisse, vor allem die Opern- und Ballettaufführungen: Vom neuerbauten Schauspielhaus in Genf, wo er A. E. M. Grétrys Musik sammt einigen andern französischen Lustspielen und Farçen gesehen habe, sowie über weitere (genannte) Inszenierungen in Turin und Mailand von den Kapellmeistern Ottani und Monza und über die wichtigsten Solisten, unter anderem Marchesini und Pugnani. In Mailand sei gar Iphigenie auf Tauris als Oper gegeben worden, aber über die künstlerische Qualität dort sei er enttäuscht. Es ist als ob Roußeaus, Allgurottis und Glucks Critiken gar nicht in der Welt wären [...]. /Kurz, ich hatte glücklich vergeßen daß ich die Italienische Oper nicht allein als das unerträglichste ding, sondern auch besonders gänzlich in ihrem Verfall erwarten müßte. Auch sei das Benehmen des Publikums besonders in Pavia über alle Beschreibung schlecht, wodurch K. der Genuß an Glucks Ballett "Il convitate di Pietro" verdorben worden sei.

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  Während meines Auffenthaltes in Genf habe ich ein Paket an Sie über Zürich versandt welches hoffentlich angelangt seyn wird. Wir waren nur vier Tage daselbst und traffen Saußüre nicht an, indem er um den Ballon abreisen zu sehen nach Lyon verreist war. Das nur von Steinen erbaute Schauspielhauß welches in dem Platze des alten hölzernen stehet das die Bürger anzündeten, ist diesen Winter eingeweihet worden und wird von den Einwohnern häuffig besucht. Ich habe die Évenemens imprévues mit Gretry's Musik, sammt einigen andern französischen Lustspielen und Farçen ganz artig aufführen sehen und meine Sinnen zum erstenmale an der franz. National Action gewezt. Die böse Wirthschaft da in dieser Stadt liegenden fremden Offiziers, das Mißtrauen, die Verschloßenheit und der tiefe Piede der Einwohner unter einander, der gemischte Ton und die Posten in allen Winkeln, Ecken und freyen Plätzen der Stadt, zerstörten jämmerlich mein Ideal, und machten mich froh daß ich fortkam. Roußeaus Vaterland, die Krone der Schweitz und der heutige Zustand, sind Contraste die mir wenigstens nicht in den leib wolten. Die Reise von Genf durch Savoyen über den Mont Cenis nach Piemont ist sehr interreßant, und ich wolte um vieles nicht, daß ich sie selbst in dieser Jahrszeit, nicht gemacht hätte. Stellen Sie sich vor was das Gedult übet acht volle Tage lang in einer engen Sedie, Schritt vor Schritt durch ein weites Land zickzack fortzurücken und Gebürge zu umfahren deren Hauffen einen Täglich wie die ganze kleine Schweitz vorkommt. Wenn Sie Freunde haben die diesen Weg machen wollen, so dürfen Sie ihnen rathen in einer vierräderigen Kutsche mit vier Pferden zu fahren, und die fatale Idee aller Deutschen der Sedien wegen sich aus dem Sinne zu schlagen. Der Weg ist bis an den Fuß des Mont Cenis breit und gut, und drüben desgleichen, die Sedien sind ein verjährtes Vorurtheil das ich verwünsche. Die so gerühmte schrekliche Paßage über den Cenis ist nichts weiter als ein groses Alpenfeld wie sie es in der Schweitz nennen, und die| 2 | piemontesische Seite fährt man so weit der Schnee geht mit Schlitten hinunter die man sich wohl zu besteigen hüten würde wenn nur einigermaßen etwas Abgrundähnliches da wäre. Rings um Turin herum bis an die Füße der Gebürge lag den ganzen Januar kein Schnee, aber in Mayland liegt er heute Fußhoch, und in Pavia habe ich diese Woche so gefroren als noch wenig in meinem Leben. Die ältesten Leute wißen sich keinen solchen Winter zu erinnern, und von dem Ausbleiben des Courriers von Rom der vor einigen Wochen durch den Schnee auf den Toskanischen Gebürgen um viele Täge verspätet wurde, wollen die Kaufleute kein Beyspiel haben. bis nach Pavia und durch das ganze Stück der Lombardey durch welches ich bisher gekommen, hab' ich die Buben auf den Gassen schliefen sehen. Ich gestehe daß ich ein milderes Clima erwartete, und daß die unbequemen Einrichtungen des Landes gegen die Strenge des Winters mir physich und moralisch zusetzen. Mann hat wenig Beruf in den Kirchen, Opernhäußern, Tanzplänen und öffentlichen Orten sich die Zähen abzufrieren, und wenn man heim kommt ein Küchenkamin und einen steinernen Stubenboden, und übel verwahrte Thüren und Fenster anzutreffen.

  Neapel soll diesen Carnaval die größte und beste Musik haben; Marchesini der jezt so berühmte Castrat, Pugnani der erste Violinspieler beyde in Diensten des Königs v. Sardinien, waren von Turin abwesend; der erste singt in Rom und der andere führt seine Oper in Neapel auf. In Turin ist kein groser Hang zur Musik, der Hof geht Tag Täglich in Galla zur Meße und läßt sich ohne es zu achten etwas von der Capelle vorspielen oder singen, und Abends geht er zur Oper. Ich bin also in die Meße und Oper gegangen, ohne von der ersten erbaut, oder von der andern befriediget worden zu seyn. Das Spiel bey der Meße ist ein liebes muß. Wann der Priester endigt, endet das Chor, sie mögen nun in einem Tutti oder Solo stehen. Zur zweyten Oper dieses Jahres hat ein Dichter das Sujet aus der Mogolischen Geschichte genommen; ma, a riguardo della musica si sono cangiati i nomi d' Homaioun di Thahamasb e di Schir-­Kan in quelli d' Amaionne, di Tamaspe, e d' Ircano. Mir war's als ich das Opernbuch| 3 | zur Hand kriegte, als würde ich in die Zeiten versezt wo mein Vater einmal ein solches Ding mit von Mannheim nach Hause brachte, welches ich damals so sehr respectirte und immer so an mir herum fahren sah, als Fresenius Predigtbuch. Aber die würkliche Scene, die Castraten mit Schnurrbärten, Prinzessinnen mit Reifröcken und hoch frisirten Köpfen, die Ketten, kleine silberpapierne Meßerchen, sammt dem ganzen Apparat Festungen zu bestürmen, feyerlich zu Throne zu sitzen, Heere bey sich vorbey defiliren zu laßen, in Ohnmacht zu fallen, und ohne alle Action eine ganze grose Action vorzustellen, das war mir würklich neu; und denken Sie, hier in Mayland gibt man gar Iphigenia auf Tauris als Oper, und wie bey Eröfnung der Scene einige zwanzig Priesterinnen einen Chor und Tanz beginnen, war ich Kind genug mich zu vergeßen und die Schrödern als Iphigenia zu erwarten, da Tratt hervor eine herrliche prima donna in einer weiß seidenenen Robe über und über mit Perlen übersäet u. einen hohen Federbusch auf der Frisur, welche im lezten Akte dem armen Thoas einen so kalten Meßerstich gibt, für welchen der Dichter, Musiker und Akteur so gut sorgen, daß ich in dem Buche aufsuchen mußte wo der Thoas hingekommen sey. Kurz, ich hatte glücklich vergeßen daß ich die Italienische Oper nicht allein als das unerträglichste Ding, sondern auch besonders gänzlich in ihrem Verfall erwarten müßte, und ward mit Schmerzen von meinem Ideal zurück gebracht. Es ist als ob Roußeaus, Allgarottis und Glucks Critiken gar nicht in der Welt wären, und was noch ärger ist, als ob es nie keinen Metastaßio Haße, Jomelli oder Galuppi gegeben hätte. Die Oper in Turin hat Ottani Capellmstr. des Königs, und die in Mayland Monza, Capellmstr. des Erzherzogs gesezt. Ottani ist noch erträglich, und obgleich sein Sujet gar nichts groses litte, und er nur Sopranistinnen, Castraten und einen einzigen Tenor hat, so haben doch seine Arien Gesang und etwas Feuer der Tenorist heißt David und selbst Marchesini soll jaloux auf ihn seyn. Er hat etwas Action, welche Marchesini auch haben soll; die einzige italienische Aktrize aber soll eine Buffasängerinn in Neapel seyn, welche die reisenden Franzosen denn erschrecklich deswegen loben. Monza's Musik hingegen ist kalt, und dem erhabenen Gegenstande gar wenig angemeßen. Ganz Mayland ist misvergnügt, weil es nun aber die Mode ist| 4 | alle Carnavale zwey Opern zu haben, so müßen sie sich leiden und der ersten vergeßen die beßer war. Wenn die Deutschen solche Theater, solche Dekorationen und einen solchen Hauffen Sänger vermögten als die Mayländer haben, was würden sie leisten! Die Turinischen Ballette verdienen daß ich sie Ihnen lobe. Mann hat unter anderm die Abentheuer des Don Quieoxtte gegeben, wo eine ungeheuere Menge Tänzer vorkamen, und alles bis auf die Pferde voller Sinn und Reitz war. Dupré aus Paris ist die erste Ballerina seria, in Mayland aber wird mehr gesprungen; auch ist weder das theater noch die Dekorationen noch das Orchester so schön und gut als in Turin wenn sie gleich erschrecklich neidisch drauf sind.

  Was soll ich Ihnen nun noch von dem Betragen der Italiener in den Schauspielhäußern sagen! Alle Reisebeschreibungen reden davon, aber es ist über alle Beschreibung. In Turin kam ich grad auf den Tag an da die zweyte Oper zum erstenmal gegeben wurde, ich stand hart am Orchester, und kaum konnte ich das Akkompagnement des Clavires in den Recitativen, geschweige denn die Worte der Sänger verstehen. In Mayland ists noch ärger, da hat man gar nicht einmal Interreße für die Arien, der Abschaum aber ist in Pavia wo ich die vorige Woche war. Nicht hundert Zuschauer sind in einem ungeheuern Hause, und unter diesen etwa 30 Studenten, deren einige das Parterre grade zu zum Biergenuse und für gesittete Menschen zur Hölle machen. Sie begnügten sich nicht nur von den Sängern über ihre Kräfte Repetitionen zu fordern, Conversation mit ihnen auf die Scene hinauf zu haben, und ihnen Zweydeutigkeiten zuzuruffen, sondern sie brüllten sogar wie Thiere wenn sie sich behagten, und übertäubten das ganze Orchester in den Tänzen so sehr daß einem keine Sinne mehr als ein bißchen Gesicht übrig blieben. Ein von Gluck, vermuthlich in seinen jüngern Jahren für Wien geseztes Ballet worinnen der Harlekin als Bedienter eines spanischen Aventuriners vorkommt, und den Titel il convitato di Pietro führet, haben mir die Bursche gänzlich verschunden, und weil sie die Oper die v. Metastaßio war auswendig wußten, so sangen sie oft statt der Akteurs.

  Genehmigen Sie geneiget dieses wenige in seinem Broullion. Mögte ich Ihnen etwas in diesem Lande seyn können! Ihre Aufträge werden mir von Zürich aus, gleich Ihrem ersten Briefe richtig zukommen.

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