Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 167
Von Johann Kaspar Lavater

12. Oktober 1782, Zürich

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Zusammengesunken, sterbend schlafend
sizt der B. Mutter jezt zu meiner Rech-
ten – Sie, schweigend, und auf jede
Adem horchend neben Ihr .... Soeben
erhielt ich deinen Bedacht und Wahrheit
reichen Brief mit dem Einschlag an
Tischbein, der izt Conradin von Schwaben,
wie mich dünckt herrlich mahlt.


   


Grüße mir Ihn herzlich, sagt B. die stil-
le Tochter der stillen Mutter, deren
immer gleichförmige Existenz – und feste
Gestalt ich aus dieser Mutter nicht herleiten
kann.


   


Tischbein, den ich, wenn er nicht so
herzgut wäre, drüken müßte, weil ich
Ihm auch nicht den mindesten Mangel
oder Fehler ungeahndet hingehen las-
se, werd' ich, so viel an mir liegt, im
Namen des Herzogen von Gotha
zu bestimmen suchen. Denn in mei-
nem eigenen Namen kann und
darf ich niemand bestimmen. Allem
Willen Lenken anderer bin ich
mehr, wie kein Mensch abgestor- | 2 |
ben. Der freye Willen eines an-
dern ist mir heilig, wie eine Gott-
heit.


   =


Wenn du, mein Lieber, meinEinmahl-
Eins hast, dann kann unser Tole-
ranzbund geschlossen werden. Ich le-
ge all' mein Wesen, und doch
nichts darein, was nicht ist – wie
Einmahl Eins ... Wenn nur "die
heiligen Wächter" wollen, daß
ich's vollende.


Doch vielleicht hab' ich dir das schon
geschrieben.


   =


   Varia.


Lips hat nach Vandyk einen Sebasti-
an gravirt, wofür ihm die Düssel-
dorfer Academie 750 f gab.


Ich habe einige Dinge für dich, die ich
dir ehestens senden will.


   =


Das Poträt von Carl V von Dürrer
meyn ich, hat mich tief in die Seele
des Mannes und des Künstlers sehen
lassen. Ich möchte ein Buch über so ein | 3 |
Gesicht, so eine Arbeit schreiben – Es
sizt eine Gottheit, eine Tochter
des eisernen Schicksals in diesem
unbiegsamen Gesichte. Es spricht eine
Geisterversammlung Göttersentenzen
durch dasselbe. Güte ist fern da-
von; Zärtlichkeit hat es nicht ange-
haucht. Doch ist's nicht so fast boshafft,
als unerbittlich unbiegsam. Es
ist, als wenn ein Genius das Ge-
sicht copirt, und besonders die
Stirn und Augen bearbeitet
hätte. Ich kann nicht mehr. Leb
wohl. Grüsse und sage dem
Unvergeßlichen, daß ich thätlich
an Ihn zu denken anfange.


   
    JCL.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 120  B : 1782 Oktober 4 (WA IV 6, Nr. 1586)  A : an J. H. Merck, 1782 Oktober 27 (WA IV 6, Nr. 1603)  A? : 1782 vor Dezember 28 (vgl. RA 1, Nr. 170)  V:  Abschrift 

Am Sterbebett der Mutter B. Schultheß' danke L. für G.s Bedacht und Wahrheit reichen Brief. - W. Tischbein wolle er im Namen des Herzogs von Sachsen-Gotha zu bestimmen suchen. - Zustimmung zu G.s Vorschlag, einen Toleranzbund zu schließen. - Lips hat nach Vandyk einen Sebastian gravirt [...]. / Ich habe einige Dinge für dich, die ich dir ehestens senden will. - Zu Dürers Porträt von Kaiser Karl V. - Gruß von B. Schultheß.

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 Zusammengesunken, sterbend schlafend sizt der B. Mutter jezt zu meiner Rechten – Sie, schweigend, und auf jede Adem horchend neben Ihr .... Soeben erhielt ich deinen Bedacht und Wahrheit reichen Brief mit dem Einschlag an Tischbein, der izt Conradin von Schwaben, wie mich dünckt herrlich mahlt.

  

 Grüße mir Ihn herzlich, sagt B. die stille Tochter der stillen Mutter, deren immer gleichförmige Existenz – und feste Gestalt ich aus dieser Mutter nicht herleiten kann.

  

 Tischbein, den ich, wenn er nicht so herzgut wäre, drüken müßte, weil ich Ihm auch nicht den mindesten Mangel oder Fehler ungeahndet hingehen lasse, werd' ich, so viel an mir liegt, im Namen des Herzogen von Gotha zu bestimmen suchen. Denn in meinem eigenen Namen kann und darf ich niemand bestimmen. Allem Willen Lenken anderer bin ich mehr, wie kein Mensch abgestor| 2 |ben. Der freye Willen eines andern ist mir heilig, wie eine Gottheit.

  =

 Wenn du, mein Lieber, meinEinmahlEins hast, dann kann unser Toleranzbund geschlossen werden. Ich lege all' mein Wesen, und doch nichts darein, was nicht ist – wie Einmahl Eins ... Wenn nur "die heiligen Wächter" wollen, daß ich's vollende.

 Doch vielleicht hab' ich dir das schon geschrieben.

  =

  Varia.

 Lips hat nach Vandyk einen Sebastian gravirt, wofür ihm die Düsseldorfer Academie 750 f gab.

 Ich habe einige Dinge für dich, die ich dir ehestens senden will.

  =

 Das Poträt von Carl V von Dürrer meyn ich, hat mich tief in die Seele des Mannes und des Künstlers sehen lassen. Ich möchte ein Buch über so ein| 3 | Gesicht, so eine Arbeit schreiben – Es sizt eine Gottheit, eine Tochter des eisernen Schicksals in diesem unbiegsamen Gesichte. Es spricht eine Geisterversammlung Göttersentenzen durch dasselbe. Güte ist fern davon; Zärtlichkeit hat es nicht angehaucht. Doch ist's nicht so fast boshafft, als unerbittlich unbiegsam. Es ist, als wenn ein Genius das Gesicht copirt, und besonders die Stirn und Augen bearbeitet hätte. Ich kann nicht mehr. Leb wohl. Grüsse und sage dem Unvergeßlichen, daß ich thätlich an Ihn zu denken anfange.

    JCL.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 167, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0167_00181.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 167.

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