Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 163
Von Johann Kaspar Lavater

10. August 1782, Zürich

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Was möglich ist, muß mir wirklich
werden – aber so wundersüchtig ich al-
ler Welt scheinen mag – nicht einen
Zohl über die Unerzwungenheit schreit'
ich hinaus. Darum kam ich nicht nach
Weymar, wo mich jedoch der Genius,
der mich in dein väterliches Haus
brachte, wohl noch bringen wird. Ich
reiste so vergnügt, so seegnend, und
so geseegnet, als man kann u: nicht
kann.


Mein Genius machte mir immer Bahn.
Bestellte mir immer Quartir – ohne zu-
sagen für wen? Man erwartete, was
nicht kam; was man nicht erwartete,
stand da. Alte Bekantschaften hab' ich
wohl 60. erneüert, wohl 60. interes- | 2 |
sante neüe gemacht.


Iselin sah' ich ruhig, voll Lebenshof-
nung – quasi in Agone – wie die ge-
meinsten gutherzigen Menschen –
asthmatisiren.


Die Fürstin von Zerbst, wie die gemein-
ste fromme Barönin – in einem Buß-
zimmer eingesperrt – wie's mir vor-
kam. Die gute reizlose Seele!


In Straßburg aß ich bey Calliostro,
der sehr ernsthaft gegen alles entschied,
was wider Gott u: Obrigkeit schreibe –
sehr wenig von den 7. Geistern merkℓ
ließ, mir menschlicher u: edler schien,
auch mir einige gute moralische Lehrℓ
gab.


Ferner Duc u: Pair de France Caylus ,
ein widerlich hagerer, aber profonder,
feiner, beredter, von paßiver Geister- | 3 |
seherey zu seinem größten Ärger sehr
geplagter Vielwißer, der viel auf Cal-
liostro's Wißen, auf seinen Charakter
wenig hält.


Pasquai in Straßburg, einer der ge-
schmackvollsten, offensten, geistigsten
Epikuréer.


Brankoni – sah' ich nicht! Sie war in
einem Bade. Aber Sarrasin, Anna
Brankoni, Mattei, Forstenburg,
Schweighaüsern, Breu, Stubern, Ber-
teis, Rathsamhausen.


Des Marggrafen anfängliche Kälte,
beßer Marmornheit, fiel mir sehr
auf. Neben Deßau war Er anfangs
fast ungenießbar. Die Vielwißerinn,
Vielfragerinn von Baden war sehr hon-
net gegen mich. – Die ErbPrinzeßinn
von Baden wurde mir herzlieb, ohne | 4 |
daß ich jedoch ein herzlich Wort zu Ihr
sagen, oder von Ihr hören konnte. Der
Erbprinz schien mir, obgleich sie sich
sehr lieben, nicht zu Ihr zupaßen.
Edelsheim drückte mich anfangs
durch seine höfiche Süffisanze. Nach-
her kamen wir auf KunstCapitel,
wo wir wohl fortkamen. Marggraf
Christian, ni Fallor, fand ich schlecht
u: recht, ohne für Ihn, oder wider Ihn
etwas zuhaben. Prinz Friederich et-
was fettlicher an Leib u: Geist. Sonst
war mir alles fade, was ich in Carls-
ruh sah. Dort fand ich Baron u: Dohm-
herr von Berg u: Frau, welche leztere
von mir u: Merk für Herzogähnlich
deklarirt, von andern Ihrer Kleinheit
wegen für meine Tochter gehalten | 5 |
ward. Ein harmloses, edles, herzliebes
Paar, aber nichts, wie der fürstliche
Deßau, der aus seinem Gesicht heraus-
zog, was darauszuziehen war – über
den Augen etwas erhabenes, ernsthelles
hatte, was ich noch nie sahe! Der Edle,
feste, feingute, Allgenießer alles ge-
nießbaren.


In Heydelberg fiel mir der erzfreye,
erzfeine, erzdienstfertige u: dienstkun-
dige Mieg u: sein sehr gescheütes,
kühlendes, Mannlenkendes, unan-
ziehendes Weibchen auf.


Adminstrations Rath Harscher ist
auch dort ein genießbarer Mann. Die
Delfius hiengen sich auch an. Ein Ri-
gal dort würde dir gefallen. Drey
Schwestern Anz, ni Fallor, herzgute
Kinder.


In Darmstadt sah' ich die Heßin, der | 6 |
Herderen Schwester – unkenntlich,
ausgelärt, todtenähnlich – eine ath-
mende Atonie, zum Schrecken aller
Augen! Ihr Mann behauptete immer, Ihr
fehle nichts.


Merck begleitete mich erst zum Grabe
der Landgräfin, ließ mich ganz silhue-
tiren von dem unbeholfenen, ge-
schmacklosen Männchen, das du kennst,
kam dann mit mir auf Frankfurt,
wo wir herzlich goethisirten, weymari-
sirten, tischbeinten; In Frankfurt
sah' ich nur Mamma – Du denkst, wie
sie sich stellte! Von Kniege, den Henry
quatre en Carrikatüre – die mun-
tere Bretano, das herzbrave, kalte,
Erzweib – AltHarlekin Deinet und
Dorville – zum zweytenmahl ein
Duzend, deren Namen dir Mamma
schreiben wird – Willemer beglei- | 7 |
tete mich bis Höchst. Wir waren recht
gut beysammen.


In Offenbach Fürst Isenburg, oder
Güte, Dehmuth, Frömmigkeit in Person.
Mollenbeck, ein natürlicher, Licht-
heller, aktifer RegirungsRath – Seine
Frau – das Geschrey abgerechnet, bliz-
gescheut.


In Hanau, was mir wohlgefiel, sah'
ich nichts vom Hofe. Kämpf, Jung,
Richter – gefielen mir noch.


Den ErbPrinz sah' ich auch nicht in Will-
helmsbad. Die Hoheit auch nicht. Sie
waren in der Comedie.


Prinz Carl sprach mit mir vom Ge-
bethe!! Herzog Ferdinand, in dem
ein halb duzend Kerls steckten –
ohne eigentlichen Verstand, voll Un-
ternehmungsGeist, Klugheit, Sçavoir-
dire. Prinz Friederich, Schneider und | 8 |
Perrükier in einer Person; Die Frau
von Diede, ein Engel, die ich auf ihr Ge-
sicht hin, zwischen zween Fürsten aus-
stach, herausführte u: sprach.


Frau von Löw, ein großmütterlich
herrnhutsch englisch hannöverscher Adel-
geist im edelsten Sinn.


Schrautenbach, der erste, denkende,
philosophische Herrnhuter, den ich ge-
sehen. Ein Mann, in deßen Umgang
ich einmahl wieder gefühlt habe, was
Umgang mit Menschen ist, die nicht
nur empfangen, sondern auch geben.
Ich wünschte, daß du das große Capi-
tel über dich, das zwischen Ihm und
mir u: Frau von Löw abgehandelt
ward, mit angehört hättest.


Herr von Diede flößte mir viel Re-
spekt ein; durch seine Ruhe, seine | 9 |
Weisheit, seine Billigkeit, sein Wißℓ,
sein Denken, seinen Geschmack, seine
Freymüthigkeit.


Zu Laubach sah' ich auch ein Halbdu-
zend herzgute u: drunter auch weise
Menschen. Die Gräfin ohne das min-
deste amoros anziehendes zuhaben,
hat etwas festes, weises, gerades, männ-
liches. Eine Schwägerinn von Ihr, Chri-
stiane, etwas sehr einnehmendes,
insinuantes, ohne schön oder reizend
zuseyn.


Bey dem Landgrafen von Homburg,
in seiner Familie, besonders seinen
ältesten Prinzen, in seinem Wagen,
u: bey seinem Geleite nach Maynz,
wo ich nicht das allermindeste Lebende
oder Leblose sah, das mich berührte,
war mir wohl. Mit solchen rechtschafe-
nen, durchaus frommen Menschen be- | 10 |
setzt Gott einstens seine schönste Plä-
ze des Himmels.


Zu Schwezingen sah' ich La Roche und
Frau. Er kam mir, wie ein Hofkauz
vor, insbesonder war mir Minister
Stadion aus seinem Gesichte transpa-
rent. Sie schien mir, seit ich sie sah, grös-
ser gewachsen. Ihre harmlose Zuthu-
lichkeit behagte mir; jedoch nicht soviel,
als mir ihre sentimentale Preziosi-
tät schenant war.


In Mannheim lief ich durch die Galle-
rien, wo ich wenig ganz schönes, viel
prächtiges sah! Fratrel hatte ich nicht
Zeit zusehen, muß auch gestehen, daß
mir seine von dem guten Deütschfran-
zosen Krahn hochgerühmten Gemähl-
de, in meinem Sinn raphaelisch-Dü-
rerschen Pracht Carrikaturen nicht | 11 |
tiefer als ein Paar Meßerrücken in
mich hineingehen wollten. HofCammer-
Rath Rigal, ein sehr verständiger, ed-
ler, herzguter, nur zu enthüsiastischer
Mann, wäre wohl auch einmahl deines
Anbliks werth. Bey dem überehrlichℓ,
überguten, freündschaftlichen Etourdi
Salzer in Wisloch, wo ich in der Luther-
schen Kirche Lutheranern, Reformirtℓ,
Catholiken, beylaüfig auch einigen
Juden eine sehr tolerante Predigt, über
das: Eins ist Noth, gehalten, blieb ich
einen halben Tag. Daselbst hatt' ich auch
noch das Vergnügen, da ich eben abreisℓ
wollte, den Prinz von Hollstein Gottorp,
seine Gemahlinn, u: ihren Bruder, Prinz
Willhelm, im Posthause zusehn, und
mich eine halbe Stunde mit Ihnen vor-
treflich zuunterhalten. Ich weiß, daß
es dem Herzog u: dir sehr wohl thun | 12 |
würde, diesen gesund denkenden Mann
näher kennen zulernen.


Graf Schmettau, der in ihrer Suite war,
schien mir ein sehr feiner, aber nicht
so recht zutraulicher Mann zuseyn.


In Schweigern, Graf Nieperg u: Frau;
Er, die allergemeinste, trivialste, gräf-
liche Hoflaus, die viel weiß, ohne etwas
zukennen; viel hat, ohne etwas zu besizℓ,
unter anderm einige antike Gemähl-
de, wovon eins des expreßen Hin-
reisens werth wäre; Seine Frau, eine
erzgelehrte Jakobitin, mit der Präten-
sion von "Mondsucht" behaftet, sagte
mir ganz ausdrücklich, daß sie die
Philaide in Jacobis Schriften sey, übri-
gens sicherlich kein gemeines Weib,
von deren aber einer meiner Freünde
sagen würde: "Ich mag sie nicht zur | 13 |
Frau; nicht zur Freündin; nicht zur
Maitreße; nicht zur Corresponden-
tin –"


In Heilbronn sah' ich Arbeit von Fuger,
die so vortreflich war, daß ich meinen
Augen kaum traute. In Ludwigs-
burg sah' ich den immergleichen Natha-
nael Hartmann, in dem gewiß, wenn
Schloßers Unwahrheit Wahrheit wäre,
ein halbes Duzend Apostel Seelen sich
zu Einer vereinigt haben könnten; dℓ
häßlichen u: herrlichen Obrist Nicolai,
einen wahrhaft philosophischen Soldatℓ.
In Hohen Asperg sah' ich Schubart, der
seine Gesinnungen u: sein Leben, ei-
ne Aestetik, u: über die Musik schreibt,
u: hundert niedlich ausgearbeite Ge-
dichte, es izt sehr gut hat, u: seyner Be-
freyung nahe ist. Ein Mensch mit | 14 |
Bahrdtischen Talenten mit viel ehrli-
cherm Herzen; übrigens fürchte ich,
weiter nichts als Meteor von
Genie u: Tugend.


In Stutgard sah' ich die große Pracht-
maschine des Militarischen Treib-
hauses, u. Expeditions Rath Hart-
mann, der sich Eüer dankbar erinnerte,
u: den mit seinen Großfürstischen
Anstalten scharf beschäftigten Erzher-
zog mit seiner Hohenheim vorbey-
rennen.


In Eßlingen sah' ich nebst einigen
subaltern klugen u: guten Menschℓ,
das vortrefliche Schwesterkleeblat
Palm, in meinen Augen das ein-
zige Phänomen von Verstand, Nach-
denken, Lichtbedürfniß, Adel der
Seele, Tugend, Sitte, Unschuld, Reli- | 15 |
gion, Frohheit, die sich besonders mit
meinem neüen Einmahleins der
Menschheit aüßerst gern futtern
ließen.


In Echterdingen sah' ich den immer-
gleichen, scharf denkenden, jedoch
sans ame Schriftforschenden, feinℓ,
geschmacklosen, unanziehenden,
lehrreichen, Sternelauf u: die Mi-
nute der Wiederkunft Christi ernst
berechnenden Pfarrer Hahn.


In Walderburg einen sehr wackerℓ
Jägerbaron von Röder, u: seine
hausmütterliche brave gute Frau.
In Tübingen den süß, sanft, be-
scheidenen Schweiger, u: gutherzig
weise redenden, innerlich unbe-
weglichen D. Merklin, sonst keine
dir intereßante Personen, als zwey | 16 |
oder drey, sehr Talentreiche, thätige
Dichter, Reinhardt u: Konz, in deren
Gestalten u: Gesichtern ich das feine
u: originelle ihrer Poetereyen müh-
sam heraussuchen mußte.


In Schaffhausen ruhte ich bey den
Immthurns, wo die Frau immer krän-
kelt, wo des Herzogs Porträt zwischℓ
deinem u: seiner Mutter Schatten-
riß mir behaglich war.


Glüklich kehrte ich ohne die minde-
ste Erhizung oder Ermüdung nach
3. Wochen sehr gefühlter Existenz in
den Schoos der Meinigen zurück, wo
ich izt sehr vergnügt wäre, wenn
meine kleine herzige Luise, du
weißt, an wen ich bey diesem süßℓ
Namen alle Tage denke, wen ich | 17 |
aus ihrer Beyden Schwestern Ange-
sicht herausdistillirte? nicht krän-
kelte. Das allersüßeste Herzenskind,
das sich denken läßt, die höchste Freü-
de meines Lebens.


Noch vergaß ich, wie ich vermuthlich noch
manches vergeßen haben werde, von
Bode zusagen; das musikalisch-­komi-
sche, das mir in seinem ersten An-
blick, eh' ich auch an seinen Namen
dachte, oder etwas davon wußte, auf-
fiel, ward von seinen tiefsinnigen,
feinen, lehrreichen Gesprächen, von
dem selten ehrlichen Wesen, u: von
der Treüherzigkeit, die sich sogleich un-
srer bemächtigte, gänzlich annalisirt.


   =


Hast du auch einmahl meinen Brief
Ulrichs wegen erhalten?


Tischbeins Arbeit wird dir nun alles | 18 |
gesagt haben, was sich von ihm sagen
läßt. Scharf einbinden werd' ich ihm,
die großen Lehren von dem buchstäb-
lichen Verstand aller göttlichen und
menschlichen Schriftzüge; Sie heißen:
Caspar Lavaters Porträt, oder Göz
von Berlichingen. Liebe Seele, es thut
mir sehr leid: weder Bodmers Por-
trät, noch das meinige kann in Wey-
mar bleiben. Verzeih! Was möglich
ist, das laß ich alles geschehen; aber
mehr nicht.


Man hat mir ein in kleinlichem
Styl gezeichnetes Porträt von Weymar
gesandt, worüber ich meine Gedanken
sagen soll. Dir sagt' ich sie mit Freüdℓ,
wenn das Bild wahrer wäre – von Cla-
ville gezeichnet. Denn offenbar sind gros-
se, vielsagende Mißzeichniße drinn. | 19 |
Sicherlich ist's auch so noch, wie's ist, ein
herrlich, fruchtbringend, edel, Ideen-
reiches – nicht eigentlich tiefforschen-
des, aber leicht u: hell sehendes, schnell-
geschäftiges, gutherziges Wesen.


Nun, Adieü! – Alter Lieber! Grüß
jeden nach seiner Art, der mir wohl
will, obgleich ich der alte, unverbes-
serliche, arme Sünder von einem
Christglaübigen Menschen bin, der
gern gern sähe, was du über meinℓ
Pilatus parodirt hast, in deßen
zweytem Theil du sicherlich doch et-
was finden wirst, das dir ein "Ur-
alte Natur" abnöthigen soll. Vale
et fave.


   


Da eine der merkwürdigsten Dirnℓ
hingerichtet wird – die um haüfiger | 20 |
Hureyen willen gefangen – endlich
des Zuchthauses überdrüßig ein gott-
loses Geschöpf kaltblütig, ohne Anlaß,
todtschlug – du mußt sie gesehen habℓ?
Ein schön, wohlgestaltet Mensch mit
einem Blizblick – der Leichtsinn in
Person. Adieü.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 118  B : 1782 Juli 29 (WA IV 6, Nr. 1538)  A : 1782 Oktober 4 (WA IV 6, Nr. 1586)  V:  Abschrift 

L. berichtet über seine im Juli stattgefundene Reise nach Basel, Straßburg, Karlsruhe, Darmstadt, Heidelberg, Frankfurt, Offenbach, Hanau, Wilhelmsbad, Homburg vor der Höhe, Mainz, Mannheim, Heilbronn, Ludwigsburg, Stuttgart, Eßlingen, Echterdingen, Tübingen, Schaffhausen und anderen Orten; über seine Begegnungen mit I. Iselin, Cagliostro, dem Duc de Caylus, J. Sarasin, K. J. K. M. Matthaei, J. G. Schweighäuser, J. G. Stuber, dem Markgrafen von Baden und dessen Familie, W. von Edelsheim, Fürst Leopold III. von Anhalt-Dessau, J. F. Mieg, den Schwestern Delph, F. K. von Hesse, J. H. Merck, G.s Mutter, A. F. F. L. von Knigge, M. E. Brentano, J. K. Deinet, J. G. d'Orville, J. J. Willemer, J. Kämpf, den Prinzen Karl und Friedrich von Hessen-Kassel, dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, W. C. und U. M. K. L. von Diede zum Fürstenstein, der Familie des Landgrafen von Hessen-Homburg, G. M. F. und M. S. von La Roche, J. C. Salzer, I. Hartmann, C. F. D. Schubart, J. G. Hartmann, dem Herzog von Württemberg und F. von Hohenheim, P. M. Hahn, K. F. Reinhard, K. P. Conz, G. F. Im Thurn, J. J. C. Bode und anderen. - Anfrage, ob G. den Brief mit der Empfehlung Ulrichs (vgl. RA 1, Nr. 159) erhalten habe. - Zu W. Tischbein und einigen seiner Arbeiten. Charakterisierung von J. B. G. d'Ansse de Villoison anhand des aus Weimar übersandten Porträts. - L. sähe gern, was G. über "Pontius Pilatus" parodiert habe. - Über eine der merkwürdigsten Dirnen, die wegen Mordes hingerichtet werde.

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 Was möglich ist, muß mir wirklich werden – aber so wundersüchtig ich aller Welt scheinen mag – nicht einen Zohl über die Unerzwungenheit schreit' ich hinaus. Darum kam ich nicht nach Weymar, wo mich jedoch der Genius, der mich in dein väterliches Haus brachte, wohl noch bringen wird. Ich reiste so vergnügt, so seegnend, und so geseegnet, als man kann u: nicht kann.

 Mein Genius machte mir immer Bahn. Bestellte mir immer Quartir – ohne zusagen für wen? Man erwartete, was nicht kam; was man nicht erwartete, stand da. Alte Bekantschaften hab' ich wohl 60. erneüert, wohl 60. interes| 2 |sante neüe gemacht.

 Iselin sah' ich ruhig, voll Lebenshofnung – quasi in Agone – wie die gemeinsten gutherzigen Menschen – asthmatisiren.

 Die Fürstin von Zerbst, wie die gemeinste fromme Barönin – in einem Bußzimmer eingesperrt – wie's mir vorkam. Die gute reizlose Seele!

 In Straßburg aß ich bey Calliostro, der sehr ernsthaft gegen alles entschied, was wider Gott u: Obrigkeit schreibe – sehr wenig von den 7. Geistern merkℓ ließ, mir menschlicher u: edler schien, auch mir einige gute moralische Lehrℓ gab.

 Ferner Duc u: Pair de France Caylus , ein widerlich hagerer, aber profonder, feiner, beredter, von paßiver Geister| 3 |seherey zu seinem größten Ärger sehr geplagter Vielwißer, der viel auf Calliostro's Wißen, auf seinen Charakter wenig hält.

 Pasquai in Straßburg, einer der geschmackvollsten, offensten, geistigsten Epikuréer.

 Brankoni – sah' ich nicht! Sie war in einem Bade. Aber Sarrasin, Anna Brankoni, Mattei, Forstenburg, Schweighaüsern, Breu, Stubern, Berteis, Rathsamhausen.

 Des Marggrafen anfängliche Kälte, beßer Marmornheit, fiel mir sehr auf. Neben Deßau war Er anfangs fast ungenießbar. Die Vielwißerinn, Vielfragerinn von Baden war sehr honnet gegen mich. – Die ErbPrinzeßinn von Baden wurde mir herzlieb, ohne| 4 | daß ich jedoch ein herzlich Wort zu Ihr sagen, oder von Ihr hören konnte. Der Erbprinz schien mir, obgleich sie sich sehr lieben, nicht zu Ihr zupaßen. Edelsheim drückte mich anfangs durch seine höfiche Süffisanze. Nachher kamen wir auf KunstCapitel, wo wir wohl fortkamen. Marggraf Christian, ni Fallor, fand ich schlecht u: recht, ohne für Ihn, oder wider Ihn etwas zuhaben. Prinz Friederich etwas fettlicher an Leib u: Geist. Sonst war mir alles fade, was ich in Carlsruh sah. Dort fand ich Baron u: Dohmherr von Berg u: Frau, welche leztere von mir u: Merk für Herzogähnlich deklarirt, von andern Ihrer Kleinheit wegen für meine Tochter gehalten| 5 | ward. Ein harmloses, edles, herzliebes Paar, aber nichts, wie der fürstliche Deßau, der aus seinem Gesicht herauszog, was darauszuziehen war – über den Augen etwas erhabenes, ernsthelles hatte, was ich noch nie sahe! Der Edle, feste, feingute, Allgenießer alles genießbaren.

 In Heydelberg fiel mir der erzfreye, erzfeine, erzdienstfertige u: dienstkundige Mieg u: sein sehr gescheütes, kühlendes, Mannlenkendes, unanziehendes Weibchen auf.

 Adminstrations Rath Harscher ist auch dort ein genießbarer Mann. Die Delfius hiengen sich auch an. Ein Rigal dort würde dir gefallen. Drey Schwestern Anz, ni Fallor, herzgute Kinder.

 In Darmstadt sah' ich die Heßin, der| 6 | Herderen Schwester – unkenntlich, ausgelärt, todtenähnlich – eine athmende Atonie, zum Schrecken aller Augen! Ihr Mann behauptete immer, Ihr fehle nichts.

 Merck begleitete mich erst zum Grabe der Landgräfin, ließ mich ganz silhuetiren von dem unbeholfenen, geschmacklosen Männchen, das du kennst, kam dann mit mir auf Frankfurt, wo wir herzlich goethisirten, weymarisirten, tischbeinten; In Frankfurt sah' ich nur Mamma – Du denkst, wie sie sich stellte! Von Kniege, den Henry quatre en Carrikatüre – die muntere Bretano, das herzbrave, kalte, Erzweib – AltHarlekin Deinet und Dorville – zum zweytenmahl ein Duzend, deren Namen dir Mamma schreiben wird – Willemer beglei| 7 |tete mich bis Höchst. Wir waren recht gut beysammen.

 In Offenbach Fürst Isenburg, oder Güte, Dehmuth, Frömmigkeit in Person. – Mollenbeck, ein natürlicher, Lichtheller, aktifer RegirungsRath – Seine Frau – das Geschrey abgerechnet, blizgescheut.

 In Hanau, was mir wohlgefiel, sah' ich nichts vom Hofe. Kämpf, Jung, Richter – gefielen mir noch.

 Den ErbPrinz sah' ich auch nicht in Willhelmsbad. Die Hoheit auch nicht. Sie waren in der Comedie.

 Prinz Carl sprach mit mir vom Gebethe!! Herzog Ferdinand, in dem ein halb duzend Kerls steckten – ohne eigentlichen Verstand, voll UnternehmungsGeist, Klugheit, Sçavoir dire. Prinz Friederich, Schneider und| 8 | Perrükier in einer Person; Die Frau von Diede, ein Engel, die ich auf ihr Gesicht hin, zwischen zween Fürsten ausstach, herausführte u: sprach.

 Frau von Löw, ein großmütterlich herrnhutsch englisch hannöverscher Adelgeist im edelsten Sinn.

 Schrautenbach, der erste, denkende, philosophische Herrnhuter, den ich gesehen. Ein Mann, in deßen Umgang ich einmahl wieder gefühlt habe, was Umgang mit Menschen ist, die nicht nur empfangen, sondern auch geben. Ich wünschte, daß du das große Capitel über dich, das zwischen Ihm und mir u: Frau von Löw abgehandelt ward, mit angehört hättest.

 Herr von Diede flößte mir viel Respekt ein; durch seine Ruhe, seine| 9 | Weisheit, seine Billigkeit, sein Wißℓ, sein Denken, seinen Geschmack, seine Freymüthigkeit.

 Zu Laubach sah' ich auch ein Halbduzend herzgute u: drunter auch weise Menschen. Die Gräfin ohne das mindeste amoros anziehendes zuhaben, hat etwas festes, weises, gerades, männliches. Eine Schwägerinn von Ihr, Christiane, etwas sehr einnehmendes, insinuantes, ohne schön oder reizend zuseyn.

 Bey dem Landgrafen von Homburg, in seiner Familie, besonders seinen ältesten Prinzen, in seinem Wagen, u: bey seinem Geleite nach Maynz, wo ich nicht das allermindeste Lebende oder Leblose sah, das mich berührte, war mir wohl. Mit solchen rechtschafenen, durchaus frommen Menschen be| 10 |setzt Gott einstens seine schönste Pläze des Himmels.

 Zu Schwezingen sah' ich La Roche und Frau. Er kam mir, wie ein Hofkauz vor, insbesonder war mir Minister Stadion aus seinem Gesichte transparent. Sie schien mir, seit ich sie sah, grösser gewachsen. Ihre harmlose Zuthulichkeit behagte mir; jedoch nicht soviel, als mir ihre sentimentale Preziosität schenant war.

 In Mannheim lief ich durch die Gallerien, wo ich wenig ganz schönes, viel prächtiges sah! Fratrel hatte ich nicht Zeit zusehen, muß auch gestehen, daß mir seine von dem guten Deütschfranzosen Krahn hochgerühmten Gemählde, in meinem Sinn raphaelisch-Dürerschen Pracht Carrikaturen nicht| 11 | tiefer als ein Paar Meßerrücken in mich hineingehen wollten. HofCammerRath Rigal, ein sehr verständiger, edler, herzguter, nur zu enthüsiastischer Mann, wäre wohl auch einmahl deines Anbliks werth. Bey dem überehrlichℓ, überguten, freündschaftlichen Etourdi Salzer in Wisloch, wo ich in der Lutherschen Kirche Lutheranern, Reformirtℓ, Catholiken, beylaüfig auch einigen Juden eine sehr tolerante Predigt, über das: Eins ist Noth, gehalten, blieb ich einen halben Tag. Daselbst hatt' ich auch noch das Vergnügen, da ich eben abreisℓ wollte, den Prinz von Hollstein Gottorp, seine Gemahlinn, u: ihren Bruder, Prinz Willhelm, im Posthause zusehn, und mich eine halbe Stunde mit Ihnen vortreflich zuunterhalten. Ich weiß, daß es dem Herzog u: dir sehr wohl thun| 12 | würde, diesen gesund denkenden Mann näher kennen zulernen.

 Graf Schmettau, der in ihrer Suite war, schien mir ein sehr feiner, aber nicht so recht zutraulicher Mann zuseyn.

 In Schweigern, Graf Nieperg u: Frau; Er, die allergemeinste, trivialste, gräfliche Hoflaus, die viel weiß, ohne etwas zukennen; viel hat, ohne etwas zu besizℓ, unter anderm einige antike Gemählde, wovon eins des expreßen Hinreisens werth wäre; Seine Frau, eine erzgelehrte Jakobitin, mit der Prätension von "Mondsucht" behaftet, sagte mir ganz ausdrücklich, daß sie die Philaide in Jacobis Schriften sey, übrigens sicherlich kein gemeines Weib, von deren aber einer meiner Freünde sagen würde: "Ich mag sie nicht zur| 13 | Frau; nicht zur Freündin; nicht zur Maitreße; nicht zur Correspondentin –"

 In Heilbronn sah' ich Arbeit von Fuger, die so vortreflich war, daß ich meinen Augen kaum traute. In Ludwigsburg sah' ich den immergleichen Nathanael Hartmann, in dem gewiß, wenn Schloßers Unwahrheit Wahrheit wäre, ein halbes Duzend Apostel Seelen sich zu Einer vereinigt haben könnten; dℓ häßlichen u: herrlichen Obrist Nicolai, einen wahrhaft philosophischen Soldatℓ. In Hohen Asperg sah' ich Schubart, der seine Gesinnungen u: sein Leben, eine Aestetik, u: über die Musik schreibt, u: hundert niedlich ausgearbeite Gedichte, es izt sehr gut hat, u: seyner Befreyung nahe ist. Ein Mensch mit| 14 | Bahrdtischen Talenten mit viel ehrlicherm Herzen; übrigens fürchte ich, weiter nichts als Meteor von Genie u: Tugend.

 In Stutgard sah' ich die große Prachtmaschine des Militarischen Treibhauses, u. Expeditions Rath Hartmann, der sich Eüer dankbar erinnerte, u: den mit seinen Großfürstischen Anstalten scharf beschäftigten Erzherzog mit seiner Hohenheim vorbeyrennen.

 In Eßlingen sah' ich nebst einigen subaltern klugen u: guten Menschℓ, das vortrefliche Schwesterkleeblat Palm, in meinen Augen das einzige Phänomen von Verstand, Nachdenken, Lichtbedürfniß, Adel der Seele, Tugend, Sitte, Unschuld, Reli| 15 |gion, Frohheit, die sich besonders mit meinem neüen Einmahleins der Menschheit aüßerst gern futtern ließen.

 In Echterdingen sah' ich den immergleichen, scharf denkenden, jedoch sans ame Schriftforschenden, feinℓ, geschmacklosen, unanziehenden, lehrreichen, Sternelauf u: die Minute der Wiederkunft Christi ernst berechnenden Pfarrer Hahn.

 In Walderburg einen sehr wackerℓ Jägerbaron von Röder, u: seine hausmütterliche brave gute Frau. In Tübingen den süß, sanft, bescheidenen Schweiger, u: gutherzig weise redenden, innerlich unbeweglichen D. Merklin, sonst keine dir intereßante Personen, als zwey| 16 | oder drey, sehr Talentreiche, thätige Dichter, Reinhardt u: Konz, in deren Gestalten u: Gesichtern ich das feine u: originelle ihrer Poetereyen mühsam heraussuchen mußte.

 In Schaffhausen ruhte ich bey den Immthurns, wo die Frau immer kränkelt, wo des Herzogs Porträt zwischℓ deinem u: seiner Mutter Schattenriß mir behaglich war.

 Glüklich kehrte ich ohne die mindeste Erhizung oder Ermüdung nach 3. Wochen sehr gefühlter Existenz in den Schoos der Meinigen zurück, wo ich izt sehr vergnügt wäre, wenn meine kleine herzige Luise, du weißt, an wen ich bey diesem süßℓ Namen alle Tage denke, wen ich| 17 | aus ihrer Beyden Schwestern Angesicht herausdistillirte? nicht kränkelte. Das allersüßeste Herzenskind, das sich denken läßt, die höchste Freüde meines Lebens.

 Noch vergaß ich, wie ich vermuthlich noch manches vergeßen haben werde, von Bode zusagen; das musikalisch-­komische, das mir in seinem ersten Anblick, eh' ich auch an seinen Namen dachte, oder etwas davon wußte, auffiel, ward von seinen tiefsinnigen, feinen, lehrreichen Gesprächen, von dem selten ehrlichen Wesen, u: von der Treüherzigkeit, die sich sogleich unsrer bemächtigte, gänzlich annalisirt.

  =

 Hast du auch einmahl meinen Brief Ulrichs wegen erhalten?

 Tischbeins Arbeit wird dir nun alles| 18 | gesagt haben, was sich von ihm sagen läßt. Scharf einbinden werd' ich ihm, die großen Lehren von dem buchstäblichen Verstand aller göttlichen und menschlichen Schriftzüge; Sie heißen: Caspar Lavaters Porträt, oder Göz von Berlichingen. Liebe Seele, es thut mir sehr leid: weder Bodmers Porträt, noch das meinige kann in Weymar bleiben. Verzeih! Was möglich ist, das laß ich alles geschehen; aber mehr nicht.

 Man hat mir ein in kleinlichem Styl gezeichnetes Porträt von Weymar gesandt, worüber ich meine Gedanken sagen soll. Dir sagt' ich sie mit Freüdℓ, wenn das Bild wahrer wäre – von Claville gezeichnet. Denn offenbar sind grosse, vielsagende Mißzeichniße drinn.| 19 | Sicherlich ist's auch so noch, wie's ist, ein herrlich, fruchtbringend, edel, Ideenreiches – nicht eigentlich tiefforschendes, aber leicht u: hell sehendes, schnellgeschäftiges, gutherziges Wesen.

 Nun, Adieü! – Alter Lieber! Grüß jeden nach seiner Art, der mir wohl will, obgleich ich der alte, unverbesserliche, arme Sünder von einem Christglaübigen Menschen bin, der gern gern sähe, was du über meinℓ Pilatus parodirt hast, in deßen zweytem Theil du sicherlich doch etwas finden wirst, das dir ein "Uralte Natur" abnöthigen soll. Vale et fave.

 

 Da eine der merkwürdigsten Dirnℓ hingerichtet wird – die um haüfiger| 20 | Hureyen willen gefangen – endlich des Zuchthauses überdrüßig ein gottloses Geschöpf kaltblütig, ohne Anlaß, todtschlug – du mußt sie gesehen habℓ? Ein schön, wohlgestaltet Mensch mit einem Blizblick – der Leichtsinn in Person. Adieü.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 163, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0163_00177.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 163.

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