Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 161
Von Johann Kaspar Lavater

28. Juli 1782, Zürich

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Dein Brief, lieber Göthe, hat mich recht
erfreut, und mein Innwendiges erweitert;
hat mich auf's neue überzeuget, und mein
auf's neue überzeugt, so sehr wir uns, so
himmelweit verschieden wir scheinen, über ge-
wisse grosse Puncte treffen müßten,
wenn wir uns ruhig und lange genug münd-
lich unterhalten könnten. "Wenn eine Stim-
me vom Himmel zurief: Das Wasser
brennt, und das Feuer lischt, so würdest
du's nicht glauben." Ich schrieb einmahl
an Semmler:


"Ihre Anhänglichkeit an die Bibel ver-
ehr'ich herzlich. Ich erstaune darüber
daß Sie sagen können:


   wenn Christus sagte: Die Augen
   sind zum hören gegeben, müsste
   und wollte ich es nicht glauben.
   Denn Gott sagte es mir durch Chri-
   stum; was ist Glaube an Gottes
   Zeugniss sonst?


So tief ich Alles Zeugniß Gottes verehre,
wenn ich einmahl weiß, daß es Gottes
Zeugniß ist – So sehr ich glaube, daß
Gott die Mysteria sensuum umstim- | 2 |
   men könnte, wenn er wollte, dass er uns
   durch's Auge hören, und durch's Ohr
   sehen machen könte


So, ich gestehe, es aufrichtig, glaubt ich's
nicht, und noch mehr auch Sie – ich wollte
mein Leben zum Pfande sezen, auch
Sie würden's nicht glauben, wenn Christus
sagte: Die Augen waren nie und sind
nicht zum Sehen, sondern zum hören,
die Ohren waren nie und sind
nicht zum Hören sondern zum Sehen
gegeben, bestimmt und eingerichtet.
Wenn Christus sagte: Die Augen sind
zum Hören gegeben, so verdiente
Er nicht so viel Glauben, als wenn der
Teufel sagte: Augen sind zum Sehen
und Ohren zum Hören gegeben."


Ich glaube, es liegt unendlich viel in der
menschlichen Natur, das durch sonder-
bare Veranlassung entwickelt wer-
den kann, und das billig übernatür-
lich, oder wunderbar heissen kann, obgleich
es in sich so natürlich ist, als daß du den | 3 |
Werther geschrieben hast. Streit und
Harmonie der willkürlichen Kräfften
mit den mechanischen, dieser mit jenen
ist die Geschichte aller Menschen, und die
Geschichte der Bibel. Christus ist mir das
Medium, wodurch dieser Streit in Har-
monie verwandelt werden kann. Wir sind
Alles in uns selbst, und werden Alles durch
Andere. Was wir sind, werden wir durch
den weisesten, wirksamsten, kräfftigsten
Menschen. Nichts wirkt auf den Menschen, wie
Menschheit. Wer von uns wird das
läugnen? und dieß zugegeben heißt
Christ seyn, wofern man zugiebt, – Es
war ein Mensch, der Christus hieß. Der
am meisten auf die Menschheit wirkte,
verdient den Meisten Glauben der
Menschheit. Über Menschheit hinaus kann
die Menschheit nicht fliegen. Sie denkt
und genießt nichts unanaloges mit
der Menschheit. Alles unanaloge ist
Schwärmerey. Ich kenne keinen Gott, als
in der Menschheit. Der UniversalGeist
des Universums ist unerbittlich und
ungenießbar. Es ist Lästerung, sich
vermeßen, Ihn unmittelbar anzubehten. | 4 |
Als Vater Christi, des Universums
im Kleinen, darf Er im Glauben an
Christus Wort (wenn Ihm gegeben ist,
Christum zu säsiren.) Ihn durch seine
Vermittlung anrufen – oder mit andern
Worten: Diese Vorstellungs-­Art ist's, die
am meisten auf die innersten Tiefen der
Menschheit wirkt, und den Berührungen
Christus das Innerste aufschließt. Ohne Be-
rührtheit wirkt der Mensch nichts. Der
meisten Menschen Religion ist Schwärme-
rey, das ist: Wahn von einem andern We-
sen berührt zu seyn, wenn sie sich selbst
berühren – Ich möcht es geistliche O-
nanie nennen. Gott verzeih' mir
den Ausdruk! Der unendliche als
solcher kann nicht berühren, und nicht
berührt werden – nicht bewegen, und nicht
bewegt werden. Wenigstens ist in uns
kein Sinn, der das begreifen kann. Wie sehr
Er sey, Er ist ein Nonens für uns.
Denn für das Unendliche kann das Erden-
wesen, figurirte, geballte Erde keinen
Sinn haben. Figur wird durch Figur
berührt. Einer ist der höchste Mensch.

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Deine Urtheile, lieber Göthe, waren mir
immer, du weissest es, wo nicht, wie Orakel, doch
tiefe Fundgruben der Wahrheit.


Ich weis unter allen deinen Urtheilen mehr
nicht, als 2, die ich nicht begreifen konnte –
Eins vor 9 Jahren, eins jezt im Julius 1782.
Du kennst mich genug, um sicher zu seyn, daß ich
so unbeleidiglich, so ruhig bin ich bey Allem, was
du über meine armseligen Producte sagst,
daß ich dich mit froher Einfalt bitten mögte.
"Mir die Stellen der ausschließenden Intoleranz,
nur einige wenigstens anzuzeigen, die du
in meinem Pilatus gewis gefunden zu ha-
ben glaubst, als ich alle solche Stellen von
meinem Herzen wenigstens unendlich ent-
fernt glaube.


Etwas muß gewis da seyn, das dich zu deinem
Urtheile berechtigte. Lieber, mach mich auf
dieß Etwas aufmerksam. Ich halte mich
für redlich und stark genug, Alles hören
zu können, weil es mir Ernst ist, mich von
Allem, was sittlich fehlerhafft heißt, zu ver-
beßern. Mein ganzes Leben wenigstens
ist das notorischste möglichste Gegentheil
dieses ausschließenden Sinnes. Alles, was ich | 6 |
inner den lezten drey Wochen öffentlich
von dir sprach, ist das Gegentheil dieses
Sinnes. Ja ich getraue mich, zu behaupten,
daß unter allen Schrifftsteller Deutschlands
kein toleranterer, allgemeiner dulden-
der, Alles Gute schäzenderer Schrifftstel-
ler und Mensch sey, als Ich. Ich finde
millionen Sachen neben dem Evangelio
schön – ob ich gleich noch nichts gefunden
habe, das so schön sey, wie das Evange-
lium, das Evangelium, das mich tau-
sendmahl schärfer richtet, als Feind Stein-
brüchel und Freund Göthe.


Daß du nur fragen kannst, ob ich Wartens-
leben gegen Alles, was nicht Christ ist, so
eingenommen habe? ... Lies oder lies
nicht ... Ich sehe einen fremden Geist um
dich schweben! das hat nicht Göthe geschrie-
ben ... Lieber, wenn ich genau noch bin,
was ich vor 9 Jahren war – warum bist
du es nicht mehr? Übrigens wünscht ich nur,
du sähest meine Ruhe, womit ich dieß
schreibe.

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Adieu, Lieber! Alter. .... immergleicher!
Grüß den erzlieben Herrn!

   
    L.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  Briefe HA Nr. 64  B? : 1782 Juli (GL, Nr. 114)  A : 1782 August 9 (WA IV 6, Nr. 1553); 1782 Oktober 4 (WA IV 6, Nr. 1586)  V:  Abschrift 

G.s Brief habe L. erfreut und ihn auf's neue überzeugt, daß sie sich über gewisse grosse Puncte treffen müßten. Als Beweis dafür zitiert L. eine Stelle aus seinem Brief an J. S. Semler (vom 27. Juni 1777). - L. erläutert ausführlich sein Verhältnis zu Gott, das durch die Person Christi vermittelt werde, und begründet dabei seinen Glauben an das Übernatürliche oder Wunderbare. - G.s Urteile seien für L. immer, wo nicht, wie Orakel, doch tiefe Fundgruben der Wahrheit gewesen. Nur zwei der Urteile habe er nicht begreifen können, eines vor 9 Jahren, eins jezt im Julius 1782. Er bitte, ihm die Stellen der ausschließenden Intoleranz [...] anzuzeigen, die du in meinem Pilatus gewis gefunden zu haben glaubst. - Befremden über G.s Frage, ob er K. F. G. von Wartensleben gegen Alles, was nicht Christ ist, so eingenommen habe. Lies oder lies nicht ... (? einen Teil von L.s "Religionsunterricht an Wartensleben"). Lieber, wenn ich genau noch bin was ich vor 9 Jahren war - warum bist du es nicht mehr?

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 Dein Brief, lieber Göthe, hat mich recht erfreut, und mein Innwendiges erweitert; hat mich auf's neue überzeuget, und mein auf's neue überzeugt, so sehr wir uns, so himmelweit verschieden wir scheinen, über gewisse grosse Puncte treffen müßten, wenn wir uns ruhig und lange genug mündlich unterhalten könnten. "Wenn eine Stimme vom Himmel zurief: Das Wasser brennt, und das Feuer lischt, so würdest du's nicht glauben." Ich schrieb einmahl an Semmler:

 "Ihre Anhänglichkeit an die Bibel verehr'ich herzlich. Ich erstaune darüber daß Sie sagen können:

  wenn Christus sagte: Die Augen  sind zum hören gegeben, müsste  und wollte ich es nicht glauben.  Denn Gott sagte es mir durch Chri-  stum; was ist Glaube an Gottes  Zeugniss sonst?

 So tief ich Alles Zeugniß Gottes verehre, wenn ich einmahl weiß, daß es Gottes Zeugniß ist – So sehr ich glaube, daß Gott die Mysteria sensuum umstim- | 2 |  men könnte, wenn er wollte, dass er uns  durch's Auge hören, und durch's Ohr  sehen machen könte

 So, ich gestehe, es aufrichtig, glaubt ich's nicht, und noch mehr auch Sie – ich wollte mein Leben zum Pfande sezen, auch Sie würden's nicht glauben, wenn Christus sagte: Die Augen waren nie und sind nicht zum Sehen, sondern zum hören, die Ohren waren nie und sind nicht zum Hören sondern zum Sehen gegeben, bestimmt und eingerichtet. Wenn Christus sagte: Die Augen sind zum Hören gegeben, so verdiente Er nicht so viel Glauben, als wenn der Teufel sagte: Augen sind zum Sehen und Ohren zum Hören gegeben."

 Ich glaube, es liegt unendlich viel in der menschlichen Natur, das durch sonderbare Veranlassung entwickelt werden kann, und das billig übernatürlich, oder wunderbar heissen kann, obgleich es in sich so natürlich ist, als daß du den| 3 | Werther geschrieben hast. Streit und Harmonie der willkürlichen Kräfften mit den mechanischen, dieser mit jenen ist die Geschichte aller Menschen, und die Geschichte der Bibel. Christus ist mir das Medium, wodurch dieser Streit in Harmonie verwandelt werden kann. Wir sind Alles in uns selbst, und werden Alles durch Andere. Was wir sind, werden wir durch den weisesten, wirksamsten, kräfftigsten Menschen. Nichts wirkt auf den Menschen, wie Menschheit. Wer von uns wird das läugnen? und dieß zugegeben heißt Christ seyn, wofern man zugiebt, – Es war ein Mensch, der Christus hieß. Der am meisten auf die Menschheit wirkte, verdient den Meisten Glauben der Menschheit. Über Menschheit hinaus kann die Menschheit nicht fliegen. Sie denkt und genießt nichts unanaloges mit der Menschheit. Alles unanaloge ist Schwärmerey. Ich kenne keinen Gott, als in der Menschheit. Der UniversalGeist des Universums ist unerbittlich und ungenießbar. Es ist Lästerung, sich vermeßen, Ihn unmittelbar anzubehten.| 4 | Als Vater Christi, des Universums im Kleinen, darf Er im Glauben an Christus Wort (wenn Ihm gegeben ist, Christum zu säsiren.) Ihn durch seine Vermittlung anrufen – oder mit andern Worten: Diese Vorstellungs-­Art ist's, die am meisten auf die innersten Tiefen der Menschheit wirkt, und den Berührungen Christus das Innerste aufschließt. Ohne Berührtheit wirkt der Mensch nichts. Der meisten Menschen Religion ist Schwärmerey, das ist: Wahn von einem andern Wesen berührt zu seyn, wenn sie sich selbst berühren – Ich möcht es geistliche Onanie nennen. Gott verzeih' mir den Ausdruk! Der unendliche als solcher kann nicht berühren, und nicht berührt werden – nicht bewegen, und nicht bewegt werden. Wenigstens ist in uns kein Sinn, der das begreifen kann. Wie sehr Er sey, Er ist ein Nonens für uns. Denn für das Unendliche kann das Erdenwesen, figurirte, geballte Erde keinen Sinn haben. Figur wird durch Figur berührt. Einer ist der höchste Mensch.

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 Deine Urtheile, lieber Göthe, waren mir immer, du weissest es, wo nicht, wie Orakel, doch tiefe Fundgruben der Wahrheit.

 Ich weis unter allen deinen Urtheilen mehr nicht, als 2, die ich nicht begreifen konnte – Eins vor 9 Jahren, eins jezt im Julius 1782. Du kennst mich genug, um sicher zu seyn, daß ich so unbeleidiglich, so ruhig bin ich bey Allem, was du über meine armseligen Producte sagst, daß ich dich mit froher Einfalt bitten mögte. "Mir die Stellen der ausschließenden Intoleranz, nur einige wenigstens anzuzeigen, die du in meinem Pilatus gewis gefunden zu haben glaubst, als ich alle solche Stellen von meinem Herzen wenigstens unendlich entfernt glaube.

 Etwas muß gewis da seyn, das dich zu deinem Urtheile berechtigte. Lieber, mach mich auf dieß Etwas aufmerksam. Ich halte mich für redlich und stark genug, Alles hören zu können, weil es mir Ernst ist, mich von Allem, was sittlich fehlerhafft heißt, zu verbeßern. Mein ganzes Leben wenigstens ist das notorischste möglichste Gegentheil dieses ausschließenden Sinnes. Alles, was ich| 6 | inner den lezten drey Wochen öffentlich von dir sprach, ist das Gegentheil dieses Sinnes. Ja ich getraue mich, zu behaupten, daß unter allen Schrifftsteller Deutschlands kein toleranterer, allgemeiner duldender, Alles Gute schäzenderer Schrifftsteller und Mensch sey, als Ich. Ich finde millionen Sachen neben dem Evangelio schön – ob ich gleich noch nichts gefunden habe, das so schön sey, wie das Evangelium, das Evangelium, das mich tausendmahl schärfer richtet, als Feind Steinbrüchel und Freund Göthe.

 Daß du nur fragen kannst, ob ich Wartensleben gegen Alles, was nicht Christ ist, so eingenommen habe? ... Lies oder lies nicht ... Ich sehe einen fremden Geist um dich schweben! das hat nicht Göthe geschrieben ... Lieber, wenn ich genau noch bin, was ich vor 9 Jahren war – warum bist du es nicht mehr? Übrigens wünscht ich nur, du sähest meine Ruhe, womit ich dieß schreibe.

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Adieu, Lieber! Alter. .... immergleicher! Grüß den erzlieben Herrn!     L.

 

 
 

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