Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 140
Von Johann Kaspar Lavater

31. März 1781, Zürich

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Lieber Goethe,


   Dein weiser, guter, liebevoller Brief
vom 18. März liegt vor mir. Ich hab Ein Vier-
telstündchen zur Antwort. Seegne es mir
Gott! – Dank für die Nachricht wegen
Baumgartens. Ich sende sie sogleich nach
Bern ab. Der edle Tscharner war die vorige
Woche als gesandter hier, und erinnerte mei-
ner Weymarschen Freünde mit Vergnügen.


   Ein Mißverstand zieht immer sicherlich
zehen andere nach sich. Das Rouleau ent-
hielt nichts, was mir gehörte, das, was wir
abgeschickt wähnten, muß also noch irgend-
wo bey uns versteckt liegen. Es war ei-
ne complete Rechnung meiner Ökonomie. | 2 |
Das Buch, was du hast, ist vermuthlich, ja ge-
wiß eine Abschrift eines theils meiner
nach Leipzig gegangenen Poesieen,
mithin nichts geheimes, nichts verbrennbares –
Etwas gelegentlich zurückzusendendes.


   Daß dich Brutus freüte, freüt mich auch deß-
wegen, weil ich nun desto sicherer hoffe, der
alte Cäßar von oder nach Titian, so roh und
verdorben er ist, werde dir noch mehr machℓ.
Brutus sieht den Geist, wie du wohl divi-
nirtest!


   Calliostro seh' ich an, wie du – als ei-
ne laterne magique für einzele Seiten der
Menschheit – als Siegel auf meine Hypo-
these, daß der Mensch Gott und Satan,
Himmel und Erde, alles in einem sey – | 3 |
(ließ: meinen Glauben) Wir sind alle gesund,
Nur das Engelchen Luiselin, meynt meine
Frau sey nicht ganz wohl. Es ist das liebste u.
reineste aller meiner Produkte! Die Silhuet-
te ist von Duchanteen, dem Riesengeiste, der
bey mir war. Ein Mann von rasender metaphy-
sisch theosophisch spizbübisch religioser Genialität –
der neben vier göttlich wahren Gedanken im-
mer 3 abominable fallen ließ – bald die
Sprache der Inspiration, bald die des teü-
fels spricht – Ein Pythagoräer, anachoret,
Mystiker, Hochchrist, antichrist in Einer Per-
son – Catholik von Geburth, durch Schwär-
merey ein beschnittener – durch Wahr-
heitsliebe ein Pythagoräer – izt ein Hoch-
erleüchteter Narr und also – nahe ver-
wandt mit einem Lump. Die Fünfcaro- | 4 |
linen send ich heüte an Bückle in Linkers Na-
men, herzlichen Dank. kannst Du; So sende sie
mir. Das Baare Geld ist mir rar. Des alten
Königes allen Verstand übersteigende Schrift
über die Literatur hab' ich eben vor mir – das
heißt sich doch nun auch prostituirt – kann auch
ein Student ignoranter, und ein parisisches
Schöngeistlein süperfizieller seyn. Er wird,
Gott weiß, noch ein Narr, wenn er's nicht
schon ist. Ihm ist zu Postdam ans Schloß
geschlagen worden Jerem. XXII. 13. 19.
Mir traümte lezthin, daß der alte Friz eine
lange Unterredung in französischer Sprache
mit mir hatte – Ich bewunderte die er-
staunliche Diktion, und da ich erwachte, noch
mehr – daß ich, denn es war doch mein
Ich, das sprach – so vortreflich fran- | 5 |
zösisch verstand. Abermals ein Beweiß daß al-
les in uns liegt.


   Es scheint mir sehr gut, daß Kayser bey Eüch
bleibe.


Erst gestern abends gieng das Zweyte Kistchℓ,
das nicht viel mehr bedeütet, nach Weymar
ab.


Der Kayser (in Wien) läßt sich gut an. Ei-
ne Angelegenheit zwoer Frauen von Wien,
die in die Schweiz entliefen, besorgt Graf
Thun dort (Hallweyl und Sudtner) und
was der Kayser hoffen läßt, ist Kayserlich.
Wegen der Uhr erwart' ich nun bloß die mir
allein geltende Entscheidung des Looses. adieu.
Es ist 12. Uhr.


   
    Johann Caspar Lavater.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 100  B : 1781 März 18 (WA IV 5, Nr. 1162)  A : 1781 April ? 9 (WA IV 5, Nr. 1195)  V:  Abschrift 

Dank für G.s Nachricht über P. Im Baumgarten, die L. an N. E. von Tscharner nach Bern senden werde. - Zu den Irrläufern (vgl. RA 1, Nr. 139). - G.s Freude über das übersandte Brutus-Bild (nach J. H. Füßli) lasse L. auf noch mehr Freude über den Cäßar von oder nach Titian hoffen. - Über Cagliostro stimme L. mit G. überein. - Die Silhuette ist von Duchanteau, dem Riesengeiste [...]. - Die Fünfcarolinen send ich heute an Bückle (vgl. RA 1, Nr. 137). - Bemerkungen über Friedrich II. von Preußen und dessen Schrift "De la littérature allemande". Daß Kayser in Weimar bleibe, scheint mir sehr gut. - Andeutungen über eine Angelegenheit zwoer Frauen von Wien, die in die Schweiz entliefen, bei der Kaiser Joseph II. Kayserlich zu handeln scheine. - Wegen der Uhr erwart ich [...] die [...] Entscheidung des Looses (vgl. RA 1, Nr. 139).

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Lieber Goethe,

  Dein weiser, guter, liebevoller Brief vom 18. März liegt vor mir. Ich hab Ein Viertelstündchen zur Antwort. Seegne es mir Gott! – Dank für die Nachricht wegen Baumgartens. Ich sende sie sogleich nach Bern ab. Der edle Tscharner war die vorige Woche als gesandter hier, und erinnerte meiner Weymarschen Freünde mit Vergnügen.

  Ein Mißverstand zieht immer sicherlich zehen andere nach sich. Das Rouleau enthielt nichts, was mir gehörte, das, was wir abgeschickt wähnten, muß also noch irgendwo bey uns versteckt liegen. Es war eine complete Rechnung meiner Ökonomie.| 2 | Das Buch, was du hast, ist vermuthlich, ja gewiß eine Abschrift eines theils meiner nach Leipzig gegangenen Poesieen, mithin nichts geheimes, nichts verbrennbares – Etwas gelegentlich zurückzusendendes.

  Daß dich Brutus freüte, freüt mich auch deßwegen, weil ich nun desto sicherer hoffe, der alte Cäßar von oder nach Titian, so roh und verdorben er ist, werde dir noch mehr machℓ. Brutus sieht den Geist, wie du wohl divinirtest!

  Calliostro seh' ich an, wie du – als eine laterne magique für einzele Seiten der Menschheit – als Siegel auf meine Hypothese, daß der Mensch Gott und Satan, Himmel und Erde, alles in einem sey –| 3 | (ließ: meinen Glauben) Wir sind alle gesund, Nur das Engelchen Luiselin, meynt meine Frau sey nicht ganz wohl. Es ist das liebste u. reineste aller meiner Produkte! Die Silhuette ist von Duchanteen, dem Riesengeiste, der bey mir war. Ein Mann von rasender metaphysisch theosophisch spizbübisch religioser Genialität – der neben vier göttlich wahren Gedanken immer 3 abominable fallen ließ – bald die Sprache der Inspiration, bald die des teüfels spricht – Ein Pythagoräer, anachoret, Mystiker, Hochchrist, antichrist in Einer Person – Catholik von Geburth, durch Schwärmerey ein beschnittener – durch Wahrheitsliebe ein Pythagoräer – izt ein Hocherleüchteter Narr und also – nahe verwandt mit einem Lump. Die Fünfcaro | 4 | linen send ich heüte an Bückle in Linkers Namen, herzlichen Dank. kannst Du; So sende sie mir. Das Baare Geld ist mir rar. Des alten Königes allen Verstand übersteigende Schrift über die Literatur hab' ich eben vor mir – das heißt sich doch nun auch prostituirt – kann auch ein Student ignoranter, und ein parisisches Schöngeistlein süperfizieller seyn. Er wird, Gott weiß, noch ein Narr, wenn er's nicht schon ist. Ihm ist zu Postdam ans Schloß geschlagen worden Jerem. XXII. 13. 19. Mir traümte lezthin, daß der alte Friz eine lange Unterredung in französischer Sprache mit mir hatte – Ich bewunderte die erstaunliche Diktion, und da ich erwachte, noch mehr – daß ich, denn es war doch mein Ich, das sprach – so vortreflich fran | 5 | zösisch verstand. Abermals ein Beweiß daß alles in uns liegt.

  Es scheint mir sehr gut, daß Kayser bey Eüch bleibe.

 Erst gestern abends gieng das Zweyte Kistchℓ, das nicht viel mehr bedeütet, nach Weymar ab.

 Der Kayser (in Wien) läßt sich gut an. Eine Angelegenheit zwoer Frauen von Wien, die in die Schweiz entliefen, besorgt Graf Thun dort (Hallweyl und Sudtner) und was der Kayser hoffen läßt, ist Kayserlich. Wegen der Uhr erwart' ich nun bloß die mir allein geltende Entscheidung des Looses. adieu. Es ist 12. Uhr.

    Johann Caspar Lavater.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 140, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0140_00153.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 140.

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