Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 123
Von Johann Kaspar Lavater

5. August 1780, Zürich

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Lieber Goethe,


   Ich bin von einer Vier-
zehntätigen Cur und Lustreise wieder zu-
rük, und habe mich wieder einmal an Hohl-
beins unsterblichen Werken in Basel ge-
labet, ich kann nicht sagen, gesättigt; denn
ich durfte nicht –


Mir kamen sie vor wie Davids ausge-
goßnes Waßer vom Quell Bethlehems.
I. Chron. XI. 17-­19.


Hab' ich jemal Inspiration im eigent-
lichsten Sinn, in Menschenwerken gesehen,
gefühlt, in mich geathmet, so war's in
Drey oder Vier Stücken Hohlbeins, die,
meines Ermeßens alles übertreffen,
was ich in Manheim, Schleißheim, u:
Düßeldorf sahe – in Ansehung der
Zeichnung, des Colorites, und der | 2 |
Poesie. Sein Nachtmal besonders u:
– die Lais corinthiaca gehen über al-
les.


Ich hab' es endlich dahin gebracht, daß
Lips einiges davon kopiren kann – was
ist aber alle Kopie mit Bleystift und
Schwarzer Kreide? Ich bitte dich doch,
alle Reisende, die von dir kommen, an
diese höchst herrlichen Werke des Ge-
nius zuweisen, und sie durch Aufle-
gung deiner Hände zur stillen un-
urtheilenden Betrachtung der selben
einzuweihen.


   Die Iphigenie werd' ich,
geliebts Gott, künftige Woche Herrn Land-
vogt Lavatern und seiner Familie, und
Herrn Schweizern und Frau vorlesen.
Dieß Ding hat dich dem Chorherr Tob-
lern auch wieder, oder, aufs neüe
lieb gemacht.

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Ich habe bey meinen Verbeßerungen der
Apokalypse immer einen Seitenblick auf
dich geworfen – ob du nichts dagegen
haben würdest? Sie sind von Dreyer-
ley Art. a) Umgießung der Lobge-
sänge in andre Versarten. b) Erwei-
terungen besonders in einigen leztern
Gesängen. c) Schärfere Mensuration
der Verse, denen ich die höchstmögliche
Vollkommenheit zugeben suchte.


Nur Ein Wort von Talent und Genie. Zwey
Worte, die ihrem Sinn und Gehalte nach
ungefähr so verschieden seyn mögen, wie
Schön und erhaben. Talent, meyn' ich,
macht mit Leichtigkeit, was tausend an-
dere nur mit aüßerster Mühe und Lang-
sammkeit machen können; oder es macht
mit Frohmuth und Grazie – was an-
dere nur gerecht und correkt machℓ. | 4 |
Genie macht, was niemand machen kann;
Alle Werke des Talentes erregen Bewun-
derndes Wohlgefallen; Genie erweckt
Ehrfurcht – erregt ein Gefühl das der
Anbethung nahe kommt – Es ist eine gegen-
wärtige, oder schnell vorüberwandelnde
Gottheit, deren man nur von Hinten
nachsehen darf. Bey den Werken des
Genius wandelt mich kein Gedanke an,
das auch zuversuchen; Es sey dann, daß das
Werk in mir Funken wecke und Kräfte
aufrege, die für jeden andern, der nicht ich
ist, genialisch sind. Bey den Werken, die
nur das Talent hervorgebracht hat, ist keine
Sicherheit da, daß sie nicht nachgeahmt wer-
den; daß sie nicht bald ihren parallelen
würdigen Pendant finden. Ich bin ewig
sicher keinen Göz von Berliching machen
zukönnen, aber nicht so mit Oberon. Ich
habe keine Zeile gefunden, wovon ich ge- | 5 |
wiß war – diese hätt' ich (unter gewiß sehr leicht
zubestimmenden Umständen) nicht auch machen
können, was du sonst vom poetischen Werthe des
Buches sagst, scheint mir wahr zu seyn. aber:
ich kann nichts für Werk des Genius, das heißt,
der scheinbaren Inspiration, erklären, wobey
ich die Möglichkeit, es auch zumachen, mir leicht
denken kann. Mengs z. E. hatte nach allem, was
ich von ihm weiß, nur Mahlertalente. Er konnte,
was vermittelst alles möglichen Fleißes und
aller Begünstigenden Umstände von einem
wohl organisirten Manne gelernt und durch
Übung anerworben werden konnte. Füßli
hingegen mit weniger Talenten ist mehr,
viel mehr Genie. Die nette gesittete cul-
tivirte Wielandische Kunstsprache, der
reine Geschmak, das gefällige comeilfaut
mag dem Pinsel des leztern fehlen. Aber
dieß alles, und noch mehr dazu ist noch
lange nicht – Die ewig unnachahmliche
Momentane Schöpfungskraft des Ge- | 6 |
nies – Allenfalls holde Morgen und Abend-
röthe – Aber nicht Blitzesschnelle, Blitzes-
helle Blitzes Kraft Blitzes Wirkung – –
Daß ein Herr Jesus! nach dem andern,
wie Funken am Hufe, losspringt! Mein
Blat ist am Ende. Also Leb Wol.


   
    Johann Caspar Lavater.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 81  B : 1780 Juli 24 (WA IV 4, Nr. 982)  A : 1780 August 14 (vgl. 4, 382)  V:  Abschrift 

Auf einer Vierzehntägigen Cur und Lustreise habe er in Basel Gemälde von H. Holbein d. J. gesehen, die alles überträfen, was er in Mannheim, Schleißheim und Düsseldorf gesehen habe. Sein Nachtmal besonders u. - die Lais corinthiaca gehen über alles. J. H. Lips werde einiges davon kopiren. - G.s "Iphigenie", die G. dem Chorherr J. Toblern [...] aufs neue lieb gemacht habe, werde L. dem Landvogt H. Lavater sowie J. K. und M. Schweizer vorlesen. - Über Verbesserungen, die L. an "Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn" vorgenommen habe (vgl. RA 1, Nr. 107). - Ausführliche Darlegung seiner Auffassung über den Unterschied zwischen Talent und Genie; Wielands "Oberon" verrate Talent, G.s "Götz" dagegen Genie; A. R. Mengs habe nur Mahlertalente gehabt, J. H. Füßli aber viel mehr Genie.

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Lieber Goethe,

  Ich bin von einer Vierzehntätigen Cur und Lustreise wieder zurük, und habe mich wieder einmal an Hohlbeins unsterblichen Werken in Basel gelabet, ich kann nicht sagen, gesättigt; denn ich durfte nicht –

 Mir kamen sie vor wie Davids ausgegoßnes Waßer vom Quell Bethlehems. I. Chron. XI. 17-­19.

 Hab' ich jemal Inspiration im eigentlichsten Sinn, in Menschenwerken gesehen, gefühlt, in mich geathmet, so war's in Drey oder Vier Stücken Hohlbeins, die, meines Ermeßens alles übertreffen, was ich in Manheim, Schleißheim, u: Düßeldorf sahe – in Ansehung der Zeichnung, des Colorites, und der| 2 | Poesie. Sein Nachtmal besonders u: – die Lais corinthiaca gehen über alles.

 Ich hab' es endlich dahin gebracht, daß Lips einiges davon kopiren kann – was ist aber alle Kopie mit Bleystift und Schwarzer Kreide? Ich bitte dich doch, alle Reisende, die von dir kommen, an diese höchst herrlichen Werke des Genius zuweisen, und sie durch Auflegung deiner Hände zur stillen unurtheilenden Betrachtung der selben einzuweihen.

  Die Iphigenie werd' ich, geliebts Gott, künftige Woche Herrn Landvogt Lavatern und seiner Familie, und Herrn Schweizern und Frau vorlesen. Dieß Ding hat dich dem Chorherr Toblern auch wieder, oder, aufs neüe lieb gemacht.

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 Ich habe bey meinen Verbeßerungen der Apokalypse immer einen Seitenblick auf dich geworfen – ob du nichts dagegen haben würdest? Sie sind von Dreyerley Art. a) Umgießung der Lobgesänge in andre Versarten. b) Erweiterungen besonders in einigen leztern Gesängen. c) Schärfere Mensuration der Verse, denen ich die höchstmögliche Vollkommenheit zugeben suchte.

 Nur Ein Wort von Talent und Genie. Zwey Worte, die ihrem Sinn und Gehalte nach ungefähr so verschieden seyn mögen, wie Schön und erhaben. Talent, meyn' ich, macht mit Leichtigkeit, was tausend andere nur mit aüßerster Mühe und Langsammkeit machen können; oder es macht mit Frohmuth und Grazie – was andere nur gerecht und correkt machℓ.| 4 | Genie macht, was niemand machen kann; Alle Werke des Talentes erregen Bewunderndes Wohlgefallen; Genie erweckt Ehrfurcht – erregt ein Gefühl das der Anbethung nahe kommt – Es ist eine gegenwärtige, oder schnell vorüberwandelnde Gottheit, deren man nur von Hinten nachsehen darf. Bey den Werken des Genius wandelt mich kein Gedanke an, das auch zuversuchen; Es sey dann, daß das Werk in mir Funken wecke und Kräfte aufrege, die für jeden andern, der nicht ich ist, genialisch sind. Bey den Werken, die nur das Talent hervorgebracht hat, ist keine Sicherheit da, daß sie nicht nachgeahmt werden; daß sie nicht bald ihren parallelen würdigen Pendant finden. Ich bin ewig sicher keinen Göz von Berliching machen zukönnen, aber nicht so mit Oberon. Ich habe keine Zeile gefunden, wovon ich ge| 5 |wiß war – diese hätt' ich (unter gewiß sehr leicht zubestimmenden Umständen) nicht auch machen können, was du sonst vom poetischen Werthe des Buches sagst, scheint mir wahr zu seyn. aber: ich kann nichts für Werk des Genius, das heißt, der scheinbaren Inspiration, erklären, wobey ich die Möglichkeit, es auch zumachen, mir leicht denken kann. Mengs z. E. hatte nach allem, was ich von ihm weiß, nur Mahlertalente. Er konnte, was vermittelst alles möglichen Fleißes und aller Begünstigenden Umstände von einem wohl organisirten Manne gelernt und durch Übung anerworben werden konnte. Füßli hingegen mit weniger Talenten ist mehr, viel mehr Genie. Die nette gesittete cultivirte Wielandische Kunstsprache, der reine Geschmak, das gefällige comeilfaut – mag dem Pinsel des leztern fehlen. Aber dieß alles, und noch mehr dazu ist noch lange nicht – Die ewig unnachahmliche Momentane Schöpfungskraft des Ge| 6 |nies – Allenfalls holde Morgen und Abendröthe – Aber nicht Blitzesschnelle, Blitzeshelle Blitzes Kraft Blitzes Wirkung – – Daß ein Herr Jesus! nach dem andern, wie Funken am Hufe, losspringt! Mein Blat ist am Ende. Also Leb Wol.

    Johann Caspar Lavater.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 123, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0123_00136.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 123.

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