Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 122
Von Johann Kaspar Lavater

15. Juli 1780, Zürich

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Lieber Goethe!


Gestern verließ uns mit Lieb u: Leid
der gute mit Weymarschaftlichkeit durch-
fümirte Knebel. Der Geruch von Wei-
mar ist mir schon angenehm. Izt bin
ich im Begriffe 8. Tage Luft zuschöpfen,
nach dem ich eben den lezten nochmals
durchgearbeiteten Bogen der Apokalypse
an den Buchdruker abgeschickt habe. Noch
nie hab' ich die Arbeit der Ausarbeitung
so stark gefühlt, wie izo. Aber, es thut am
Ende so wohl, sein möglichstes gethan zu-
haben.


   Deine Iphigenie hab' ich zweymal ge-
lesen, Knebeln auch sie Pfenningern
u: Orellℓ u: Frau Orell (Tobler, der
alte, kam eben dazu) lesen gehört. Dein | 2 |
großer altgriechischer Sinn hat uns alle
gleich gehoben, getragen u: herzlich gesät-
tigt. Die Schultheß hat auch keine Wo-
te für das herrliche Ding. Freüe dich uns-
rer Freüde darüber.


Die Zeichnungen zur Lored.... nebst
einigen andern Kleinigkeiten gehen
G.G. die andere Woche ab.


Send uns doch die Prophezeyung.


Du Freymaürer – du beredtest mich schier?
doch! Nein – Ich habe noch keinen Beruf
dazu!


Dein Urtheil über Mochels Urne erkenne
ich für richtiger, als meines.


Mit Haugwiz u: Kaufmann hab' ich in
Schaffhausen bey Gauppen zu Mittag
gegeßen. Es war ein wunderbarer
Krieg, da Tod u: Leben rangen. Ich meyn' | 3 |
der Tod, der bhielt den Sieg, und s' Leben
ist weggegangen. Thränen einer alten
H – – mischten sich unter das höllische Lä-
cheln aus dem Capitel Serpentes und
Reptilia. Haugwiz hat fürstlich groß u:
fürstlich klug mit ihm gehandelt. Gaupp
u: ich vertratten Taufpathenstelle bey
der Taufe zur stillen unwirksamen
Demuth u: schlesischen Unterthänigkeit
mit Entsagung alles eignen Wollens
u: Laufens.


Von Waser hab' ich weiter noch nichts
abgeschickt – theils aus Zeitmangel,
theils, weil ich die Akta erst ausziehen
mußte; dieß ist nun geschehen: Bäl-
dest also die Fortsetzung. Es sind seit
seiner Hinrichtung noch ein paar Schel- | 4 |
menstreiche, Betriegereyen gegen seine
Frau, u: seinen Vater ausgekommen. Der
erstern machte er eine falsche Obligation.
Dem andern hinterlegte er gestohlene Ca-
pital Briefe.


Mit Wielanden laßen wir also die Sache
gut seyn. Seinen Oberon hab' ich gelesℓ.
Poesie ist's gewiß, wenn etwas in der
Welt Poesie ist. Doch wenig, das nicht vom
bloßen Talente hervorgebracht werden
kann. Es ist natürlich, daß der Erzva-
ter die Sache so ansieht.


Entschuldige mich doch beym Herzog, daß
ich noch so weit in meinen Abstattun-
gen zurück bin. "Fremde Völker, (schlug'
ich ja einmal neben dir in Neüwied,
bey den Menoniten auf) "O Ephraim,
verzehren deine Kräfte!" | 5 |
B. seh' ich, ach so wenig u: so kurz, daß
wir oft wie traümend an einander
denken.


Grüß Herdern herzlich. Und das ist
der Mann, den die Knaben von Zürich
so verächtelnd ansehen! Ich bin auf
seine Abhandlung sehr begierig.


Knebel hat mich so in Weymar hin-
eingebracht, daß es mir ist – Ich ge-
höre da zu Hause.


Leb wohl, Lieber, u: laß mir mei-
ne Dürrer bald abfolgen – Denn im
ewigen Leben kann ich sie nicht mehr
genießen.

   
    J. C. L.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 77  B : 1780 Juli 3 (WA IV 4, Nr. 977)  A : 1780 Juli 24 (WA IV 4, Nr. 982); 1780 September 3 (WA IV 4, Nr. 1009)  V:  Abschrift 

Zu Besuch und Abreise Knebels. - Deine Iphigenie hab' ich zweiymal gelesen [...]. G.s großer altgriechischer Sinn habe alle, L., Knebel, J. K. Pfenninger, D. und R. Orelli, J. Tobler und B. Schultheß, gleich gehoben. - L. kündigt die Übersendung der Zeichnungen zur Korndarre an. - Bitte um K. S. Ziehens "Nachricht von dem bevorstehenden Erdbeben" (1780). - Zur Nachricht, daß G. Freimaurer geworden sei. - G.s Urteil über J. C. Schmohls "Urne J. J. Mochels" (1780) erkenne L. für richtiger an. - Über ein Mittagessen mit C. A. H. K. von Haugwitz und J. C. Kaufmann bei E. Gaupp. - Von J. H. Waser hab ich weiter noch nichts abgeschickt [...], weil ich die Akta erst ausziehen mußte. / Mit Wielanden laßen wir also die Sache gut seyn. Seinen Oberon hab' ich gelesen. - G. möge L. beim Herzog entschuldigen, daß das versprochene physiognomische Kabinett noch nicht fertig sei (vgl. RA 1, Nr. 107). Grüße an Herder. - Bitte um baldige Übersendung von L.s Dürer-Sammlung.

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Lieber Goethe!

 Gestern verließ uns mit Lieb u: Leid der gute mit Weymarschaftlichkeit durchfümirte Knebel. Der Geruch von Weimar ist mir schon angenehm. Izt bin ich im Begriffe 8. Tage Luft zuschöpfen, nach dem ich eben den lezten nochmals durchgearbeiteten Bogen der Apokalypse an den Buchdruker abgeschickt habe. Noch nie hab' ich die Arbeit der Ausarbeitung so stark gefühlt, wie izo. Aber, es thut am Ende so wohl, sein möglichstes gethan zuhaben.

  Deine Iphigenie hab' ich zweymal gelesen, Knebeln auch sie Pfenningern u: Orellℓ u: Frau Orell (Tobler, der alte, kam eben dazu) lesen gehört. Dein| 2 | großer altgriechischer Sinn hat uns alle gleich gehoben, getragen u: herzlich gesättigt. Die Schultheß hat auch keine Wote für das herrliche Ding. Freüe dich unsrer Freüde darüber.

 Die Zeichnungen zur Lored.... nebst einigen andern Kleinigkeiten gehen G.G. die andere Woche ab.

 Send uns doch die Prophezeyung.

 Du Freymaürer – du beredtest mich schier? doch! Nein – Ich habe noch keinen Beruf dazu!

 Dein Urtheil über Mochels Urne erkenne ich für richtiger, als meines.

 Mit Haugwiz u: Kaufmann hab' ich in Schaffhausen bey Gauppen zu Mittag gegeßen. Es war ein wunderbarer Krieg, da Tod u: Leben rangen. Ich meyn'| 3 | der Tod, der bhielt den Sieg, und s' Leben ist weggegangen. Thränen einer alten H – – mischten sich unter das höllische Lächeln aus dem Capitel Serpentes und Reptilia. Haugwiz hat fürstlich groß u: fürstlich klug mit ihm gehandelt. Gaupp u: ich vertratten Taufpathenstelle bey der Taufe zur stillen unwirksamen Demuth u: schlesischen Unterthänigkeit mit Entsagung alles eignen Wollens u: Laufens.

 Von Waser hab' ich weiter noch nichts abgeschickt – theils aus Zeitmangel, theils, weil ich die Akta erst ausziehen mußte; dieß ist nun geschehen: Bäldest also die Fortsetzung. Es sind seit seiner Hinrichtung noch ein paar Schel| 4 |menstreiche, Betriegereyen gegen seine Frau, u: seinen Vater ausgekommen. Der erstern machte er eine falsche Obligation. Dem andern hinterlegte er gestohlene Capital Briefe.

 Mit Wielanden laßen wir also die Sache gut seyn. Seinen Oberon hab' ich gelesℓ. Poesie ist's gewiß, wenn etwas in der Welt Poesie ist. Doch wenig, das nicht vom bloßen Talente hervorgebracht werden kann. Es ist natürlich, daß der Erzvater die Sache so ansieht.

 Entschuldige mich doch beym Herzog, daß ich noch so weit in meinen Abstattungen zurück bin. "Fremde Völker, (schlug' ich ja einmal neben dir in Neüwied, bey den Menoniten auf) "O Ephraim, verzehren deine Kräfte!"| 5 | B. seh' ich, ach so wenig u: so kurz, daß wir oft wie traümend an einander denken.

 Grüß Herdern herzlich. Und das ist der Mann, den die Knaben von Zürich so verächtelnd ansehen! Ich bin auf seine Abhandlung sehr begierig.

 Knebel hat mich so in Weymar hineingebracht, daß es mir ist – Ich gehöre da zu Hause.

Leb wohl, Lieber, u: laß mir meine Dürrer bald abfolgen – Denn im ewigen Leben kann ich sie nicht mehr genießen.     J. C. L.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 122, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0122_00135.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 122.

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