Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 118
Von Johann Kaspar Lavater

12. bis 13. Mai 1780, Zürich

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Das hatt' ich, lieber Goethe, ja wohl nicht
geglaubt, daß es mir am Freytag abend
vor Pfingsten – noch so lieb werden wür-
de, dir auf dein Seegenreiches Paquet,
noch eine Zeile ruhig zu schreiben.


Und siehe heüt Morgen vollendete ich
meine 72. Einladungsbesuche, den
Nachmittag spedirte ich meine Krankℓ,
u: Morgen nun halt' ich meine selbst-
gemachte u: nur von einem Freünde
durchgesehene Oration de Fide in Spi-
ritum Sanctum – u: Gott weiß, was
ich noch bis Montags abends, ohne 5 –
6. öffentliche Aktionen zuthun habe.
Genug izt soll mir mein Weibgen
das Haar auflocken u: in der Zeit
les' ich die Verse u: das Hamanische | 2 |
Geistding – unterdeßen leb wol. Ich
komme bald wieder ...


Ich habe das Hamanische Perlgenie im
Öle meines Stumpfsinns verschlungℓ
– ach! daß ich ganz den Mann ver-
stühnde! sein Combinations Geist
ist der Gegenstand meiner Verliebt-
heit – Im höchsten Gottes Geheimniß,
u: einem Comma, oder Punktum das-
selbe zusehen, ist Genie, Inspiration.


Dahlbergs wahrheitreiches Ding hab'
ich beym Nachteßen durchlaufen.
Ich finde fast durchaus Gleichheit mit
meinen Erfahrungen – nur nicht
genug Gemeinheit.


"Herr, Herr, Großer Herr, – hast viel
zuregiren" – dieß Wort, das mein | 3 |
Heirli dir abgehorcht, macht mir oft
so wohl, daß ichs zehenmal im Mund
herumwerfe.


Die Silhouette hab' ich erhalten. Dank
dem Herzog – den ich jeden Tag mehr
liebe, obgleich ich noch keine Zeile für
ihn geschrieben – du kannst dir aber
keinen Begriff machen von dem, was
ich zuthun hatte. Wills Gott – post
Festum.


Wegen Kauffmanns sey ruhig – Ich
habe gar keinen Zug noch Hang –
zu ihm zurükzukehren. U: auf ei-
nen liebreichen Brief, den er mir
schrieb, antwortet' ich ganz ruhig –
"Es ist beßer, wir schreiben u. sehen
einander noch nicht" –


Wasers Geschichte wird, wenn du diesℓ | 4 |
Brief hast, nah am Ende seyn. Er wird,
wie ich vermuthe, ohne anders ent-
hauptet werden. Er gestand Schlözern
eine Lebensgeschichte gesandt zu habℓ,
die er zu Wienn u: Berlin soll druckℓ
laßen; deren Zweck sey, alles in
Zürich hintereinander zurichten, u:
Eydsgenoßen gegen Eydsgenoßen
in Flammen zujagen.


Am Samstag nach Pfingsten ist sein
Sentenztag – Nebst Schinz, Pfennin-
ger u: Heß hat er mich zu sich auf
diesen Tag in den Thurn (im Waßer)
bitten laßen.


Wenn Er nicht der Nachtmalvergif-
ter ist, so will ich in meinem Lebℓ,
gewiß nie keinem auch dem wahr- | 5 |
scheinlichsten Argwohn mehr Raum
geben – aber, weil keine gerichtliche
Anzeige da ist, darf man ihn nicht
dringender fragen. Der Charakter
ist einzig. Schade, daß er so Crud, so
undelikat ist – so ohn' alle Liebe – –
u: daß er nur durch Etourderie, u:
viel Wißen, u: viel Geschäftigkeit
groß oder sonderbar ist ....


Heidegger war sein einziger erklär-
ter Patron – u: kaum schloß er die
Augen – so machte er ihn, oder viel-
mehr Hirzeln der ihn lobte, lächer-
lich in einer cruden boshaften
Schrift, die er Augensalbe nannte.
Ich wünschte dir als Dramatisten | 6 |
genug von ihm erzählen zukönnen.


Samstag Morgen.


Die Cenci, die mich – wundersam!
Gar nicht so wie die gestochne Copie
angezogen hat – ist wieder ab. Ich
konnte dir, welches ich doch wollte, nichts,
das dir Freüde machte, beylegen.


Du hast vollkommen recht mit des
Herzogs Portrait.


Hier ist ein anders, an dem ich noch
was zuverbeßern hoffe.


Lips reiset in 14. Tagen von hier
ab – u: wird auch über Weymar
kommen, wo er mir u: dir zeichnℓ
muß.


Für die Dürrer zum voraus Dank. | 7 |
Hättet ihr doch Eschern auf die Dose ein
Portrait gesetzt! Nun geschehen, ge-
schehen!


Die Offenbarung geht nun unter dem
Namen Jesus Meßias, oder, die
Zukunft des Herrn, nach der Offen-
barung Johannes unter die Preße.
Hier die Titelvignette. Adieü.


Ganze Staturen vom Herzog, Dir,
Wedeln, – der Stein, der Herzo-
ginn bitte! bitte!


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 74  B : 1780 Mai 1 (WA IV 4, Nr. 936)  A? : 1780 Juni 5 (WA IV 4, Nr. 963)  V:  Abschrift 

Dank für G.s Seegenreiches Paquet. Am Pfingstsonnabend werde L. seine selbstgemachte lateinische Rede halten. - Bemerkungen zu den von G. übersandten physiognomischen Bemerkungen K. T. von Dalbergs und zu J. G. Hamanns "Zwei Scherflein zur neusten Deutschen Literatur" (1780). - Die Silhouette hab' ich erhalten. Dank dem Herzog [...]. - L. versichert, weder Zug noch Hang zu haben, zu J. C. Kaufmann zurükzukehren. - Ausführlich über J. H. Waser. - Zum Porträt der B. Cenci und dem von Herzog Karl August. - J. H. Lips reise in 14 Tagen ab und müsse in Weimar für G. und L. zeichnen. - Dank für die Ordnung und Komplettierung seiner Dürer-Sammlung. - Übersendung der Titelvignette zu "Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn" (vgl. RA 1, Nr. 107). - Bitte um ganze Staturen Von Karl August und Luise, G., O. J. M. von Wedel, C. von Stein.

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 Das hatt' ich, lieber Goethe, ja wohl nicht geglaubt, daß es mir am Freytag abend vor Pfingsten – noch so lieb werden würde, dir auf dein Seegenreiches Paquet, noch eine Zeile ruhig zu schreiben.

 Und siehe heüt Morgen vollendete ich meine 72. Einladungsbesuche, den Nachmittag spedirte ich meine Krankℓ, u: Morgen nun halt' ich meine selbstgemachte u: nur von einem Freünde durchgesehene Oration de Fide in Spi ritum Sanctum – u: Gott weiß, was ich noch bis Montags abends, ohne 5 – 6. öffentliche Aktionen zuthun habe. Genug izt soll mir mein Weibgen das Haar auflocken u: in der Zeit les' ich die Verse u: das Hamanische| 2 | Geistding – unterdeßen leb wol. Ich komme bald wieder ...

 Ich habe das Hamanische Perlgenie im Öle meines Stumpfsinns verschlungℓ – ach! daß ich ganz den Mann verstühnde! sein Combinations Geist ist der Gegenstand meiner Verliebtheit – Im höchsten Gottes Geheimniß, u: einem Comma, oder Punktum dasselbe zusehen, ist Genie, Inspiration.

 Dahlbergs wahrheitreiches Ding hab' ich beym Nachteßen durchlaufen. Ich finde fast durchaus Gleichheit mit meinen Erfahrungen – nur nicht genug Gemeinheit.

 "Herr, Herr, Großer Herr, – hast viel zuregiren" – dieß Wort, das mein| 3 | Heirli dir abgehorcht, macht mir oft so wohl, daß ichs zehenmal im Mund herumwerfe.

 Die Silhouette hab' ich erhalten. Dank dem Herzog – den ich jeden Tag mehr liebe, obgleich ich noch keine Zeile für ihn geschrieben – du kannst dir aber keinen Begriff machen von dem, was ich zuthun hatte. Wills Gott – post Festum.

 Wegen Kauffmanns sey ruhig – Ich habe gar keinen Zug noch Hang – zu ihm zurükzukehren. U: auf einen liebreichen Brief, den er mir schrieb, antwortet' ich ganz ruhig – "Es ist beßer, wir schreiben u. sehen einander noch nicht" –

 Wasers Geschichte wird, wenn du diesℓ| 4 | Brief hast, nah am Ende seyn. Er wird, wie ich vermuthe, ohne anders enthauptet werden. Er gestand Schlözern eine Lebensgeschichte gesandt zu habℓ, die er zu Wienn u: Berlin soll druckℓ laßen; deren Zweck sey, alles in Zürich hintereinander zurichten, u: Eydsgenoßen gegen Eydsgenoßen in Flammen zujagen.

 Am Samstag nach Pfingsten ist sein Sentenztag – Nebst Schinz, Pfenninger u: Heß hat er mich zu sich auf diesen Tag in den Thurn (im Waßer) bitten laßen.

 Wenn Er nicht der Nachtmalvergifter ist, so will ich in meinem Lebℓ, gewiß nie keinem auch dem wahr| 5 |scheinlichsten Argwohn mehr Raum geben – aber, weil keine gerichtliche Anzeige da ist, darf man ihn nicht dringender fragen. Der Charakter ist einzig. Schade, daß er so Crud, so undelikat ist – so ohn' alle Liebe – – u: daß er nur durch Etourderie, u: viel Wißen, u: viel Geschäftigkeit groß oder sonderbar ist ....

 Heidegger war sein einziger erklärter Patron – u: kaum schloß er die Augen – so machte er ihn, oder vielmehr Hirzeln der ihn lobte, lächerlich in einer cruden boshaften Schrift, die er Augensalbe nannte. Ich wünschte dir als Dramatisten| 6 | genug von ihm erzählen zukönnen.

 Samstag Morgen.

 Die Cenci, die mich – wundersam! Gar nicht so wie die gestochne Copie angezogen hat – ist wieder ab. Ich konnte dir, welches ich doch wollte, nichts, das dir Freüde machte, beylegen.

 Du hast vollkommen recht mit des Herzogs Portrait.

 Hier ist ein anders, an dem ich noch was zuverbeßern hoffe.

 Lips reiset in 14. Tagen von hier ab – u: wird auch über Weymar kommen, wo er mir u: dir zeichnℓ muß.

 Für die Dürrer zum voraus Dank.| 7 | Hättet ihr doch Eschern auf die Dose ein Portrait gesetzt! Nun geschehen, geschehen!

 Die Offenbarung geht nun unter dem Namen Jesus Meßias, oder, die Zukunft des Herrn, nach der Offenbarung Johannes unter die Preße. Hier die Titelvignette. Adieü.

 Ganze Staturen vom Herzog, Dir, Wedeln, – der Stein, der Herzoginn bitte! bitte!

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 118, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0118_00131.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 118.

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