Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 111
Von Johann Kaspar Lavater

18. März 1780, Zürich

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Lieber Goethe,


Vor der Festwoche noch 2. Worte auf deinen gestern
erhaltnen lieben Brief. Der Hieronymus ist ganz un-
fehlbar unter denen 4. die du erhalten hast. Ich
nahm ihn aus Rahm und Glas heraus und legt'
ihn ganz gewiß bey. Nach unserer Vergleichung
solltest du ihn leicht finden.


Das retouchirte Correge hab' ich nicht bemerkt,
auch der sehr argwöhnische Mahler nicht, der gern
500. f drum gegeben hätte.


Landschaften für dich hab' ich wirkℓ. schon, vor dei-
ner Bestellung, einem jungen Meyer mit zur
Einsicht zusenden aufgetragen. Ich verspreche
mir viel von der ruhigen Wahrheit dieses frey-
zeichnenden Jünglings.


Erst izt bin ich mit dem aufziehen meiner Zeich-
nungen fertig. Nun noch dem Feste geht's ans
Rangiren. So dann laß' ich das allerwichtigste
für den Herzog in umriß copiren. Nur noch | 2 |
2. Monate geduld.


Füßlin hab' ich erst einen sehr einen sehr sanften bittenden
Brief geschrieben, als ob ich den deinigen nicht hät-
te. Aber auch hierauf keine Antwort.


An der Apokalypse ändere ich nur wenig, z. E.
Hexameter und undeutlichkeiten werden ver-
beßert, und einige Hymnen in andere Versart.
Eine Copie der Lotte ist mißlungen. In den 8. Tagen
erwart' ich eine beßere.


Hier macht nun ein Pfr Waser, der in dem
schlözerschℓ Briefwechsel vaterländische Geheim-
niße und Lügen eingerükt und Urkunden ent-
wendet hat – und gestern, wie er stand und
gieng, aufgehoben ward – viel aufsehns, die
Sache wird weltkündig werden, und vieles
nach sich ziehn.


Der Rammond, dem Peter schuldig ist, ist in Col-
mar bey Pfeffel zuerfragen. Er ist ein Ju-
riste.


Die Corndarre Zeichnung sollst du haben. Ich
bestelle sie heüte.

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Es sind hier 8. Glasmahlereyen 2. Fuß hoch ziem-
lich conservirt, zierlich gemahlt, und bisweilen
meisterhaft gezeichnet, kaüflich; hätt' ich ein
Cabinet, sie aufmachen zukönnen, wär's mir
so heimlich in einem solches Kreise. Frey-
lich es sind heilige u: Catholiken von 1511.
aber so was unnachahmliches – zerbrechen
zulaßen u: der verderbenden Zeit hinwer-
fen, ist doch schreklich. Ich hoffe sie um lei-
denlichen Preis zubekommen – aber der
Transport??


Von deinen Sachen ist noch nichts angekom-
men.


Diodati hat einen Reconziliationsplan ent-
worfen, der als höchst elend obgleich sehr fein
angesehen wird.


Köntest du mir doch, lieber, nicht von einem
Zeichner deines Ortes die Mittellinien
aller Thiermaüler ohne alles andere genau
zeichnen laßen. Jede besonders; den
Namen tief unten, oder hinten.


Ich bin auf dem Sprung einer neüen | 4 |
Höchstwichtigen Physiognomischen Entdekung –
die Stufen der Thierheit bis zur kindlich-
sten Menschheit einfältig darzulegen, und
zugleich, wie ich ahnde, den innerlich und ewig
unübersteiglichen Gränzstein zwischℓ Mensch
und Thier mathematisch, und zwar aus die-
ser Mittellinie allein, demonstribar zu-
machen. wenn auch das zu viel gehofft ist,
bin ich doch schon sicher, daß was beträchtliches
herauskommt. Der Anblik einiger wilden
hier zusehenden thiere, besonders eines Pa-
vians und einer Hyäne, deren der all-
mächtige Gott keinen Stral seiner Erbar-
mung angedeyhen ließ – brachten mich
neüerdings auf den gedanken. Haugwiz
hat mir ein artig, lieb Bruderbriefchen ge-
schrieben. Er ist immer in kluger Entfernung
von Glarisegg.


Aber der Prophet spielt seltsame Spiele –
verschenkt seine Meübles stellt die Bib-
liotheck in Sekret, schikt arbeitsleüte | 5 |
fort, und läßt Ehrenmann in einer Entfernung
vom Offen, daß ihm, zur Ertödtung des Fleisches,
die Beine abfrieren mögten, alte Hosen zer-
trennen –


Denk an mich. von Dreyen Eines: Bande
Mord, oder Amerika sind das Punktum
finale.


Nun Lebe wol – Über die bevorstehen-
de Ostern schlägt mir mein Herz, wie
noch nie – was wird mir begegnen.


   
    Johann Caspar Lavater.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 71  B : 1780 März 6 (WA IV 4, Nr. 907)  A : -  V:  Abschrift 

Beantwortung des gestern erhaltnen Briefs: Dürers "Hieronymus im Gehäuse" müsse G. erhalten haben. - Das retouchirte auf Correggios Bild (vgl. RA 1, Nr. 107) habe L. nicht bemerkt. - Schon vor G.s Bestellung habe er einem jungen Meyer (? J. H. Meyer) die Einsendung von Landschaften aufgetragen. - An J. H. Füßli habe L. einen sanften bittenden Brief geschrieben. - An der Apokalypse (vgl. RA 1, Nr. 107) ändere L. nur wenig. - Eine Copie der Lotte ist mißlungen. - Über J. H. Waser, der wegen Landesverrats verhaftet worden sei. - L. F. E. Ramond sei bei G. K. Pfeffel in Colmar zu erfragen. Die Corndarre Zeichnung sollst du haben. - L. habe Gelegenheit, gut erhaltene Glasmalereien zu erwerben. Über A. J. Diodatis Plan einer Organisation der neuen nationalen Kirche in Genf. - Wegen einer höchstwichtigen Physiognomischen Entdekung den Gränzstein zwischen Mensch und Thier betreffend, bitte er G. um die Mittellinien aller Thiermäuler. C. A. H. K. von Haugwitz habe ihm geschrieben. Über das seltsame Gebaren J. C. Kaufmanns.

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Lieber Goethe,

 Vor der Festwoche noch 2. Worte auf deinen gestern erhaltnen lieben Brief. Der Hieronymus ist ganz unfehlbar unter denen 4. die du erhalten hast. Ich nahm ihn aus Rahm und Glas heraus und legt' ihn ganz gewiß bey. Nach unserer Vergleichung solltest du ihn leicht finden.

 Das retouchirte Correge hab' ich nicht bemerkt, auch der sehr argwöhnische Mahler nicht, der gern 500. f drum gegeben hätte.

 Landschaften für dich hab' ich wirkℓ. schon, vor deiner Bestellung, einem jungen Meyer mit zur Einsicht zusenden aufgetragen. Ich verspreche mir viel von der ruhigen Wahrheit dieses freyzeichnenden Jünglings.

 Erst izt bin ich mit dem aufziehen meiner Zeichnungen fertig. Nun noch dem Feste geht's ans Rangiren. So dann laß' ich das allerwichtigste für den Herzog in umriß copiren. Nur noch| 2 | 2. Monate geduld.

 Füßlin hab' ich erst einen sehr einen sehr sanften bittenden Brief geschrieben, als ob ich den deinigen nicht hätte. Aber auch hierauf keine Antwort.

 An der Apokalypse ändere ich nur wenig, z. E. Hexameter und undeutlichkeiten werden verbeßert, und einige Hymnen in andere Versart. Eine Copie der Lotte ist mißlungen. In den 8. Tagen erwart' ich eine beßere.

 Hier macht nun ein Pfr Waser, der in dem schlözerschℓ Briefwechsel vaterländische Geheimniße und Lügen eingerükt und Urkunden entwendet hat – und gestern, wie er stand und gieng, aufgehoben ward – viel aufsehns, die Sache wird weltkündig werden, und vieles nach sich ziehn.

 Der Rammond, dem Peter schuldig ist, ist in Colmar bey Pfeffel zuerfragen. Er ist ein Juriste.

 Die Corndarre Zeichnung sollst du haben. Ich bestelle sie heüte.

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 Es sind hier 8. Glasmahlereyen 2. Fuß hoch ziemlich conservirt, zierlich gemahlt, und bisweilen meisterhaft gezeichnet, kaüflich; hätt' ich ein Cabinet, sie aufmachen zukönnen, wär's mir so heimlich in einem solches Kreise. Freylich es sind heilige u: Catholiken von 1511. aber so was unnachahmliches – zerbrechen zulaßen u: der verderbenden Zeit hinwerfen, ist doch schreklich. Ich hoffe sie um leidenlichen Preis zubekommen – aber der Transport??

 Von deinen Sachen ist noch nichts angekommen.

  Diodati hat einen Reconziliationsplan entworfen, der als höchst elend obgleich sehr fein angesehen wird.

 Köntest du mir doch, lieber, nicht von einem Zeichner deines Ortes die Mittellinien aller Thiermaüler ohne alles andere genau zeichnen laßen. Jede besonders; den Namen tief unten, oder hinten.

 Ich bin auf dem Sprung einer neüen| 4 | Höchstwichtigen Physiognomischen Entdekung – die Stufen der Thierheit bis zur kindlichsten Menschheit einfältig darzulegen, und zugleich, wie ich ahnde, den innerlich und ewig unübersteiglichen Gränzstein zwischℓ Mensch und Thier mathematisch, und zwar aus dieser Mittellinie allein, demonstribar zumachen. wenn auch das zu viel gehofft ist, bin ich doch schon sicher, daß was beträchtliches herauskommt. Der Anblik einiger wilden hier zusehenden thiere, besonders eines Pavians und einer Hyäne, deren der allmächtige Gott keinen Stral seiner Erbarmung angedeyhen ließ – brachten mich neüerdings auf den gedanken. Haugwiz hat mir ein artig, lieb Bruderbriefchen geschrieben. Er ist immer in kluger Entfernung von Glarisegg.

 Aber der Prophet spielt seltsame Spiele – verschenkt seine Meübles stellt die Bibliotheck in Sekret, schikt arbeitsleüte| 5 | fort, und läßt Ehrenmann in einer Entfernung vom Offen, daß ihm, zur Ertödtung des Fleisches, die Beine abfrieren mögten, alte Hosen zertrennen –

 Denk an mich. von Dreyen Eines: BandeMord, oder Amerika sind das Punktum finale.

 Nun Lebe wol – Über die bevorstehende Ostern schlägt mir mein Herz, wie noch nie – was wird mir begegnen.

    Johann Caspar Lavater.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 111, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0111_00124.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 111.

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