Goethes Briefe: GB 2, Nr. 97
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. , zweite Hälfte Februar? 1774〉 → 〈Düsseldorf〉


Ich muss Ihnen melden gute Tante dass ein gewisses Schand und Frevel Stück, Götter Helden und Wieland, durch offentlichen druck vor ​ 1 kurzem bekanndt gemacht worden. Ich habe der erste seyn wollen Sie davon zu benachrichtigen, dass wenn Sie etwa darüber mit dem Verfasser zu brechen Willens wären Sie's de bonne grace thäten und ohne ​ 2 weiter zu brummen und zu mutzen ihm einen Tritt vorn Hintern gäben, und sagten: schert euch zum ​ 3 Teufel, ich habe nichts gemeines mehr mit euch! /

Ubrigens schlendert das Leben hier so fort, und meine Zeichnung ist das beste an mir. Sagen Sie Mamachen, dass das versprochne Fassnachtstückel nicht ausbleiben soll. Ich binn fleisig gewest, nur ist noch nichts produzibel, und ein bissgen früher und später thut doch in der Welt nichts wo das ​gar nicht so manchmal einem das Nachsehn lässt. Adieu! Ist's wahr dass Sie Lotten wieder mit bringen. Ich mag ihr wohl manchmal etwas vorplaudern, sie wissen ia was geht wenn ich / in's prophetische radotiren komme. Adieu. Wollen Sie mich behalten wie ich binn, so binn ich immer der Alte

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Für die Datierung des vorliegenden und des folgenden Briefs an Johanna Fahlmer ( Nr 103 ) gibt es keine zuverlässigen Anhaltspunkte. Insbesondere ist der genaue Zeitpunkt, zu dem das von Goethe erwähnte Schand und Frevel Stück ( 76,11–12 ), „Götter Helden und Wieland“, in den ersten Monaten 1774 erschien, nicht sicher bekannt. (Mitteilungen, die Schrift sei im März erschienen, beziehen sich in den meisten Fällen auf den vorliegenden Brief und dessen bisherige Datierung; vgl. z. B. QuZ 4, 735, Nr 2641.) Bisher wurden die Briefe in umgekehrter Reihenfolge abgedruckt: Nr 103 datiert auf Ende Februar, der vorliegende Brief datiert auf März 1774, ohne dass dies begründet wurde (vgl. u. a. Goethe-Fahlmer, 50 und 52; WA IV 2, 152 und 321; DjG​2 6, 335 und 337, zu Nr 209 und 214; DjG​3 4, 324 und 327). – Da Goethe in Briefen an Elisabeth Jacobi ( Nr 73 und 83 ) zweimal das pünktliche Erscheinen des Fassnachtstückels ( 76,20–21 ) angekündigt hatte und nun diese Ankündigung korrigiert, lässt sich vermuten, dass der vorliegende Brief eher kurze als lange Zeit nach Fastnacht 1774, also nach dem 15. Februar, geschrieben wurde, mithin in der zweiten Hälfte des Februar 1774. Die Erwähnung der bevorstehenden Rückkehr Johanna Fahlmers von Düsseldorf nach Frankfurt sowohl im vorliegenden Brief als auch in Nr 103 macht wahrscheinlich, dass beide aus dem gleichen, nicht allzu ausgedehnten Zeitraum stammen. Dafür, dass Nr 103 später zu datieren ist, spricht Folgendes: Dem Inhalt des Briefes nach scheint Johanna Fahlmers Ankunft (Ostern 1774 [3. April]) so kurz bevorzustehen, dass die Zeit für entsprechende Vorbereitungen knapp zu werden droht. Dazu passt, dass der Brief vermutlich auf Elisabeth Jacobis (nicht überlieferten) Brief vom 8. März (vgl. Überlieferung zu Nr 92 ) Bezug nimmt (vgl. zu 79,25 ). Außerdem lässt sich darüber spekulieren, ob der launige Brief mit seinen Zeichnungen (vgl. Abb. 2–3, S. 80 f.) nicht die erleichterte Reaktion Goethes auf einen nicht überlieferten Brief Johanna Fahlmers war, mit dem diese auf den mit sichtlich schlechtem Gewissen geschriebenen vorliegenden Brief geantwortet hatte. Möglicherweise stammt also Nr 103 von etwa Mitte März 1773.

H: GSA Weimar, Sign.: 51/II,1,2. – Doppelblatt 11,4 × 19,2 cm, 2 ⅓ S. beschr., egh., Tinte.

E: Goethe-Jacobi (1846), 14 f., Nr 6.

WA IV 2 (1887), 152 f., Nr 213 (nach Goethe-Fahlmer; Textkorrekturen nach H in den Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 209).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt. Vgl. jedoch Datierung.

offentlichen druck] In „Dichtung und Wahrheit“ stellt Goethe den Sachverhalt so dar, dass der Druck seiner Farce „Götter Helden und Wieland“ (Leipzig [recte: Kehl] 1774) auf allzu eifriges Betreiben von Jakob Michael Reinhold Lenz zustande gekommen sei: Dieser sei nach der Lektüre des Manuskripts entzückt gewesen und behauptete, es müsse auf der Stelle gedruckt werden. Nach einigem Hin- und Wiederschreiben gestand ich es zu, und er gab es in Straßburg eilig unter die Presse. (AA DuW 1, 535 [15. Buch].) Dass Lenz in der Tat die Veröffentlichung veranlasste, geht aus seinem Brief an Herder vom 30. September 1775 hervor (vgl. Lenz, Briefe 1, 132). Im Rückblick deutet Goethe die Veröffentlichung des Stücks durch Lenz als ein Unternehmen, wodurch er mir zu schaden und mich beym Publikum in üblen Ruf zu setzen die Absicht hatte (AA DuW 1, 535 [15. Buch]). – In Nr 123 schreibt Goethe dagegen, er selbst habe die Satire drucken lassen (vgl. 96,9–10 ). In einem Gespräch mit Johanna Fahlmer, das diese in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi ausführlich schildert, soll Goethe gesagt haben: „Den verfluchten Dreck schrieb ich in der Trunkenheit! Ich war trunken!“ (Zitiert von Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Brief an Wieland vom 8. und 11. Mai 1774; WB 5, 256; vgl. auch BG 1, 252.) Dass Goethe die Angelegenheit peinlich war, zeigen auch Nr 99 und 108 (vgl. 78,2–4 ; 85,25–26 ).

mit dem Verfasser zu brechen] Johanna Fahlmer war durch ihre Freundschaft mit den Familien der Brüder Jacobi auch Wieland verbunden. Goethes Furcht, sie könne ihm die Satire übel nehmen, ist schon Nr 64 zu entnehmen (vgl. 50,20–21 ). Weder Johanna Fahlmer brach mit Goethe (vgl. Datierung) noch Wieland selbst, der, obgleich „sehr aufgebracht“ (Heinrich Christian Boie an Johann Heinrich Voß, 9. Mai 1774; Weinhold, 153), souverän genug war, das Werk im „Teutschen Merkur“ öffentlich zu loben: „Der Herr D. Göthe, Verfasser dieses Werkleins 〈Götter Helden und Wieland〉, nachdem er uns in seinem Götz von Berlichingen gezeigt hat, daß er Shakespear seyn könnte, wenn er wollte: hat er uns in dieser heroisch-komisch-farcicalischen Pasquinade gewiesen, daß er, wenn er wolle, auch Aristophanes seyn könne. 〈…〉 Wir empfehlen diese kleine Schrift allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witze, der sich aus allen möglichen Standpunkten sorgfältig denjenigen auswählt, aus dem ihm der Gegenstand schief vorkommen muß, und sich dann recht herzlich lustig darüber macht, daß das Ding so schief ist!“ (6. Bd. 3. Stück. Juni 1774, S. 351.) Wielands ausführliche Verteidigung des „Götz von Berlichingen“ findet sich im selben Heft (ebd., S. 321–333; vgl. zu 47,6 ).

de bonne grace] Franz.: bereitwillig, zuvorkommend.

mutzen] Auch ‚motzen‘: „maulen, sich widersetzen“ (Frankfurter Wörterbuch 4, 2072).

gemeines] Gemeinschaftliches, Gemeinsames. – ‚Gemein‘, „ein altes hochwichtiges und edles wort, nun aber übel heruntergekommen“ (Grimm 4 I 2, 3169), hatte im 18. Jahrhundert noch die Bedeutung von ‚allgemein‘ sowie „gemeinsam, gemeinschaftlich“ (GWb 3, 1414).

meine Zeichnung] Gemeint ist: meine Beschäftigung mit dem Zeichnen. Vgl. auch 65,18–19 .

Mamachen] Elisabeth Jacobi.

das versprochne Fassnachtstückel] Gemeint ist wohl das Singspiel „Erwin und Elmire“; es wurde erst Anfang 1775 vollendet. Vgl. auch Datierung.

fleisig] Goethe war seit Anfang Februar mit dem „Werther“ beschäftigt.

gewest] Bereits im 18. Jahrhundert veraltete Form des Partizips Präteritum; mundartlich gebräuchlich (vgl. Südhessisches Wörterbuch 5, 974).

produzibel] Vorführbar.

Lotten] Charlotte Jacobi; sie kam nicht nach Frankfurt. Goethe sah sie bei seinem Besuch in Pempelfort im Juli wieder.

radotiren] Franz. radoter: unsinnig reden, schwatzen.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 97 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR097_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 76, Nr 97 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 209–212, Nr 97 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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