BuG: BuG I, A 149
Straßburg Sept. 1770

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 250)

Straßburg Sept. 1770

Unsere Tischgesellschaft vermehrte sich wohl auf zwanzig Personen, und weil unser Salzmann bei seiner hergebrachten Methode beharrte, so blieb alles im alten Gange, ja die Unterhaltung ward beinahe schicklicher, indem sich ein jeder vor mehreren in Acht zu nehmen hatte. Unter den neuen Ankömmlingen befand sich ein Mann, der mich besonders interessirte; er hieß Jung, und ist derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling zuerst bekannt geworden ... Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten, doch solchen, die sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklärten, fand man ihn nicht allein redselig, sondern beredt; besonders erzählte er seine Lebensgeschichte auf das anmuthigste, und wußte dem Zuhörer alle Zustände deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben, und er versprach’s. Weil er aber in seiner Art sich zu äußern einem Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf, wenn er nicht von seiner Höhe herabfallen, einem sanften Strom, dem man nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht brausen soll, so mußte er sich in größerer Gesellschaft oft unbehaglich fühlen. Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mittheilung unerschöpflich war, so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. Ich half ihm in solchen Fällen gewöhnlich über, wofür er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen besten Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, sie mir auch in ihrer Natürlichkeit und Naivetät überhaupt wohl zusagte, so konnte er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines Geistes war mir angenehm und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zu statten kam, ließ ich unangetastet ...

Lerse, ebenmäßig unser Tischgeselle, gehörte auch zu dieser Zahl; ein vollkommen rechtlicher und bei beschränkten Glücksgütern mäßiger und genauer junger Mann ... Wenn er uns ... von so mancher Seite zu hofmeistern Ursache hatte, so ließen wir ihn auch noch außerdem für unsern Fechtmeister gelten: denn er führte ein sehr gutes Rapier, und es schien ihm Spaß zu machen, bei dieser Gelegenheit alle Pedanterie dieses Metiers an uns auszuüben. Auch profitirten wir bei ihm wirklich und mußten ihm dankbar sein für manche gesellige Stunde, die er uns in guter Bewegung und Übung verbringen ließ.

J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 270)

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Straßburg Sept. 1770

Des andern Mittags gingen sie [Stilling u. Troost] zum Erstenmal ins Kosthaus zu Tische. Sie waren zuerst da, man wies ihnen ihren Ort an. Es speisten ungefähr zwanzig Personen an diesem Tisch, und sie sahen einen nach den Andern hereintreten. Besonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und schönem Wuchs, muthig ins Zimmer. Dieser zog Herrn Troosts und Stillings Augen auf sich; Ersterer sagte gegen Letztern: das muß ein vortrefflicher Mann seyn. Stilling bejahete das, doch glaubte er, daß sie Beide viel Verdruß von ihm haben würden, weil er ihn für einen wilden Kameraden ansah. Dieses schloß er aus dem freien Wesen, das sich der Student herausnahm; allein Stilling irrte sehr. Sie wurden indessen gewahr, daß man diesen ausgezeichneten Menschen „Herr Göthe“ nannte.

Nun fanden sich noch zwei Mediziner, einer aus Wien, der andere ein Elsäßer. Der erstere hieß Waldberg [Meyer aus Lindau]. Er zeigte in seinem ganzen Wesen ein Genie, aber zugleich ein Herz voller Spott gegen die Religion, und voller Ausgelassenheit in seinen Sitten. Der Elsäßer hieß Melzer, und war ein feines Männchen, er hatte eine gute Seele, nur Schade! dass er etwas reizbar und mißtrauisch war. Dieser hatte seinen Sitz neben Stilling, und war bald Herzensfreund mit ihm. Nun kam auch ein Theologe, der hieß Leose [Lersé], einer von den vortrefflichen Menschen, Göthens Liebling, und das verdiente er auch mit Recht, denn er war nicht nur ein edles Genie und ein guter Theologe, sondern er hatte auch die seltene Gabe, mit trockener Miene die treffendste Satyre in Gegenwart des Lasters hinzuwerfen. Seine Laune war überaus edel. Noch Einer fand sich ein, der sich neben Göthe hinsetzte, von diesem will ich nichts mehr sagen, als daß er – ein guter Rabe mit Pfauenfedern war.

Noch ein vortrefflicher Straßburger saß da zu Tische. Sein Platz war der oberste, und wäre es auch hinter der Thüre gewesen. Seine Bescheidenheit erlaubt nicht, ihm eine Lobrede zu halten: es war der Herr Actuarius Salzmann. Meine Leser mögen sich den gründlichsten und empfindsamsten Philosophen, mit dem ächtesten Christenthum verpaart, denken, so denken sie sich einen Salzmann. Göthe und er waren Herzensfreunde.

Herr Troost sagte leise zu Stilling: Hier ists am besten, daß man vierzehn Tage schweigt. Letzterer erkannte diese Wahrheit, sie schwiegen also, und es kehrte sich auch Niemand sonderlich an sie, außer daß Göthe zuweilen seine Augen herüberwälzte; er saß gegen Stilling über, und er hatte die Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte.

J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 272)

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Straßburg Sept. 1770

Herr Troost war nett und nach der Mode gekleidet; Stilling auch so ziemlich. Er hatte einen schwarzbraunen Rock mit manchesternen Unterkleidern, nur war ihm noch eine runde Perücke übrig, die er zwischen seinen Beutel-Perücken doch auch gern verbrauchen wollte. Diese hatte er einsmals aufgesetzt, und kam damit an den Tisch. Niemand störte sich daran, als nur Herr Waldberg von Wien. Dieser sah ihn an, und da er schon vernommen hatte, daß Stilling sehr für die Religion eingenommen war, so fing er an und fragte ihn: Ob wohl Adam im Paradies eine runde Perücke möchte getragen haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Göthe und Troost; diese lachten nicht. Stilling fuhr der Zorn durch alle Glieder, und antwortete darauf: Schämen Sie sich dieses Spotts. Ein solcher alltäglicher Einfall ist nicht werth, daß er belacht werde! – Göthe aber fiel ein, und versetzte: Probiere erst einen Menschen, ob er des Spotts werth sey? Es ist teufelmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der keinen beleidigt hat, zum Besten zu haben! Von dieser Zeit an nahm sich Herr Göthe Stillings an, besuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Brüderschaft und Freundschaft mit ihm, und bemüthe sich bei allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu erzeigen. Schade, daß so Wenige diesen vortrefflichen Menschen seinem Herzen nach kennen!

An J. C. Engelbach 30. 9. 1770 (WA IV 1, 248)

Straßburg Sept. 1770

Im B. [Berkheimer? Braun? Bauer?] Hausse fährt man fort angenehm zu seyn. Der A[ktuar Salzmann?] und ich, wir werden uns ehstens copuliren lassen. Der ganze Tisch grüsst Sie.

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 302)

Straßburg Sept. 1770

Das bedeutendste Ereigniß, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knüpfende nähere Verbindung mit Herder. Er hatte den Prinzen von Holstein-Eutin, der sich in traurigen Gemüthszuständen befand, auf Reisen begleitet und war mit ihm bis Straßburg gekommen. Unsere Societät, sobald sie seine Gegenwart vernahm, trug ein großes Verlangen sich ihm zu nähern, und mir begegnete dieß Glück zuerst ganz unvermuthet und zufällig. Ich war nämlich in den Gasthof zum Geist gegangen, ich weiß nicht welchen bedeutenden Fremden aufzusuchen. Gleich unten an der Treppe fand ich einen Mann, der eben auch hinaufzusteigen im Begriff war, und den ich für einen Geistlichen halten konnte. Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr noch aber ein langer, schwarzer, seidner Mantel, dessen Ende er zusammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Dieses einigermaßen auffallende, aber doch im Ganzen galante und gefällige Wesen, wovon ich schon hatte sprechen hören, ließ mich keineswegs zweifeln, daß er der berühmte Ankömmling sei, und meine Anrede mußte ihn sogleich überzeugen, daß ich ihn kenne. Er fragte nach meinem Namen, der ihm von keiner Bedeutung sein konnte; allein meine Offenheit schien ihm zu gefallen, indem er sie mit großer Freundlichkeit erwiderte, und als wir die Treppe hinaufstiegen, sich sogleich zu einer lebhaften Mittheilung bereit finden ließ. Es ist mir entfallen, wen wir damals besuchten; genug, bei’m Scheiden bat ich mir die Erlaubniß aus, ihn bei sich zu sehen, die er mir denn auch freundlich genug ertheilte. Ich versäumte nicht, mich dieser Vergünstigung wiederholt zu bedienen, und ward immer mehr von ihm angezogen ... Durch mannichfaltige Fragen suchte er sich mit mir und meinem Zustande bekannt zu machen, und seine Anziehungskraft wirkte immer stärker auf mich. Ich war überhaupt sehr zutraulicher Natur, und vor ihm besonders hatte ich gar kein Geheimniß. Es währte jedoch nicht lange, als der abstoßende Puls seines Wesens eintrat und mich in nicht geringes Mißbehagen versetzte. Ich erzählte ihm mancherlei von meinen Jugendbeschäftigungen und Liebhabereien, unter andern von einer Siegelsammlung, die ich hauptsächlich durch des correspondenzreichen Hausfreundes [Hofrat Schneider] Theilnahme zusammengebracht. Ich hatte sie nach dem Staats-Kalender eingerichtet, und war bei dieser Gelegenheit mit sämmtlichen Potentaten, größern und geringern Mächten und Gewalten, bis auf den Adel herunter wohl bekannt geworden, und meinem Gedächtniß waren diese heraldischen Zeichen gar oft, und vorzüglich bei der Krönungsfeierlichkeit zu statten gekommen. Ich sprach von diesen Dingen mit einiger Behaglichkeit; allein er war anderer Meinung, verwarf nicht allein dieses ganze Interesse, sondern wußte es mir auch lächerlich zu machen, ja beinahe zu verleiden.

Von diesem seinem Widersprechungsgeiste sollte ich noch gar manches ausstehen.

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 340)

Straßburg Sept. 1770

Wie sehr ich in der neuern Literatur zurück sein mußte, läßt sich aus der Lebensart schließen, die ich in Frankfurt geführt, aus den Studien, denen ich mich gewidmet hatte, und mein Aufenthalt in Straßburg konnte mich darin nicht fördern. Nun kam Herder und brachte neben seinen großen Kenntnissen noch manche Hülfsmittel und überdieß auch neuere Schriften mit. Unter diesen kündigte er uns den Landpriester von Wakefield als ein fürtreffliches Werk an, von dem er uns die deutsche Übersetzung durch selbsteigne Vorlesung bekannt machen wollte ...

Wenn Herder bei seiner Vorlesung eines Fehlers beschuldigt werden konnte, so war es der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zuhörer einen gewissen Theil des Verlaufs vernommen und gefaßt hätte, um richtig dabei empfinden und gehörig denken zu können; voreilig wollte er sogleich Wirkungen sehen, und doch war er auch mit diesen unzufrieden, wenn sie hervortraten. Er tadelte das Übermaß von Gefühl, das bei mir von Schritt zu Schritt mehr überfloß. Ich empfand als Mensch, als junger Mensch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwärtig. Er, der bloß Gehalt und Form beachtete, sah freilich wohl, daß ich vom Stoff überwältigt ward, und das wollte er nicht gelten lassen. Peglows Reflexionen zunächst, die nicht von den feinsten waren, wurden noch übler aufgenommen; besonders aber erzürnte er sich über unsern Mangel an Scharfsinn, daß wir die Contraste, deren sich der Verfasser oft bedient, nicht voraussahen, uns davon rühren und hinreißen ließen, ohne den öfters wiederkehrenden Kunstgriff zu merken. Daß wir aber gleich zu Anfang, wo Burchell, indem er bei einer Erzählung aus der dritten Person in die erste übergeht, sich zu verrathen im Begriff ist, daß wir nicht gleich eingesehen oder wenigstens gemuthmaßt hatten, daß er der Lord, von dem er spricht, selbst sei, verzieh er uns nicht, und als wir zuletzt, bei Entdeckung und Verwandlung des armen kümmerlichen Wanderers in einen reichen mächtigen Herrn, uns kindlich freuten, rief er erst jene Stelle zurück, die wir nach der Absicht des Autors überhört hatten, und hielt über unsern Stumpfsinn eine gewaltige Strafpredigt. Man sieht hieraus, daß er das Werk bloß als Kunstproduct ansah und von uns das Gleiche verlangte, die wir noch in jenen Zuständen wandelten, wo es wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu lassen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0149 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0149.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 147 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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