BuG: BuG I, A 148
Straßburg Sommer 1770

An Susanna v. Klettenberg 26. 8. 1770 (WA IV 1, 245; 7, 375)

Straßburg Sommer 1770

Mein Umgang mit denen frommen Leuten hier ist nicht gar starck, ich hatte mich im Anfange sehr starck an sie gewendet; aber es ist als wenn es nicht seyn sollte. Sie sind so von Herzen langweilig wenn sie anfangen, dass es meine Lebhafftigkeit nicht aushalten konnte. Lauter Leute von mäsigem Verstande, die mit der ersten Religionsempfindung, auch den ersten vernünftigen Gedancken dachten, und nun meynen das wäre alles, weil sie sonst von nichts wissen; dabey so hällisch und meinem Graffen [Zinzendorf] so feind, und so kirchlich und püncktlich, dass – ich Ihnen eben nichts weiter zu sagen brauche ...

Wie offt habe ich ** [Handelsmann Hebeisen in Straßburg?] die Sache seiner Grillen und die Sache Gottes vermischen hören wenn er seinen Vetter ausschalt. Ich habe den Mann gern wir sind gute Freunde; aber schon als Hausvater ist er zu streng, und Sie können sich dencken was herauskommt wenn er die feinern Pflichten der Religion von seinen iungen rohen Leuten beobachtet haben will.

Eine andre Bekandtschafft, grad das Widerspiel von dieser, hat mir bisher nicht wenig genutzt. Ich soll durch alle Klassen gehn, so scheints gnädge Fräulen.

Herr ** [Salzmann?] ein Ideal für Mosheimen oder Jerusalemen, ein Mann, der durch viel Erfahrung mit viel Verstand gegangen ist; der bei der Kälte des Bluts womit er von ieher die Welt betrachtet hat, gefunden zu haben glaubt: dass wir auf diese Welt gesetzt sind besonders um ihr nützlich zu seyn, dass wir uns dazu fähig machen können, wozu denn auch die Religion etwas hilfft; und daß der brauchbaarste der Beste ist.

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 261)

Straßburg Sommer 1770

Ein ... Gegenstand, wovon sich die protestantischen Straßburger gern unterhielten, war die Vertreibung der Jesuiten ... Weil denn nun auch jede Stadt ihre Tragödie haben muß, wovor sich Kinder und Kindeskinder entsetzen, so ward in Straßburg oft des unglücklichen Prätors Klingling gedacht, der, nachdem er die höchste Stufe irdischer Glückseligkeit erstiegen, Stadt und Land fast unumschränkt beherrscht und alles genossen, was Vermögen, Rang und Einfluß nur gewähren können, endlich die Hofgunst verloren habe, und wegen alles dessen, was man ihm bisher nachgesehen, zur Verantwortung gezogen worden, ja sogar in den Kerker gebracht, wo er, über siebenzig Jahre alt, eines zweideutigen Todes verblichen.

Diese und andere Geschichten wußte jener Ludwigsritter [Oberst Frhr. v. Cronhjelm?], unser Tischgenosse, mit Leidenschaft und Lebhaftigkeit zu erzählen, deßwegen ich auch gern auf Spaziergängen mich zu ihm gesellte, anders als die Übrigen, die solchen Einladungen auswichen und mich mit ihm allein ließen. Da ich mich bei neuen Bekanntschaften meistentheils eine Zeit lang gehen ließ, ohne viel über sie, noch über die Wirkung zu denken, die sie auf mich ausübten, so merkte ich erst nach und nach, daß seine Erzählungen und Urtheile mich mehr beunruhigten und verwirrten als unterrichteten und aufklärten. Ich wußte niemals woran ich mit ihm war, obgleich das Räthsel sich leicht hätte entziffern lassen. Er gehörte zu den vielen, denen das Leben keine Resultate gibt, und die sich daher im Einzelnen, vor wie nach, abmühen ...

Die ersten Male unterhielt es wohl ihn zu hören, ja seine Suade setzte in Verwunderung. Man glaubte vor einem rednerischen Sophisten zu stehen, der, zu Scherz und Übung, den seltsamsten Dingen einen Schein zu verleihen weiß. Leider stumpfte sich dieser erste Eindruck nur allzubald ab: denn am Ende jedes Gesprächs kam der Mann wieder auf dasselbe Thema, ich mochte mich auch anstellen wie ich wollte. Er war bei älteren Begebenheiten nicht festzuhalten, ob sie ihn gleich selbst interessirten, ob er sie schon mit den kleinsten Umständen gegenwärtig hatte. Vielmehr ward er öfters, durch einen geringen Umstand, mitten aus einer weltgeschichtlichen Erzählung herausgerissen und auf seinen feindseligen Lieblingsgedanken hingestoßen.

Einer unserer nachmittägigen Spaziergänge war hierin besonders unglücklich; die Geschichte desselben stehe hier statt ähnlicher Fälle, welche den Leser ermüden, wo nicht gar betrüben könnten.

Auf dem Wege durch die Stadt begegnete uns eine bejahrte Bettlerin, die ihn, durch Bitten und Andringen, in seiner Erzählung störte. – Pack dich, alte Hexe! sagte er, und ging vorüber. Sie rief ihm den bekannten Spruch hinterdrein, nur etwas verändert, da sie wohl bemerkte, daß der unfreundliche Mann selbst alt sei: wenn ihr nicht alt werden wolltet, so hättet ihr euch in der Jugend sollen hängen lassen! Er kehrte sich heftig herum, und ich fürchtete einen Auftritt. – Hängen lassen! rief er, mich hängen lassen! Nein das wäre nicht gegangen, dazu war ich ein zu braver Kerl; aber mich hängen, mich selbst aufhängen, das ist wahr, das hätte ich thun sollen; einen Schuß Pulver sollt’ ich an mich wenden, um nicht zu erleben, daß ich keinen mehr werth bin. Die Frau stand wie versteinert, er aber fuhr fort: Du hast eine große Wahrheit gesagt, Hexenmutter! und weil man dich noch nicht ersäuft oder verbrannt hat, so sollst du für dein Sprüchlein belohnt werden. Er reichte ihr ein Büsel, das man nicht leicht an einen Bettler zu wenden pflegte.

Wir waren über die erste Rheinbrücke gekommen und gingen nach dem Wirthshause, wo wir einzukehren gedachten, und ich suchte ihn auf das vorige Gespräch zurückzuführen, als unerwartet auf dem angenehmen Fußpfad ein sehr hübsches Mädchen uns entgegen kam, vor uns stehen blieb, sich artig verneigte und ausrief: Ei, ei, Herr Hauptmann, wohin? und was man sonst bei solcher Gelegenheit zu sagen pflegt. – Mademoiselle, versetzte er, etwas verlegen, ich weiß nicht ... Wie? sagte sie, mit anmuthiger Verwunderung, vergessen Sie Ihre Freunde so bald? Das Wort Vergessen machte ihn verdrießlich, er schüttelte den Kopf und erwiderte mürrisch genug: Wahrhaftig, Mademoiselle, ich wüßte nicht! – Nun versetzte sie mit einigem Humor, doch sehr gemäßigt: Nehmen Sie sich in Acht, Herr Hauptmann, ich dürfte Sie ein andermal auch verkennen! Und so eilte sie an uns vorbei, stark zuschreitend, ohne sich umzusehen. Auf einmal schlug sich mein Weggesell mit den beiden Fäusten heftig vor den Kopf; o ich Esel! rief er aus; ich alter Esel! da seht ihr’s nun, ob ich Recht habe oder nicht. Und nun erging er sich auf eine sehr heftige Weise in seinem gewohnten Reden und Meinen, in welchem ihn dieser Fall nur noch mehr bestärkte. Ich kann und mag nicht wiederholen, was er für eine Philippische Rede wider sich selbst hielt. Zuletzt wendete er sich zu mir und sagte: Ich rufe euch zum Zeugen an! Erinnert ihr euch jener Krämerin, an der Ecke, die weder jung noch hübsch ist? Jedesmal grüße ich sie, wenn wir vorbeigehen, und rede manchmal ein paar freundliche Worte mit ihr; und doch sind schon dreißig Jahre vorbei, daß sie mir günstig war. Nun aber, nicht vier Wochen, schwör’ ich, sind’s, da erzeigte sich dieses Mädchen gegen mich gefälliger als billig, und nun will ich sie nicht kennen und beleidige sie für ihre Artigkeit! Sage ich es nicht immer, Undank ist das größte Laster, und kein Mensch wäre undankbar, wenn er nicht vergeßlich wäre!

Wir traten in’s Wirthshaus, und nur die zechende schwärmende Menge in den Vorsälen hemmte die Invectiven die er gegen sich und seine Altersgenossen ausstieß. Er war still und ich hoffte ihn begütigt, als wir in ein oberes Zimmer traten, wo wir einen jungen Mann allein auf- und abgehend fanden, den der Hauptmann mit Namen begrüßte. Es war mir angenehm ihn kennen zu lernen; denn der alte Gesell hatte mir viel Gutes von ihm gesagt und mir erzählt, daß dieser, bei’m Kriegsbureau angestellt, ihm schon manchmal, wenn die Pensionen gestockt, uneigennützig sehr gute Dienste geleistet habe. Ich war froh, daß das Gespräch sich in’s Allgemeine lenkte, und wir tranken eine Flasche Wein, indem wir es fortsetzten. Hier entwickelte sich aber zum Unglück ein anderer Fehler, den mein Ritter mit starrsinnigen Menschen gemein hatte ... Er hatte nämlich nicht lange die Augen hin und her gewandt, so bemerkte er auf dem Tische eine doppelte Portion Kaffee und zwei Tassen; daneben mochte er auch, er, der selbst ein feiner Zeisig war, irgend sonst eine Andeutung aufgespürt haben, daß dieser junge Mann sich nicht eben immer so allein befunden. Und kaum war die Vermuthung in ihm aufgestiegen und zur Wahrscheinlichkeit geworden, das hübsche Mädchen habe einen Besuch hier abgestattet, so gesellte sich zu jenem ersten Verdruß noch die wunderlichste Eifersucht, um ihn vollends zu verwirren.

Ehe ich nun irgend etwas ahnen konnte, denn ich hatte mich bisher ganz harmlos mit dem jungen Mann unterhalten, so fing der Hauptmann mit einem unangenehmen Ton, den ich an ihm wohl kannte, zu sticheln an, auf das Tassenpaar und auf dieses und jenes. Der Jüngere, betroffen, suchte heiter und verständig auszuweichen, wie es unter Menschen von Lebensart die Gewohnheit ist; allein der Alte fuhr fort schonungslos unartig zu sein, daß dem andern nichts übrig blieb, als Hut und Stock zu ergreifen und bei’m Abschiede eine ziemlich unzweideutige Ausforderung zurückzulassen. Nun brach die Furie des Hauptmanns und um desto heftiger los, als er in der Zwischenzeit noch eine Flasche Wein beinahe ganz allein ausgetrunken hatte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief mehr als einmal: Den schlag’ ich todt. Es war aber eigentlich so bös nicht gemeint, denn er gebrauchte diese Phrase mehrmals wenn ihm jemand widerstand oder sonst mißfiel. Eben so unerwartet verschlimmerte sich die Sache auf dem Rückweg: denn ich hatte die Unvorsichtigkeit, ihm seinen Undank gegen den jungen Mann vorzuhalten und ihn zu erinnern, wie sehr er mir die zuvorkommende Dienstfertigkeit dieses Angestellten gerühmt habe. Nein! solche Wuth eines Menschen gegen sich selbst ist mir nie wieder vorgekommen; es war die leidenschaftlichste Schlußrede zu jenen Anfängen, wozu das hübsche Mädchen Anlaß gegeben hatte. Hier sah ich Reue und Buße bis zur Caricatur getrieben, und, wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt, wirklich genialisch. Denn er nahm die sämmtlichen Vorfallenheiten unserer Nachmittagswanderung wieder auf, benutzte sie rednerisch zur Selbstscheltung, ließ zuletzt die Hexe nochmals gegen sich auftreten, und verwirrte sich dergestalt, daß ich fürchten mußte, er werde sich in den Rhein stürzen. Wäre ich sicher gewesen, ihn, wie Mentor seinen Telemach, schnell wieder aufzufischen, so mochte er springen, und ich hätte ihn für dießmal abgekühlt nach Hause gebracht.

Ich vertraute sogleich die Sache Lersen, und wir gingen des andern Morgens zu dem jungen Manne, den mein Freund, mit seiner Trockenheit, zum Lachen brachte. Wir wurden eins, ein ungefähres Zusammentreffen einzuleiten, wo eine Ausgleichung vor sich gehen sollte. Das Lustigste dabei war, daß der Hauptmann auch dießmal seine Unart verschlafen hatte, und zur Begütigung des jungen Mannes, dem auch an keinen Händeln gelegen war, sich bereit finden ließ. Alles war an einem Morgen abgethan, und da die Begebenheit nicht ganz verschwiegen blieb, so entging ich nicht den Scherzen meiner Freunde, die mir aus eigener Erfahrung hätten voraussagen können, wie lästig mir gelegentlich die Freundschaft des Hauptmanns werden dürfte.

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 281)

Straßburg Sommer 1770

In Straßburg regte sich bald, mit der übrigen Lebenslust, die Tactfähigkeit meiner Glieder. An Sonn- und Werkeltagen schlenderte man keinen Lustort vorbei, ohne daselbst einen fröhlichen Haufen zum Tanze versammelt, und zwar meistens im Kreise drehend zu finden. Ingleichen waren auf den Landhäusern Privat-Bälle, und man sprach schon von den brillanten Redouten des zukommenden Winters. Hier wäre ich nun freilich nicht an meinem Platz und der Gesellschaft unnütz gewesen; da rieth mir ein Freund, der sehr gut walzte, mich erst in minder guten Gesellschaften zu üben, damit ich hernach in der besten etwas gelten könnte. Er brachte mich zu einem Tanzmeister, der für geschickt bekannt war; dieser versprach mir, wenn ich nur einigermaßen die ersten Anfangsgründe wiederholt und mir zu eigen gemacht hätte, mich dann weiter zu leiten. Er war eine von den trockenen, gewandten französischen Naturen, und nahm mich freundlich auf. Ich zahlte ihm den Monat voraus, und erhielt zwölf Billette, gegen die er mir gewisse Stunden Unterricht zusagte. Der Mann war streng, genau, aber nicht pedantisch; und da ich schon einige Vorübung hatte, so machte ich es ihm bald zu Danke und erhielt seinen Beifall.

Den Unterricht dieses Lehrers erleichterte jedoch ein Umstand gar sehr: er hatte nämlich zwei Töchter, beide hübsch und noch unter zwanzig Jahren. Von Jugend auf in dieser Kunst unterrichtet zeigten sie sich darin sehr gewandt und hätten als Moitié auch dem ungeschicktesten Scholaren bald zu einiger Bildung verhelfen können. Sie waren beide sehr artig, sprachen nur französisch, und ich nahm mich von meiner Seite zusammen, um vor ihnen nicht linkisch und lächerlich zu erscheinen. Ich hatte das Glück, daß auch sie mich lobten, immer willig waren, nach der kleinen Geige des Vaters eine Menuett zu tanzen, ja sogar, was ihnen freilich beschwerlicher ward, mir nach und nach das Walzen und Drehen einzulernen. Übrigens schien der Vater nicht viele Kunden zu haben, und sie führten ein einsames Leben. Deßhalb ersuchten sie mich manchmal nach der Stunde bei ihnen zu bleiben und die Zeit ein wenig zu verschwätzen; das ich denn auch ganz gerne that, um so mehr als die jüngere mir wohl gefiel und sie sich überhaupt sehr anständig betrugen. Ich las manchmal aus einem Roman etwas vor, und sie thaten das Gleiche. Die ältere, die so hübsch, vielleicht noch hübscher war als die zweite, mir aber nicht so gut wie diese zusagte, betrug sich durchaus gegen mich verbindlicher und in allem gefälliger. Sie war in der Stunde immer bei der Hand und zog sie manchmal in die Länge; daher ich mich einigemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwei Billette anzubieten, die er jedoch nicht annahm. Die jüngere hingegen, ob sie gleich nicht unfreundlich gegen mich that, war doch eher still für sich, und ließ sich durch den Vater herbeirufen, um die ältere abzulösen.

Die Ursache davon ward mir eines Abends deutlich. Denn als ich mit der ältesten, nach vollendetem Tanz, in das Wohnzimmer gehen wollte, hielt sie mich zurück und sagte: Bleiben wir noch ein wenig hier; denn ich will es Ihnen nur gestehen, meine Schwester hat eine Kartenschlägerin bei sich, die ihr offenbaren soll, wie es mit einem auswärtigen Freund beschaffen ist, an dem ihr ganzes Herz hängt, auf den sie alle ihre Hoffnung gesetzt hat. Das meinige ist frei, fuhr sie fort, und ich werde mich gewöhnen müssen, es verschmäht zu sehen. Ich sagte ihr darauf einige Artigkeiten, indem ich versetzte, daß sie sich, wie es damit stehe, am ersten überzeugen könne, wenn sie die weise Frau gleichfalls befragte; ich wolle es auch thun, denn ich hätte schon längst so etwas zu erfahren gewünscht, woran mir bisher der Glaube gefehlt habe. Sie tadelte mich deßhalb und betheuerte, daß nichts in der Welt sichrer sei, als die Aussprüche dieses Orakels, nur müsse man es nicht aus Scherz und Frevel, sondern nur in wahren Anliegenheiten befragen. Ich nöthigte sie jedoch zuletzt mit mir in jenes Zimmer zu gehen, sobald sie sich versichert hatte, daß die Function vorbei sei. Wir fanden die Schwester sehr aufgeräumt und auch gegen mich war sie zuthulicher als sonst, scherzhaft und beinahe geistreich: denn da sie eines abwesenden Freundes sicher geworden zu sein schien, so mochte sie es für unverfänglich halten, mit einem gegenwärtigen Freund ihrer Schwester, denn dafür hielt sie mich, ein wenig artig zu thun.

Der Alten wurde nun geschmeichelt und ihr gute Bezahlung zugesagt, wenn sie der älteren Schwester und auch mir das Wahrhafte sagen wollte. Mit den gewöhnlichen Vorbereitungen und Ceremonien legte sie nun ihren Kram aus, und zwar, um der Schönen zuerst zu weissagen. Sie betrachtete die Lage der Karten sorgfältig, schien aber zu stocken und wollte mit der Sprache nicht heraus. – Ich sehe schon, sagte die jüngere, die mit der Auslegung einer solchen magischen Tafel schon näher bekannt war, ihr zaudert und wollt meiner Schwester nichts Unangenehmes eröffnen; aber das ist eine verwünschte Karte! Die ältere wurde blaß, doch faßte sie sich und sagte: So sprecht nur; es wird ja den Kopf nicht kosten! Die Alte, nach einem tiefen Seufzer, zeigte ihr nun an, daß sie liebe, daß sie nicht geliebt werde, daß eine andere Person dazwischen stehe und was dergleichen Dinge mehr waren. Man sah dem guten Mädchen die Verlegenheit an. Die Alte glaubte die Sache wieder etwas zu verbessern, indem sie auf Briefe und Geld Hoffnung machte. – Briefe, sagte das schöne Kind, erwarte ich nicht und Geld mag ich nicht. Wenn es wahr ist, wie ihr sagt, daß ich liebe, so verdiene ich ein Herz das mich wieder liebt. – Wir wollen sehen, ob es nicht besser wird, versetzte die Alte, indem sie die Karten mischte und zum zweiten Mal auflegte; allein es war vor unser aller Augen nur noch schlimmer geworden. Die Schöne stand nicht allein einsamer, sondern auch mit mancherlei Verdruß umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwischenfiguren näher gerückt. Die Alte wollte zum dritten Mal auslegen, in Hoffnung einer bessern Ansicht; allein das schöne Kind hielt sich nicht länger, sie brach in unbändiges Weinen aus, ihr holder Busen bewegte sich auf eine gewaltsame Weise, sie wandte sich um und rannte zum Zimmer hinaus. Ich wußte nicht was ich thun sollte. Die Neigung hielt mich bei der Gegenwärtigen, das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. – Trösten Sie Lucinden, sagte die jüngere, gehen Sie ihr nach. Ich zauderte; wie durfte ich sie trösten, ohne sie wenigstens einer Art von Neigung zu versichern, und konnte ich das wohl in einem solchen Augenblick auf eine kalte mäßige Weise! – Lassen Sie uns zusammen gehn, sagte ich zu Emilien. Ich weiß nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl thun wird, versetzte diese. Doch gingen wir, fanden aber die Thür verriegelt. Lucinde antwortete nicht, wir mochten pochen, rufen, bitten wie wir wollten. Wir müssen sie gewähren lassen, sagte Emilie, sie will nun nicht anders! Und wenn ich mir freilich ihr Wesen von unserer ersten Bekanntschaft an erinnerte, so hatte sie immer etwas Heftiges und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir zeigte sie am meisten dadurch, daß sie ihre Unart nicht an mir bewies. Was wollte ich thun! Ich bezahlte die Alte reichlich für das Unheil, das sie gestiftet hatte, und wollte gehen, als Emilie sagte: Ich bedinge mir, daß die Karte nun auch auf Sie geschlagen werde. Die Alte war bereit. – Lassen Sie mich nicht dabei sein! rief ich, und eilte die Treppe hinunter.

Den andern Tag hatte ich nicht Muth hinzugehen. Den dritten ließ mir Emilie durch einen Knaben, der mir schon manche Botschaft von den Schwestern gebracht und Blumen und Früchte dagegen an sie getragen hatte, in aller Frühe sagen, ich möchte heute ja nicht fehlen. Ich kam zur gewöhnlichen Stunde und fand den Vater allein, der an meinen Tritten und Schritten, an meinem Gehen und Kommen, an meinem Tragen und Behaben noch manches ausbesserte und übrigens mit mir zufrieden schien. Die Jüngste kam gegen das Ende der Stunde und tanzte mit mir eine sehr graziöse Menuett, in der sie sich außerordentlich angenehm bewegte, und der Vater versicherte, nicht leicht ein hübscheres und gewandteres Paar auf seinem Plane gesehen zu haben. Nach der Stunde ging ich wie gewöhnlich in’s Wohnzimmer; der Vater ließ uns allein, ich vermißte Lucinden. – Sie liegt im Bette, sagte Emilie, und ich sehe es gern: haben Sie deßhalb keine Sorge. Ihre Seelenkrankheit lindert sich am ersten, wenn sie sich körperlich für krank hält; sterben mag sie nicht gern, und so thut sie alsdann was wir wollen. Wir haben gewisse Hausmittel, die sie zu sich nimmt und ausruht; und so legen sich nach und nach die tobenden Wellen. Sie ist gar zu gut und liebenswürdig bei so einer eingebildeten Krankheit, und da sie sich im Grunde recht wohl befindet und nur von Leidenschaft angegriffen ist, so sinnt sie sich allerhand romanenhafte Todesarten aus, vor denen sie sich auf eine angenehme Weise fürchtet, wie Kinder, denen man von Gespenstern erzählt. So hat sie mir gestern Abend noch mit großer Heftigkeit erklärt, daß sie dießmal gewiß sterben würde, und man sollte den undankbaren falschen Freund, der ihr erst so schön gethan und sie nun so übel behandle, nur dann wieder zu ihr führen, wenn sie wirklich ganz nahe am Tode sei: sie wolle ihm recht bittre Vorwürfe machen und auch sogleich den Geist aufgeben. – Ich weiß mich nicht schuldig! rief ich aus, daß ich irgend eine Neigung zu ihr geäußert. Ich kenne jemand, der mir dieses Zeugniß am besten ertheilen kann. Emilie lächelte und versetzte: Ich verstehe Sie, und wenn wir nicht klug und entschlossen sind, so kommen wir alle zusammen in eine üble Lage. Was werden Sie sagen, wenn ich Sie ersuche, Ihre Stunden nicht weiter fortzusetzen? Sie haben von dem letzten Monat allenfalls noch vier Billette, und mein Vater äußerte schon, daß er es unverantwortlich finde, Ihnen noch länger Geld abzunehmen: es müßte denn sein, daß Sie sich der Tanzkunst auf eine ernstlichere Weise widmen wollten; was ein junger Mann in der Welt brauchte, besäßen Sie nun. – Und diesen Rath, Ihr Haus zu meiden, geben Sie mir, Emilie? versetzte ich. – Eben ich, sagte sie, aber nicht aus mir selbst. Hören Sie nur. Als Sie vorgestern wegeilten, ließ ich die Karte auf Sie schlagen, und derselbe Ausspruch wiederholte sich dreimal und immer stärker. Sie waren umgeben von allerlei Gutem und Vergnüglichem, von Freunden und großen Herren, an Geld fehlte es auch nicht. Die Frauen hielten sich in einiger Entfernung. Meine arme Schwester besonders stand immer am weitesten; eine andere rückte Ihnen immer näher, kam aber nie an Ihre Seite; denn es stellte sich ein Dritter dazwischen. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mich unter der zweiten Dame gedacht hatte, und nach diesem Bekenntnisse werden Sie meinen wohlmeinenden Rath am besten begreifen. Einem entfernten Freund habe ich mein Herz und meine Hand zugesagt, und bis jetzt liebt’ ich ihn über alles; doch es wäre möglich, daß Ihre Gegenwart mir bedeutender würde als bisher, und was würden Sie für einen Stand zwischen zwei Schwestern haben, davon Sie die eine durch Neigung und die andere durch Kälte unglücklich gemacht hätten, und alle diese Qual um nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir nicht schon wüßten, wer Sie sind und was Sie zu hoffen haben, so hätte mir es die Karte auf’s deutlichste vor Augen gestellt. Leben Sie wohl, sagte sie, und reichte mir die Hand. Ich zauderte. – Nun, sagte sie, indem sie mich gegen die Thür führte, damit es wirklich das letzte Mal sei, daß wir uns sprechen, so nehmen Sie was ich Ihnen sonst versagen würde. Sie fiel mir um den Hals und küßte mich auf’s zärtlichste. Ich umfaßte sie und drückte sie an mich.

In diesem Augenblicke flog die Seitenthür auf, und die Schwester sprang in einem leichten aber anständigen Nachtkleide hervor und rief: Du sollst nicht allein von ihm Abschied nehmen! Emilie ließ mich fahren und Lucinde ergriff mich, schloß sich fest an mein Herz, drückte ihre schwarzen Locken an meine Wangen und blieb eine Zeit lang in dieser Lage. Und so fand ich mich denn in der Klemme zwischen beiden Schwestern, wie mir’s Emilie einen Augenblick vorher geweissagt hatte. Lucinde ließ mich los und sah mir ernst in’s Gesicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches sagen; allein sie wandte sich weg, ging mit starken Schritten einigemal im Zimmer auf und ab und warf sich dann in die Ecke des Sophas. Emilie trat zu ihr, ward aber sogleich weggewiesen, und hier entstand eine Scene, die mir noch in der Erinnerung peinlich ist, und die, ob sie gleich in der Wirklichkeit nichts Theatralisches hatte, sondern einer lebhaften jungen Französin ganz angemessen war, dennoch nur von einer guten empfindenden Schauspielerin auf dem Theater würdig wiederholt werden könnte.

Lucinde überhäufte ihre Schwester mit tausend Vorwürfen. Es ist nicht das erste Herz, rief sie aus, das sich zu mir neigt, und das du mir entwendest. War es doch mit dem Abwesenden eben so, der sich zuletzt unter meinen Augen mit dir verlobte. Ich mußte es ansehen, ich ertrug’s; ich weiß aber wie viele tausend Thränen es mich gekostet hat. Diesen hast du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu lassen, und wie viele verstehst du nicht auf einmal zu halten. Ich bin offen und gutmüthig, und jedermann glaubt mich bald zu kennen und mich vernachlässigen zu dürfen; du bist versteckt und still, und die Leute glauben Wunder was hinter dir verborgen sei. Aber es ist nichts dahinter als ein kaltes selbstisches Herz, das sich alles aufzuopfern weiß; das aber kennt niemand so leicht, weil es tief in deiner Brust verborgen liegt, so wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie mein Gesicht.

Emilie schwieg und hatte sich neben ihre Schwester gesetzt, die sich im Reden immer mehr erhitzte, und sich über gewisse besondere Dinge herausließ, die mir zu wissen eigentlich nicht frommte. Emilie dagegen, die ihre Schwester zu begütigen suchte, gab mir hinterwärts ein Zeichen, daß ich mich entfernen sollte; aber wie Eifersucht und Argwohn mit tausend Augen sehen, so schien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie sprang auf und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie stand vor mir und schien auf etwas zu sinnen. Drauf sagte sie: Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich mache keine weitern Ansprüche auf Sie. Aber du sollst ihn auch nicht haben, Schwester! Sie faßte mich mit diesen Worten ganz eigentlich bei’m Kopf, indem sie mir mit beiden Händen in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihre drückte und mich zu wiederholten Malen auf den Mund küßte. Nun, rief sie aus, fürchte meine Verwünschung. Unglück über Unglück für immer und immer auf diejenige, die zum ersten Male nach mir diese Lippen küßt! Wage es nun wieder mit ihm anzubinden; ich weiß, der Himmel erhört mich dießmal. Und Sie, mein Herr, eilen Sie nun, eilen Sie was Sie können!

Ich flog die Treppe hinunter mit dem festen Vorsatze, das Haus nie wieder zu betreten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0148 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0148.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 138 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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