BuG: BuG I, A 8
Frankfurt Herbst 1756

Dichtung und Wahrheit I (WA I 26, 53)

Frankfurt Herbst 1756

Ich selbst war [nach der Blatternerkrankung] zufrieden nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber andere waren unbarmherzig genug, mich öfters an den vorigen Zustand zu erinnern; besonders eine sehr lebhafte Tante [Johanna Maria Melber], die früher Abgötterei mit mir getrieben hatte, konnte mich, selbst noch in spätem Jahren, selten ansehen, ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie garstig ist er geworden! Dann erzählte sie mir umständlich, wie sie sich sonst an mir ergötzt, welches Aufsehen sie erregt, wenn sie mich umhergetragen.

Dichtung und Wahrheit I (WA I 26, 61)

Frankfurt Herbst 1756

Hier [in der Bibliothek des Onkels, Pfarrer Starck] lernte ich zuerst den Homer kennen, und zwar in einer prosaischen Übersetzung, wie sie im siebenten Theil der durch Herrn von Loen besorgten neuen Sammlung der merkwürdigsten Reisegeschichten, unter dem Titel: Homers Beschreibung der Eroberung des Trojanischen Reichs, zu finden ist ... Die Begebenheiten selbst gefielen mir unsäglich; nur hatte ich an dem Werke sehr auszusetzen, daß es uns von der Eroberung Troja’s keine Nachricht gebe, und so stumpf mit dem Tode Hektors endige. Mein Oheim, gegen den ich diesen Tadel äußerte, verwies mich auf den Virgil, welcher denn meiner Forderung vollkommen Genüge that.

Dichtung und Wahrheit II (WA I 26, 69)

Frankfurt Herbst 1756

Kaum hatte ich am 28. August 1756 mein siebentes Jahr zurückgelegt, als gleich darauf jener weltbekannte Krieg ausbrach, welcher auf die nächsten sieben Jahre meines Lebens auch großen Einfluß haben sollte ... Die Welt, die sich nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Richter aufgefordert fand, spaltete sich sogleich in zwei Parteien, und unsere Familie war ein Bild des großen Ganzen ...

Gar bald wurden unsere Zusammenkünfte, die man seit mehreren Jahren Sonntags ununterbrochen fortgesetzt hatte, gestört. Die unter Verschwägerten gewöhnlichen Mißhelligkeiten fanden nun erst eine Form, in der sie sich aussprechen konnten. Man stritt, man überwarf sich, man schwieg, man brach los. Der Großvater, sonst ein heitrer, ruhiger und bequemer Mann, ward ungeduldig. Die Frauen suchten vergebens das Feuer zu tüschen, und nach einigen unangenehmen Scenen blieb mein Vater zuerst aus der Gesellschaft. Nun freuten wir uns ungestört zu Hause der preußischen Siege, welche gewöhnlich durch jene leidenschaftliche Tante [Johanna Maria Melber] mit großem Jubel verkündigt wurden. Alles andere Interesse mußte diesem weichen, und wir brachten den Überrest des Jahres in beständiger Agitation zu. Die Besitznahme von Dresden, die anfängliche Mäßigung des Königs, die zwar langsamen aber sichern Fortschritte, der Sieg bei Lowositz, die Gefangennehmung der Sachsen waren für unsere Partei eben so viele Triumphe. Alles was zum Vortheil der Gegner angeführt werden konnte, wurde geläugnet oder verkleinert; und da die entgegengesetzten Familienglieder das Gleiche thaten, so konnten sie einander nicht auf der Straße begegnen, ohne daß es Händel setzte, wie in Romeo und Julie ...

Als ältester Enkel und Pathe hatte ich seit meiner Kindheit jeden Sonntag bei den Großeltern gespeis’t: es waren meine vergnügtesten Stunden der ganzen Woche. Aber nun wollte mir kein Bissen mehr schmecken: denn ich mußte meinen Helden auf’s greulichste verleumden hören. Hier wehte ein anderer Wind, hier klang ein anderer Ton als zu Hause. Die Neigung, ja die Verehrung für meine Großeltern nahm ab. Bei den Eltern durfte ich nichts davon erwähnen; ich unterließ es aus eigenem Gefühl und auch weil die Mutter mich gewarnt hatte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0008 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0008.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 7 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang