Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 60
Von Gottfried August Bürger

9. März 1776, Wöllmarshausen

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   Eine Vierwöchige Reise ins Halberstädtische, mein Vaterland, deine Stella, mein lieber Göthe, (die ich im ReiseWagen gelesen,) und die Nachricht, welche du mir durch HE. Seidel geben laßen, haben mich wieder elastisch gemacht, haben die dicke Luft um mich ventilirt und ätherisirt, haben den todten stehenden Sumpf umgerührt und die frische helle Quelle wieder aufgeraümt, Ich wandle wieder in der Krafft Gottes und schnaube den lebendigen Oden, den mir Gott in die Nase geblasen. Mich durchströmet der Muth und das Gefühl gesunder Jugend, die Augen meines Geistes sind wacker geworden, ich stehe da und spreche Hei! und webe und strebe und ein Spott sind der Sturm und der Strom mir. O daß ich jetzt zu kämpfen hätte mit Drachen, Riesen und Ungeheüern der Cörper-­ und GeisterWelt! Was wolt' ich nicht mit dieser Krafft, mit diesem Gefühl der Unüberwindlichkeit thun!


   Da die Stimmen für meinen deütschen Homer nicht gezählt, sondern gewogen werden müßen, so sollte mich schon allein Eüer Zuruf, ihr Edlen und Weisen, ohne eüer Gold bewegen die teütsche Ilias sofort öffentlich zu versprechen. Aber es ist ein elend jämmerlich Ding! wenn einem auch Zeüs Kronion den Geist erhebt, (um wie Glaukus) güldne Waffen gegen eherne zu vertauschen, so hemmen hundert irdische Bedürfnisse den Flug des Geistes. Sieh, mein liebster Göthe ich hab ein Amt und muß dessen warten. Ich muß mich mit allerley juristischer Faustarbeit placken, um Weib und Kind und mich zu ernähren. Dem Homer zu Gefallen müst' ich das meiste aufgeben und ungehindert zwey bis drey Jahre vor Troja in den Gefilden zwischen Simois und Xanthus Fluthen mitten im Getöse der HeldenSchlachten leben und weben. Homer muß mir also mit der andern Hand wieder geben, was er mit der einen mir nimmt. So bald ich dies mit einigem Grunde von Teütschland hoffen darf, will ich mich öffentlich erklähren und die Ilias in drey oder vier Bändchen nach einander liefern. Das edle, bisher in Teütschland unerhörte, erste und einzige Anerbieten des Weimarschen Publikums erfüllt mich mit Ehrfurcht und Dank. Schier sollte mich mein Mistrauen gegen das teütsche Publikum gereüen. Dem Weimarschen bin ich laute Ehrenerklährung schuldig. Die wird auch um so gewisser erfolgen, als fast nicht zu zweifeln ist, jener Antrag werde der Sache einen entscheidenden Schwung geben.


   Ich wollte heüt gern HE. Seidel für seinen Brief danken, allein die Zeit fällt mir zu kurz. Du wirsts also einstweilen für mich thun.


   Lebe wohl, mein lieber blühender lebendiger rüstiger Junge und behalt mich lieb.
    GABürger.


S:  -  D:  BrBü Nr. 218  B : 1776 Februar 2 (WA IV 3, Nr. 399); von P. F. Seidel, 1776 Februar 26 (BrBü, Nr. 217; vgl. 3, 316)  A : 1776 März (WA IV 7, Nr. 430a)  V:  Druck 

Eine Reise in die Umgebung Halberstadts, G.s "Stella" und die Nachricht von P. F. Seidel haben mich wieder elastisch gemacht. Dank für das Anerbieten des weimarischen Publikums in Form der "Diesseitigen Antwort auf Bürgers Anfrage wegen Übersetzung des Homers" ("Teutscher Merkur", Februar 1776; vgl. WA I 37, 360f.). Obwohl jener Antrag der finanziellen Stützung seiner Übersetzung einen entscheidenden Schwung geben werde, müsse B. zunächst noch juristische Faustarbeit tun, um seine Familie zu ernähren.

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  Eine Vierwöchige Reise ins Halberstädtische, mein Vaterland, deine Stella, mein lieber Göthe, (die ich im ReiseWagen gelesen,) und die Nachricht, welche du mir durch HE. Seidel geben laßen, haben mich wieder elastisch gemacht, haben die dicke Luft um mich ventilirt und ätherisirt, haben den todten stehenden Sumpf umgerührt und die frische helle Quelle wieder aufgeraümt, Ich wandle wieder in der Krafft Gottes und schnaube den lebendigen Oden, den mir Gott in die Nase geblasen. Mich durchströmet der Muth und das Gefühl gesunder Jugend, die Augen meines Geistes sind wacker geworden, ich stehe da und spreche Hei! und webe und strebe und ein Spott sind der Sturm und der Strom mir. O daß ich jetzt zu kämpfen hätte mit Drachen, Riesen und Ungeheüern der Cörper-­ und GeisterWelt! Was wolt' ich nicht mit dieser Krafft, mit diesem Gefühl der Unüberwindlichkeit thun!

  Da die Stimmen für meinen deütschen Homer nicht gezählt, sondern gewogen werden müßen, so sollte mich schon allein Eüer Zuruf, ihr Edlen und Weisen, ohne eüer Gold bewegen die teütsche Ilias sofort öffentlich zu versprechen. Aber es ist ein elend jämmerlich Ding! wenn einem auch Zeüs Kronion den Geist erhebt, (um wie Glaukus) güldne Waffen gegen eherne zu vertauschen, so hemmen hundert irdische Bedürfnisse den Flug des Geistes. Sieh, mein liebster Göthe ich hab ein Amt und muß dessen warten. Ich muß mich mit allerley juristischer Faustarbeit placken, um Weib und Kind und mich zu ernähren. Dem Homer zu Gefallen müst' ich das meiste aufgeben und ungehindert zwey bis drey Jahre vor Troja in den Gefilden zwischen Simois und Xanthus Fluthen mitten im Getöse der HeldenSchlachten leben und weben. Homer muß mir also mit der andern Hand wieder geben, was er mit der einen mir nimmt. So bald ich dies mit einigem Grunde von Teütschland hoffen darf, will ich mich öffentlich erklähren und die Ilias in drey oder vier Bändchen nach einander liefern. Das edle, bisher in Teütschland unerhörte, erste und einzige Anerbieten des Weimarschen Publikums erfüllt mich mit Ehrfurcht und Dank. Schier sollte mich mein Mistrauen gegen das teütsche Publikum gereüen. Dem Weimarschen bin ich laute Ehrenerklährung schuldig. Die wird auch um so gewisser erfolgen, als fast nicht zu zweifeln ist, jener Antrag werde der Sache einen entscheidenden Schwung geben.

  Ich wollte heüt gern HE. Seidel für seinen Brief danken, allein die Zeit fällt mir zu kurz. Du wirsts also einstweilen für mich thun.

 Lebe wohl, mein lieber blühender lebendiger rüstiger Junge und behalt mich lieb.   GABürger.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 60, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0060_00065.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 60.

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