Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 20
Von Johann Kaspar Lavater

7. Januar 1774, Zürich

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Nun hast du doch, Bruder einige mei-
ner Fragen beantwortet: Dank du
guter, weiser, arger, guter, feiner
lieber!

Ha! wie fliegt dir mein Blik mit    hoch aufschlagender Brust nach,
Wenn auf dem glashellen Eis dein    Fuß den Geniusflug fliegt,
Ferner, fliehender, naher, du kühner,    vester und schneller,
Wende schwebender dich, wie Feüer-    Räder und treibe
Dich auf den schauenden hin, und grüß    ihn, und wende dich wieder,
Siehe du trägst ihn, er schwebt, doch    nur im Geiste, sein Odem
Steht, die schneidende Lufft, der schnel-    le schnellere Fuß eilt,
Ihm zu kühn in die Ferne: wie bist    du phänomenon – Bruder!
| 2 | Was auf dem Eise du bist, wähn ich    zu seyn auf dem Blatte,
Aber Wähnung nur ist's; mein Flug    ist Müdigkeit! Flug ist
Deines Fußes Erhebung zum leisen    Tritte; – die kleinste
Wie vom kühnen schweben, der Über-    schritt zu dem stehn ist,
Also vom stolzen Vers zur stillen be-    scheidenen Prose
Ist der Übergang mir; ist gleich auch    Prose mein Eisvers:
Doch ich will, weil ich muß, will bur-    zeln, daß ich an's Land komm:
Ha, nun sey du gesegnet, der Prose    mütterlich Kind mir.


Nicht wahr daß heißt aus dem Eise
gehen:   Dank für deinen Brief | 3 |
du hast recht; im Menschen ist
nichts wiedersprechendes. Das ist
etwas in meine Physiognomik! in
jedem deiner Briefe und Briefchen
so was, wie in dem den ich vor mir
habe: wer arm ist bettelt; wer
reich ist soll geben! Nun erwart
ich – was?

die junge La Roche.

deine deinigste.

den Herder.
im Schatten.
die Herderin.

Merken.

Hamann.


Und – das gerathenste Portrait –
ist's zu viel? – Copie! du kanst
nicht copieren – ich kans auch
nicht. – Nun – gib was du hast,
– und erwarte von mir – nichts,
als Dank! das ist wenig – was
kan die Schneke dem Adler geben | 4 |
wenn auf seinem Flügel ruhend sie
fliegt – freylich ohn AdlersAugen.
Menschen! Menschen! Menschen!
wie gern erblik ich eüch Menschen,
– wils Gott, macht dir Menschen-
kenner mein Geschwäz überschatten;
in einem Jahr eine heitere Stunde.
– das Portrait deß Schattenlosen
Jünglings, deß satten, ist eines
der mir heüt schreibt; – "daß er dei-
nen Götzen dahin gesezt habe, wo-
hin er gehört."


Eines Litterarischen Briefeschreibers
– der mich immer außer mich bringt,
wenn er von Goethe redet – der
um meine Freündschafft buhlet –
und den ich alle mögliche Liebe schen-
ke – aber Freündschaft nicht geben
kan; weil er Goethe – mißkennt –
mißempfindet, oder – beneidet. –
Nicht wahr – doch ich frage nicht;
ich will glauben: – du schlagest | 5 |
mir nicht ab was ich fragen würde
– also – Gedult, bis ich dir meinen
Glauben an deine Übergabe an
mich in die Hände gebe: – dieß,
nicht wahr, bey Anlas deines Por-
täts. –


Apropos – wiewohl bey Freünden
kein Apropos mehr statt hat – ich
wolte sagen Apropos bey Portrai-
ten – durch Haid wird meins re-
dend, hoffe ich – in Schwarzkunst
gegraben: – Apropos bey Portrai-
ten, also ein Wörtchen von Zinzen-
dorf; – das ist auch Harmonie,
und Homogenität, daß Goethe Zin-
zendorf ehrt – ich kans begreiffen
– bey allem dem war Zinzendorf
nichts mehr und nichts weniger,
als ein Zauberer –


Nun genug – das weißest du,
daß Pfeninger und ich Fest ha-
ben, wenn Göthe schreibt –

| 6 |
Nun heim vom Eise, dann ligt ein
Brief, ach nur von Lavater, und
nicht von Herder, nicht von Märk –
und nicht von Wieland – auf dem
Tische, – der wahrlich den frieh-
renden nicht wärmt; – doch mann
muß nicht immer warm seyn und
wärmen, – auch kalt seyn, und käl-
ten.


SchlußReimlein.

O belebe mich, und tödte Meine Schwachheit; starker Goethe! Laß mich suchen, laß mich finden! Gib mir Nahrung zum empfinden, Gib mir Liecht, und gib mir Wärme, Wenn ich kalt bin, wenn ich schwärme! Gib mir deine besten Freüden! Hüte dich, dich von uns beyden Pfenningern und mir zu scheiden – | 7 | Laß dich gläubig nur berühren – Und wir werden lebend spüren: Sieh uns wenn wir zu dir nahn, Brüderlich und segnend an.    Amen.


Leüchsenring hat einmal ein Franzö-
sisches Büchelgen Sur les Desirs mit
einigen trefflichen Vignettes: – känst
du den Vignettes Radierer nicht? –
kenst du ihn, schreib ihm – in mei-
nem Nahmen - mir ein Paar Vig-
nettes – mir ein Paar Köpfe in
mein Werk zu radieren – a tout
prix. – Was er will, was er will.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  Briefe HA Nr. 16  B : vor 1774 Januar 7 (vgl. RA 1, Nr. 20)  A? : 1774 Januar 13 (vgl. RA 1, Nr. 21)  V:  Abschrift 

Dank für G.s Brief und die Beantwortung einiger Fragen. - Gedicht an G. über den Eislauf: Ha! wie fliegt dir mein Blik mit [...]. - G. habe recht, im Menschen ist nichts wiedersprechendes. Zustimmung zu G.s Äußerung: wer arm ist bettelt; wer reich ist soll geben. Nun erwarte L. die Schattenbilder von M. E. von La Roche, G., Herder, K. Herder, J. H. Merck und J. G. Hamann. Vielleicht bereite er G. mit seinem Geschwäz über Schatten, in einem Jahr eine heitere Stunde. Über G. D. Hartmann, der den "Götz" rezensiert habe (in: "Erfurtische gelehrte Zeitungen" vom 22. November 1773, Nr. 93) und G. verkenne. - L.s Porträt werde von J. E. Haid in Schwarzkunst gegraben. - Es sei auch Harmonie, und Homogenität, daß Goethe Zinzendorf ehrt. - F. M. Leuchsenring besitze ein Büchelgen sur les Desirs (? F. Hemsterhuis, "Lettre sur les désirs", Ruppert 3063). Sollte G. den Radierer der Vignetten kennen, möge er ihn für L. gewinnen. - Schluß Reimlein. O belebe mich, und tödte Meine Schwachheit, starker Goethe [...].

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 Nun hast du doch, Bruder einige meiner Fragen beantwortet: Dank du guter, weiser, arger, guter, feiner lieber!

Ha! wie fliegt dir mein Blik mit  hoch aufschlagender Brust nach,
Wenn auf dem glashellen Eis dein  Fuß den Geniusflug fliegt,
Ferner, fliehender, naher, du kühner,  vester und schneller,
Wende schwebender dich, wie Feüer-  Räder und treibe
Dich auf den schauenden hin, und grüß  ihn, und wende dich wieder,
Siehe du trägst ihn, er schwebt, doch  nur im Geiste, sein Odem
Steht, die schneidende Lufft, der schnel-  le schnellere Fuß eilt,
Ihm zu kühn in die Ferne: wie bist  du phänomenon – Bruder!
| 2 | Was auf dem Eise du bist, wähn ich  zu seyn auf dem Blatte,
Aber Wähnung nur ist's; mein Flug  ist Müdigkeit! Flug ist
Deines Fußes Erhebung zum leisen  Tritte; – die kleinste
Wie vom kühnen schweben, der Über-  schritt zu dem stehn ist,
Also vom stolzen Vers zur stillen be-  scheidenen Prose
Ist der Übergang mir; ist gleich auch  Prose mein Eisvers:
Doch ich will, weil ich muß, will bur-  zeln, daß ich an's Land komm:
Ha, nun sey du gesegnet, der Prose  mütterlich Kind mir.

 Nicht wahr daß heißt aus dem Eise gehen: Dank für deinen Brief| 3 | du hast recht; im Menschen ist nichts wiedersprechendes. Das ist etwas in meine Physiognomik! in jedem deiner Briefe und Briefchen so was, wie in dem den ich vor mir habe: wer arm ist bettelt; wer reich ist soll geben! Nun erwart ich – was?

die junge La Roche.

deine deinigste.

den Herder.
im Schatten.
die Herderin.

Merken.

Hamann.

 Und – das gerathenste Portrait – ist's zu viel? – Copie! du kanst nicht copieren – ich kans auch nicht. – Nun – gib was du hast, – und erwarte von mir – nichts, als Dank! das ist wenig – was kan die Schneke dem Adler geben| 4 | wenn auf seinem Flügel ruhend sie fliegt – freylich ohn AdlersAugen. Menschen! Menschen! Menschen! wie gern erblik ich eüch Menschen, – wils Gott, macht dir Menschenkenner mein Geschwäz überschatten; in einem Jahr eine heitere Stunde. – das Portrait deß Schattenlosen Jünglings, deß satten, ist eines der mir heüt schreibt; – "daß er deinen Götzen dahin gesezt habe, wohin er gehört."

 Eines Litterarischen Briefeschreibers – der mich immer außer mich bringt, wenn er von Goethe redet – der um meine Freündschafft buhlet – und den ich alle mögliche Liebe schenke – aber Freündschaft nicht geben kan; weil er Goethe – mißkennt – mißempfindet, oder – beneidet. – Nicht wahr – doch ich frage nicht; ich will glauben: – du schlagest| 5 | mir nicht ab was ich fragen würde – also – Gedult, bis ich dir meinen Glauben an deine Übergabe an mich in die Hände gebe: – dieß, nicht wahr, bey Anlas deines Portäts. –

 Apropos – wiewohl bey Freünden kein Apropos mehr statt hat – ich wolte sagen Apropos bey Portraiten – durch Haid wird meins redend, hoffe ich – in Schwarzkunst gegraben: – Apropos bey Portraiten, also ein Wörtchen von Zinzendorf; – das ist auch Harmonie, und Homogenität, daß Goethe Zinzendorf ehrt – ich kans begreiffen – bey allem dem war Zinzendorf nichts mehr und nichts weniger, als ein Zauberer –

 Nun genug – das weißest du, daß Pfeninger und ich Fest haben, wenn Göthe schreibt –

| 6 | Nun heim vom Eise, dann ligt ein Brief, ach nur von Lavater, und nicht von Herder, nicht von Märk – und nicht von Wieland – auf dem Tische, – der wahrlich den friehrenden nicht wärmt; – doch mann muß nicht immer warm seyn und wärmen, – auch kalt seyn, und kälten.

 SchlußReimlein.

O belebe mich, und tödte Meine Schwachheit; starker Goethe! Laß mich suchen, laß mich finden! Gib mir Nahrung zum empfinden, Gib mir Liecht, und gib mir Wärme, Wenn ich kalt bin, wenn ich schwärme! Gib mir deine besten Freüden! Hüte dich, dich von uns beyden Pfenningern und mir zu scheiden – | 7 | Laß dich gläubig nur berühren – Und wir werden lebend spüren: Sieh uns wenn wir zu dir nahn, Brüderlich und segnend an.  Amen.

 Leüchsenring hat einmal ein Französisches Büchelgen Sur les Desirs mit einigen trefflichen Vignettes: – känst du den Vignettes Radierer nicht? – kenst du ihn, schreib ihm – in meinem Nahmen - mir ein Paar Vig- nettes – mir ein Paar Köpfe in mein Werk zu radieren – a tout prix. – Was er will, was er will.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 20, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0020_00022.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 20.

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