Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 59
Von Johann Kaspar Lavater

Anfang März 1776, Zürich

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Liebster Goethe,


Aus deinem lieben Strafbriechen, ohne
Datum, erhalten dℓ 1. März. 1776. schließ
ich, daß du noch nicht alles von mir hast.
Also will ich warten. Vergiß u: verzeihe
alles – u: ich will bräver werden.


Liebe Seele, ich habe die 2. ersten Bogen
Ph: erhalten, u: deine Würzung ge-
herzt. Fort also – ich weiß dir nicht zu-
danken. – Aber.


Über Kaltsinn klagst du – Engel? Ich ent-
schuldige dich, denn mein Lakonismus
ist schuld – aber, wol weißest du nicht,
daß mich oft das heißeste Heimwehe nach
dir hinreißte. Erst vorgestern abend
schmachtet' ich unaussprechlich nach dir
– dir mein Herz über Dinge zuleeren,
wovon ich mit Niemand sprechen kann. | 2 |
Ach! klage mich nicht an – Noch hab' ich
keine Seele gefunden, wie die Deinige.
Zeitdrang u: Schonung ist's, trauter Bru-
der, daß ich dir so wenig sage, u: dann ge-
wiß auch noch tiefes Gefühl meiner
Tiefheit unter dir – u: dennoch bin ich
gläubig an deine unendliche Bonhomie.
Lieber Goethe – ich habe täglich aüßerlich
u: innerlich zuleiden – besonders fang'
ich an, an allen Menschen zu verzagen.
Hätt' ich nicht einige nahe Herzen, die
wie Leibwache, den Ozean der Teüfeleyℓ
all abhielten – ich erschöße mich nicht,
aber gieng in die tiefste Einsamkeit.


Wenn du nun alles hast, wie du's habℓ
solltest, was zum II. Thl gehört, wirst
du sehen, daß du noch manches, ja
das meiste von deinem Vorrathe brau-
chen kannst.

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Kein Wort sagst du von der Zueignungs-­
Schrift? Lieber Goethe beruhige mich.
Nur noch einmal vor deiner Reise –
umständliche, beruhigende Beantwor-
tung.


Hab' izt einen Bildhauer, Trippel, bey
mir, der einen herrlichen Herkules un-
serm Magistrate geschenket hat, der macht
mir eine Christus Büste; freylich tief
unter meinem Bettel Ideal – doch schon
so, daß ich an ihn glauben würde.


Grüß Wielanden u: Louise. Herder kommt
er bald? Hat den 1. Theil Ph. in der
Lemgoer Bibl: rezensirt – –


Wohin mit dem Herzog? Sag mir auch
ein Wort von ihm – u: seine Silhouette?
Wer ist der Statthalter, von dem mir
Louise einmal schrieb daß Er u: du die
Zuschrift sehen sollten?

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Aristoteles – kommt in einem folgenden
Band Auszugsweise. Adieü Engel.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  Briefe HA Nr. 44  B : 1776 März (!) etwa 20 (WA IV 3, Nr. 421)  B? : ? 1776 Februar 22 (WA IV 3, Nr. 405)  A : 1776 März 6 (WA IV 3, Nr. 412); 1776 August 25 bis 30 (WA IV 3, Nr. 503)  V:  Abschrift 

Zu G.s Strafbriefchen, ohne Datum: G. werde noch nicht alles bekommen haben. Die 2. ersten Bogen Physiognomik habe L. erhalten und G.s Würzung geherzt. / Über Kaltsinn klagst du - Engel? [...] Zeitdrang u. Schonung ist's [...], daß ich dir so wenig sage [...]. G. werde sehen, daß er das meiste von seinem Vorrathe für den 2. Teil der "Fragmente" werde brauchen können. Kein Wort sagst du von der Zueignungs Schrift? (Widmung des 2. Teils an Luise von Sachsen-Weimar) / Aristoteles-kommt in einem folgenden Band Auszugsweise ("Etwas aus und über Aristoteles von den Tieren", im 3. Teil abgedruckt). - Herder habe den 1. Theil Physiognomik in der Lemgoer Bibl rezensirt ("Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Literatur", 1776, Band 9). - A. Trippel macht mir eine Christus Büste. - Bitte um die Silhouette von Herzog Karl August. Anfragen: Wohin G. mit dem Herzog reise, wer der Statthalter (K. T. von Dalberg) sei, ob Herder bald nach Weimar komme. - Grüße an Wieland und Herzogin Luise.

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Liebster Goethe,

 Aus deinem lieben Strafbriechen, ohne Datum, erhalten dℓ 1. März. 1776. schließ ich, daß du noch nicht alles von mir hast. Also will ich warten. Vergiß u: verzeihe alles – u: ich will bräver werden.

 Liebe Seele, ich habe die 2. ersten Bogen Ph: erhalten, u: deine Würzung geherzt. Fort also – ich weiß dir nicht zudanken. – Aber.

 Über Kaltsinn klagst du – Engel? Ich entschuldige dich, denn mein Lakonismus ist schuld – aber, wol weißest du nicht, daß mich oft das heißeste Heimwehe nach dir hinreißte. Erst vorgestern abend schmachtet' ich unaussprechlich nach dir – dir mein Herz über Dinge zuleeren, wovon ich mit Niemand sprechen kann.| 2 | Ach! klage mich nicht an – Noch hab' ich keine Seele gefunden, wie die Deinige. Zeitdrang u: Schonung ist's, trauter Bruder, daß ich dir so wenig sage, u: dann gewiß auch noch tiefes Gefühl meiner Tiefheit unter dir – u: dennoch bin ich gläubig an deine unendliche Bonhomie. Lieber Goethe – ich habe täglich aüßerlich u: innerlich zuleiden – besonders fang' ich an, an allen Menschen zu verzagen. Hätt' ich nicht einige nahe Herzen, die wie Leibwache, den Ozean der Teüfeleyℓ all abhielten – ich erschöße mich nicht, aber gieng in die tiefste Einsamkeit.

 Wenn du nun alles hast, wie du's habℓ solltest, was zum II. Thl gehört, wirst du sehen, daß du noch manches, ja das meiste von deinem Vorrathe brauchen kannst.

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 Kein Wort sagst du von der Zueignungs-­ Schrift? Lieber Goethe beruhige mich. Nur noch einmal vor deiner Reise – umständliche, beruhigende Beantwortung.

 Hab' izt einen Bildhauer, Trippel, bey mir, der einen herrlichen Herkules unserm Magistrate geschenket hat, der macht mir eine Christus Büste; freylich tief unter meinem Bettel Ideal – doch schon so, daß ich an ihn glauben würde.

 Grüß Wielanden u: Louise. Herder kommt er bald? Hat den 1. Theil Ph. in der Lemgoer Bibl: rezensirt – –

 Wohin mit dem Herzog? Sag mir auch ein Wort von ihm – u: seine Silhouette? Wer ist der Statthalter, von dem mir Louise einmal schrieb daß Er u: du die Zuschrift sehen sollten?

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 Aristoteles – kommt in einem folgenden Band Auszugsweise. Adieü Engel.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 59, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0059_00064.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 59.

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