Goethes Briefe: GB 2, Nr. 93
An Gottfried August Bürger

Frankfurt a. M. , 12. Februar 1774. Samstag → 〈Altengleichen〉

〈Druck〉


Ich schicke Ihnen die zweyte Auflage meines Göz. Ich wollt Ihnen schon lang einmal schreiben, und die Paar Stunden die ich mit Ihrem Freunde Destorp zugebracht habe haben mich determinirt.

Ich thue mir was drauf zu gute, dass ich's binn der die Papierne Scheidewand zwischen uns einschlägt. Unsre Stimmen sind sich offt begegnet und unsre Herzen auch. Ist nicht das Leben kurz und öde genug? sollen die sich nicht anfassen deren Weeg mit einander geht.

Wenn Sie was arbeiten schicken Sie mirs. Ich wills auch thun. Das giebt Muth. Sie zeigens nur den Freunden Ihres Herzens, das will ich auch thun. Und verspreche nie was abzuschreiben.

Destorp ist mit mir auf dem Eise gewesen, mein Herz ist mir über der holden Seele aufgegangen. Leben Sie wohl. ​Frankfurt am 12. Febr. 1774.

​Goethe.   

H: Verbleib unbekannt.

E: Strodtmann (1874) 1, 194, Nr 144 (nach H).

WA IV 2 (1887), 146, Nr 207 (nach E).

Textgrundlage: E. – Die Sperrung der Eigennamen geht vermutlich auf die zeitgenössische Druckkonvention zurück.

1 Exemplar „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Zwote Auflage“ (vgl. zu 72,14 ).

Der Brief beantwortet keinen Brief Bürgers. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Gottfried August Bürger (1747–1794) wurde als Sohn des Predigers Johann Gottfried Bürger und seiner Frau Gertrud Elisabeth in Molmerswende (im südlichen Harz) geboren. Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen, auch als der Vater 1748 eine Stelle als Adjunkt in Westorf bekam. Er kümmerte sich wenig um die Ausbildung seines Sohnes; erst 1759 kam dieser auf Betreiben seines Großvaters mütterlicherseits, des Spitalverwalters Jacob Philipp Bauer in Aschersleben, auf die dortige Stadtschule. Trotzdem hatte Bürger bereits eine Neigung zur Poesie entwickelt und erste Verse gemacht. Sein Schulbesuch dauerte nur ein Jahr; am 25. August 1760 wurde Bürger wegen Verfassens satirischer Epigramme auf einen Mitschüler und den Rektor relegiert. Der Großvater schickte ihn daraufhin auf das Pädagogium in Halle, wo Bürger drei Jahre bis September 1763 verbrachte. Zu den Schulkameraden, mit denen er sich dort befreundete, gehörte Leopold Friedrich Günther von Goeckingk. Obwohl Bürger erfolgreich lernte, holte ihn der Großvater vor Beendigung der Prima zurück nach Aschersleben und schickte ihn erst im nächsten Frühjahr auf die Universität Halle; dort wurde Bürger am 26. Mai 1764 auf großväterlichen Wunsch als Student der Theologie immatrikuliert. An diesem Fach fand er wenig Interesse; unter dem Einfluss seines väterlichen Freundes, des Altphilologen Christian Adolph Klotz, der auch seine dichterischen Ambitionen stärkte, wandte sich Bürger den alten Sprachen zu. Bei Klotz lernte er 1767 Heinrich Christian Boie kennen, mit dem er sich später eng befreundete. Bürgers Unlust am Theologiestudium und sein burschikoses Studentenleben veranlassten den Großvater, ihn erneut nach Hause zu holen und ihn zum Studium der Rechte in Göttingen zu bewegen, das er zu Ostern 1768 aufnahm. In seine Göttinger Studienzeit von 1768 bis 1772 fällt Bürgers erste literarische Tätigkeit, angeregt durch seine Bekanntschaft mit den Mitgliedern des Göttinger Hainbundes. Dieser wurde zwar erst im September 1772 förmlich gegründet, aber an den schon vorher stattfindenden, von Heinrich Christian Boie geleiteten Versammlungen der jungen Schriftsteller, darunter Friedrich Wilhelm Gotter, Ludwig Heinrich Christoph Hölty, Johann Martin Miller, Johann Heinrich Voß sowie die Brüder Stolberg, nahm Bürger teil. Publizistisches Organ des Dichterbundes war der von Boie 1769 gegründete Göttinger „Musen Almanach“, in dem von 1771 an auch Gedichte Bürgers erschienen. Ein Jahr zuvor hatte dieser angefangen, sich mit einer (nie vollendeten) jambischen Übersetzung von Homers „Ilias“ zu beschäftigen. In dieser Zeit wurde Boie Bürgers engster Freund und Förderer. Er unterstützte ihn nicht nur literarisch als Herausgeber, sondern auch in materieller Hinsicht. Als Bürger durch sein aufwendiges Studentenleben in wirtschaftliche Not geriet und der Großvater seine Unterstützung einstellte, veranlasste Boie Johann Wilhelm Ludwig Gleim, ihm mit finanziellen Zuwendungen und durch Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten immer wieder zu Hilfe zu kommen. Boie selbst war es, der seinem Freund 1772 die Stelle eines Amtmanns (Gerichtshalters) in Altengleichen mit Sitz in Gelliehausen in der Nähe von Göttingen verschaffte, die Bürger bis 1784 innehatte. Dort begann mit der ungeliebten juristischen Tätigkeit ein sehr unglücklicher Lebensweg, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht, woran auch der Versuch nichts änderte, 1784 als Dozent und 1789 als außerordentlicher Professor für Ästhetik in Göttingen eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Bis zu seinem frühen Tod litt Bürger unter beruflichem Misserfolg, Geldsorgen, persönlichen Schicksalsschlägen (1784 starb seine erste, 1786 seine zweite Frau) und gesellschaftlichen Anfeindungen, zu denen sein als unseriös empfundener Lebenswandel (‚Doppelehe‘ mit den Schwestern Dorothea und Auguste Leonhart, die früh geschiedene Ehe mit Elise Hahn) Anlass gab.

Goethe wurde während seiner Zeit in Wetzlar im Sommer 1772 durch Boie und Gotter auf Bürger aufmerksam, ohne ihn persönlich kennen zu lernen: Dadurch kam ich mit jenen in einige Berührung, die sich, jung und talentvoll, zusammenhielten, und nachher so viel und mannigfaltig wirkten. Die beyden Grafen ​Stolberg, Bürger, Voß, Hölty und andere waren im Glauben und Geiste um Klopstock versammelt 〈…〉. (AA DuW 1, 441 [12. Buch].) Am Anfang der Beziehung zwischen Bürger und Goethe stand gegenseitige Hochachtung, auf Seiten Bürgers sogar Verehrung. Wie begeistert er von „Götz von Berlichingen“ war, geht aus seinem Brief an Heinrich Christian Boie vom 8. Juli 1773 hervor: „Boie! Boie! Der Ritter mit der eisernen Hand, welch ein Stück! Ich weiß mich vor Enthusiasmus kaum zu lassen.“ (Blumenthal, 36; weiter vgl. zu 39,21–23 .) Goethe seinerseits bewunderte Bürgers „Lenore“, die im Göttinger „Musen Almanach“ für 1774 (S. 214–226) erschien und Bürgers Ruf als Lyriker begründete; in einem Brief vom 10. November 1773 an Bürger berichtete Boie, Goethe habe „sehr begeistert 〈…〉 davon gesprochen.“ (Strodtmann 1, 174.) Goethe selbst lobte die Ballade in seinem Brief an Boie vom 16. Oktober 1773 ( Nr 57 ): 〈…〉 da ist ein erstaunend Gefühl und Dicktion drinne. ( 44,21–22 .) Mit dem vorliegenden Brief eröffnete Goethe eine Korrespondenz, die zu einer freundschaftlichen Annäherung in den Jahren 1774 bis 1776 führte. Die insgesamt zehn überlieferten Briefe Goethes an Bürger reichen bis ins Jahr 1789; sie spiegeln im Wechsel des höflichen ‚Sie‘ im vorliegenden Brief zum vertraulichen ‚Du‘ im folgenden ( Nr 200 ; 17. Februar 1775) und wieder zum förmlichen ‚Sie‘ (erstmals im Brief vom 19.? März 1778; WA IV 3, 216) die Entwicklung des Verhältnisses beider Briefpartner wider. In den ersten Jahren sind vor allem die Briefe Bürgers voll enthusiastischer Selbstbekenntnisse; in einem Brief von Sommer 1775 heißt es: „Aber du Freünd bist mir allzu nah verwandt, als daß ich dir nicht überal nachgehn sollte. O daß ich täglich bey dir wäre, mit dir von einem Teller äße, aus einem Becher tränke und auf einer Streü schliefe, denn du bist der Einzige, dem ich all das Zeüg, was ich so denke und empfinde, sagen und mein wahres eigentliches Ich entfalten könnte.“ (Strodtmann 1, 230; vgl. RA 1, 62, Nr 50 .)

Goethe hat später sowohl Bürgers Begeisterung für den „Götz von Berlichingen“ als auch dessen briefliche Gefühlsäußerungen kritisch kommentiert; den zitierten Brief Bürgers an Boie über den „Götz“, den Goethe 1807 durch Johann Heinrich Voß erhielt, deutete er als Beispiel dafür, dass die Theilnahme junger Männer an meinen Stücken meistens stoffartig war: Sie glaubten daran ein Panier zu sehn, unter dessen Vorschritt alles was in der Jugend Wildes und Ungeschlachtes lebt, sich wohl Raum machen dürfte 〈…〉. (AA DuW 1, 474 [13. Buch].) Auch in anderer Hinsicht schien Goethe der Briefwechsel mit Bürger exemplarisch: Zu der damaligen Zeit hatte man sich ziemlich wunderliche Begriffe von Freundschaft und Liebe gemacht. Eigentlich war es eine lebhafte Jugend, die sich gegen einander aufknöpfte und ein talentvolles aber ungebildetes Innere hervorkehrte. Einen solchen Bezug gegen einander, der freylich wie Vertrauen aussah hielt man für Liebe für wahrhafte Neigung; ich betrog mich darin so gut wie die andern 〈…〉. (AA DuW 1, 597 [18. Buch].) In der Tat war die anfängliche Freundschaft nicht von Dauer; im Lauf weniger Jahre wich sie einem zunehmend distanzierten Verhältnis. Vor allem nachdem Bürger 1778 das Vorhaben einer „Ilias“-Übersetzung trotz Unterstützung durch Goethe, der finanzielle Mittel dafür gesammelt hatte, nicht zustande gebracht hatte, war dieser verärgert und das Verhältnis gestört. Nach dem einzigen persönlichen Zusammentreffen mit Goethe Ende April 1789 in Weimar war Bürger über die kühle Zurückhaltung empört, mit der er empfangen wurde; in einem Epigramm schildert er dieses Ereignis:


Mich drängt' es in ein Haus zu gehn, Drin wohnt' ein Künstler und Minister. Den edlen Künstler wollt' ich sehn, Und nicht das Alltagsstück Minister. Doch steif und kalt blieb der Minister Vor meinem trauten Künstler stehn, Und vor dem hölzernen Minister Kriegt' ich den Künstler nicht zu sehn. Hohl' ihn der Kukuk und sein Küster!

(In: Friedrich Nicolai: Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797. Berlin und Stettin 〈1797〉, S. 167.)

Goethe schrieb 1821 im Rückblick: Es ist traurig anzusehen, wie ein außerordentlicher Mensch sich gar oft mit sich selbst, seinen Umständen, seiner Zeit herumwürgt, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Trauriges Beispiel ​Bürger. (Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik. Aus Kunst und Alterthum; WA I 42.2, 116.) Auch wenn Goethe die Form von Schillers vernichtender Rezension „Über Bürgers Gedichte“ (1789) für zu schroff befand (Brief an Zelter, 6. November 1830; WA IV 48, 3), so teilte er doch das Urteil des Rezensenten und erklärte Bürger für ein entschiedenes deutsches Talent, aber ohne Grund und ohne Geschmack, so platt wie sein Publicum (ebd.).

zweyte Auflage meines Göz] Sie war im Januar erschienen (vgl. QuZ 4, 740, Anm. 1): Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Zwote Auflage. Frankfurt a. M. 1774. – Am 7. März 1774 schrieb Bürger an Heinrich Christian Boie: „Vor einigen Tagen hab' ich einen sehr honetten Brief von Göthen und die zweyte Auflage seines Götz zum Geschenk erhalten. Ich hatte mir nichts weniger, als das vermuthet.“ (Strodtmann 1, 200.)

Destorp] Johann Matthäus Tesdorpf, der mit Bürger in Göttingen die Rechte studiert hatte, befand sich nach Abschluss seiner Studien auf einer Bildungsreise und trat danach in seiner Vaterstadt Lübeck das Amt eines Ratssekretärs an. 1794 wurde er Mitglied des Rates, 1806 Bürgermeister.

Unsre Stimmen sind sich offt begegnet] Zuletzt im Göttinger „Musen Almanach“ auf 1774, in dem Bürgers Gedichte „Die Nachtfeyer der Venus“ (S. 54–56), „Minnelied“ (O wie schön ist, die ich minne 〈…〉; S. 111), „Ballade“ (Ich träumte, wie zu Mitternacht 〈…〉; S. 155 f.), „Minnesold“ (S. 164–166), „An ***“ (Mit dem naßgeweinten Schleyer 〈…〉; S. 192–194) und „Lenore“ (S. 214–226) erschienen waren; über die dort gedruckten Gedichte Goethes vgl. zu 45,10 .

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 93 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR093_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 72, Nr 93 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 195–199, Nr 93 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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