BuG: BuG I, A 372
Frankfurt Anf. Jan. 1775

Dichtung und Wahrheit XVI (WA I 29, 22)

Frankfurt Anf. Jan. 1775

In diesem Sinne erhielt ich manche Einladungen, oder nicht so wohl Einladungen: ein Freund, ein Bekannter schlug mir vor, gar oft mehr als dringend, mich da oder dort einzuführen.

Der quasi-Fremde, angekündigt als Bär, wegen oftmaligen unfreundlichen Abweisens, dann wieder als Hurone Voltaire’s, Cumberlands Westindier, als Naturkind bei so vielen Talenten, erregte die Neugierde, und so beschäftigte man sich in verschiedenen Häusern mit schicklichen Negotiationen ihn zu sehen.

Unter andern ersuchte mich ein Freund eines Abends mit ihm ein kleines Concert zu besuchen, welches in einem angesehenen reformirten Handelshause gegeben wurde. Es war schon spät; doch weil ich alles aus dem Stegreife liebte, folgte ich ihm, wie gewöhnlich anständig angezogen. Wir treten in ein Zimmer gleicher Erde, in das eigentliche geräumige Wohnzimmer. Die Gesellschaft war zahlreich, ein Flügel stand in der Mitte, an den sich sogleich die einzige Tochter des Hauses niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmuth spielte. Ich stand am unteren Ende des Flügels um ihre Gestalt und Wesen nahe genug bemerken zu können; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen; die Bewegungen wozu das Spiel sie nöthigte, waren ungezwungen und leicht.

Nach geendigter Sonate trat sie an’s Ende des Pianos gegen mir über; wir begrüßten uns ohne weitere Rede, denn ein Quartett war schon angegangen. Am Schlusse trat ich etwas näher und sagte einiges Verbindliche: wie sehr es mich freue, daß die erste Bekanntschaft mich auch zugleich mit ihrem Talent bekannt gemacht habe. Sie wußte sehr artig meine Worte zu erwidern, behielt ihre Stellung und ich die meinige. Ich konnte bemerken, daß sie mich aufmerksam betrachtete und daß ich ganz eigentlich zur Schau stand, welches ich mir wohl konnte gefallen lassen, da man auch mir etwas gar Anmuthiges zu schauen gab. Indessen blickten wir einander an, und ich will nicht läugnen, daß ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte. Das Hin- und Herwogen der Gesellschaft und ihrer Leistungen verhinderte jedoch jede andere Art von Annäherung diesen Abend. Doch muß ich eine angenehme Empfindung gestehen, als die Mutter bei’m Abschied zu erkennen gab, sie hofften mich bald wieder zu sehen, und die Tochter mit einiger Freundlichkeit einzustimmen schien. Ich verfehlte nicht, nach schicklichen Pausen, meinen Besuch zu wiederholen, da sich denn ein heiteres verständiges Gespräch bildete, welches kein leidenschaftliches Verhältniß zu weissagen schien.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0372 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0372.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 312 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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