BuG: BuG I, A 99
Leipzig Juli/Aug. 1768

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 186)

Leipzig Juli/Aug. 1768

Eines Nachts wachte ich mit einem heftigen Blutsturz auf, und hatte noch so viel Kraft und Besinnung, meinen Stubennachbar zu wecken. Doctor Reichel wurde gerufen, der mir auf’s freundlichste hülfreich ward, und so schwankte ich mehrere Tage zwischen Leben und Tod, und selbst die Freude an einer erfolgenden Besserung wurde dadurch vergällt, daß sich, bei jener Eruption, zugleich ein Geschwulst an der linken Seite des Halses gebildet hatte, den man jetzt erst, nach vorübergegangener Gefahr, zu bemerken Zeit fand ...

Was mich ... in dieser Zeit besonders aufrichtete, war zu sehen, wie viel vorzügliche Männer mir unverdient ihre Neigung zugewendet hatten ... Unter diesen Freunden nenne ich wohl zuvörderst den damaligen Rathsherrn, nachherigen Burgemeister von Leipzig, Doctor Hermann. Er war unter denen Tischgenossen, die ich durch Schlosser kennen lernte, derjenige, zu dem sich ein immer gleiches und dauerndes Verhältniß bewährte ...

Er wußte mein mitunter komisches Wesen durch heitere Scherze zu erwidern, und ich erinnere mich mancher vergnügten Stunde, die wir zusammen zubrachten, wenn er mich mit scherzhafter Feierlichkeit zu einem Abendessen unter vier Augen einlud, wo wir mit eignem Anstand, bei angezündeten Wachslichtern, einen sogenannten Rathshasen, der ihm als Deputat seiner Stelle in die Küche gelaufen war, verzehrten, und mit gar manchen Späßen, in Behrischens Manier, das Essen zu würzen und den Geist des Weines zu erhöhen beliebten. Daß dieser treffliche und noch jetzt in seinem ansehnlichen Amte immer fort wirksame Mann mir bei meinem zwar geahneten, aber in seiner ganzen Größe nicht vorausgesehenen Übel den treulichsten Beistand leistete, mir jede freie Stunde schenkte, und durch Erinnerung an frühere Heiterkeiten den trüben Augenblick zu erhellen wußte, erkenne ich noch immer mit dem aufrichtigsten Dank ...

Außer diesem werthen Freunde nahm sich Gröning von Bremen besonders meiner an. Ich hatte erst kurz vorher seine Bekanntschaft gemacht, und sein Wohlwollen gegen mich ward ich erst bei dem Unfalle gewahr; ich fühlte den Werth dieser Gunst um so lebhafter, als niemand leicht eine nähere Verbindung mit Leidenden sucht. Er sparte nichts, um mich zu ergötzen, mich aus dem Nachsinnen über meinen Zustand herauszuziehen und mir Genesung und gesunde Thätigkeit in der nächsten Zeit vorzuzeigen und zu versprechen ...

Hier war es auch, wo Freund Horn seine Liebe und Aufmerksamkeit ununterbrochen wirken ließ. Das ganze Breitkopfische Haus, die Stockische Familie, manche andere behandelten mich als einen nahen Verwandten; und so wurde mir durch das Wohlwollen so vieler freundlicher Menschen das Gefühl meines Zustandes auf das zarteste gelindert.

Umständlicher muß ich jedoch hier eines Mannes erwähnen, den ich erst in dieser Zeit kennen lernte und dessen lehrreicher Umgang mich über die traurige Lage, in der ich mich befand, dergestalt verblendete, daß ich sie wirklich vergaß. Es war Langer, nachheriger Bibliothekar in Wolfenbüttel. Vorzüglich gelehrt und unterrichtet, freute er sich an meinem Heißhunger nach Kenntnissen, der sich nun bei der krankhaften Reizbarkeit völlig fieberhaft äußerte. Er suchte mich durch deutliche Übersichten zu beruhigen, und ich bin seinem, obwohl kurzen Umgange sehr viel schuldig geworden, indem er mich auf mancherlei Weise zu leiten verstand und mich aufmerksam machte, wohin ich mich gerade gegenwärtig zu richten hätte. Ich fand mich diesem bedeutenden Manne um so mehr verpflichtet, als mein Umgang ihn einiger Gefahr aussetzte: denn als er nach Behrischen die Hofmeisterstelle bei dem jungen Grafen Lindenau erhielt, machte der Vater dem neuen Mentor ausdrücklich zur Bedingung, keinen Umgang mit mir zu pflegen. Neugierig, ein so gefährliches Subject kennen zu lernen, wußte er mich mehrmals am dritten Orte zu sehen. Ich gewann bald seine Neigung, und er, klüger als Behrisch, holte mich bei Nachtszeit ab, wir gingen zusammen spazieren, unterhielten uns von interessanten Dingen, und ich begleitete ihn endlich bis an die Thüre seiner Geliebten: denn auch dieser äußerlich streng scheinende, ernste, wissenschaftliche Mann war nicht frei von den Netzen eines sehr liebenswürdigen Frauenzimmers geblieben.

Die deutsche Literatur und mit ihr meine eignen poetischen Unternehmungen waren mir schon seit einiger Zeit fremd geworden, und ich wendete mich wieder, wie es bei einem solchen autodidaktischen Kreisgange zu erfolgen pflegt, gegen die geliebten Alten, die noch immer, wie ferne blaue Berge, deutlich in ihren Umrissen und Massen, aber unkenntlich in ihren Theilen und inneren Beziehungen, den Horizont meiner geistigen Wünsche begränzten. Ich machte einen Tausch mit Langer, wobei ich zugleich den Glaucus und Diomedes spielte; ich überließ ihm ganze Körbe deutscher Dichter und Kritiker und erhielt dagegen eine Anzahl griechischer Autoren, deren Benutzung mich, selbst bei dem langsamsten Genesen, erquicken sollte ...

Langer ... gehörte unter diejenigen, denen ein unmittelbares Verhältniß zu dem großen Weltgotte nicht in den Sinn will; ihm war daher eine Vermittelung nothwendig, deren Analogon er überall in irdischen und himmlischen Dingen zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm und consequent, fand bei einem jungen Menschen leicht Gehör, der durch eine verdrießliche Krankheit von irdischen Dingen abgesondert, die Lebhaftigkeit seines Geistes gegen die himmlischen zu wenden höchst erwünscht fand. Bibelfest wie ich war kam es bloß auf den Glauben an, das was ich menschlicher Weise zeither geschätzt, nunmehr für göttlich zu erklären, welches mir um so leichter fiel, da ich die erste Bekanntschaft mit diesem Buche als einem göttlichen gemacht hatte. Einem Duldenden, zart, ja schwächlich Fühlenden war daher das Evangelium willkommen, und wenn auch Langer bei seinem Glauben zugleich ein sehr verständiger Mann war und fest darauf hielt, daß man die Empfindung nicht solle vorherrschen, sich nicht zur Schwärmerei solle verleiten lassen, so hätte ich doch nicht recht gewußt, mich ohne Gefühl und Enthusiasmus mit dem neuen Testament zu beschäftigen.

Mit solchen Unterhaltungen verbrachten wir manche Zeit, und er gewann mich als einen getreuen und wohl vorbereiteten Proselyten dergestalt lieb, daß er manche seiner Schönen zugedachte Stunde mir aufzuopfern nicht anstand, ja sogar Gefahr lief verrathen und, wie Behrisch, von seinem Patron übel angesehen zu werden. Ich erwiderte seine Neigung auf das dankbarste, und wenn dasjenige was er für mich that, zu jeder Zeit wäre schätzenswerth gewesen, so mußte es mir in meiner gegenwärtigen Lage höchst verehrlich sein.

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 194)

Leipzig Juli/Aug. 1768

Mit den Stadtsoldaten hatten sich junge Leute veruneinigt, es war nicht ohne Thätlichkeiten abgelaufen. Mehrere Studirende verbanden sich, die zugefügten Beleidigungen zu rächen. Die Soldaten widerstanden hartnäckig und der Vortheil war nicht auf der Seite der sehr unzufriedenen akademischen Bürger. Nun ward erzählt, es hätten angesehene Personen wegen tapferen Widerstands die Obsiegenden gelobt und belohnt, und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr- und Rachgefühl mächtig aufgefordert. Man erzählte sich öffentlich, daß den nächsten Abend Fenster eingeworfen werden sollten, und einige Freunde, welche mir die Nachricht brachten, daß es wirklich geschehe, mußten mich hinführen, da Jugend und Menge wohl immer durch Gefahr und Tumult angezogen wird. Es begann wirklich ein seltsames Schauspiel. Die übrigens freie Straße war an der einen Seite von Menschen besetzt, welche ganz ruhig, ohne Lärm und Bewegung abwarteten, was geschehen solle. Auf der leeren Bahn gingen etwa ein Dutzend junge Leute einzeln hin und wider, in anscheinender größter Gelassenheit; sobald sie aber gegen das bezeichnete Haus kamen, so warfen sie im Vorbeigehn Steine nach den Fenstern, und dieß zu wiederholten Malen hin und widerkehrend, so lange die Scheiben noch klirren wollten. Eben so ruhig, wie dieses vorging, verlief sich auch endlich alles und die Sache hatte keine weiteren Folgen.

An Friederike Oeser 6. 11. 1768 (WA IV 1, 173)

Leipzig Juli/Aug. 1768

  So ein Gespräch, wie unsers war, im Garten,   Und in der Loge noch, mit diesem seltnen Zug,   So aufgeweckt, und doch so klug,   Ja, darauf kann ich warten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0099 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0099.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 103 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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