Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 186
Von Johann Heinrich Merck

29. April 1784, Darmstadt

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Hier bey folgt eine etwas ausführlichere Zeichnung des Rhinoceros. Keine
Suturen sind nirgends, sondern der ganze Kopf ist wie aus Metall
gegossen. Die Knochen sind glatt, ausser da, wo die beyden arcæ
der Hörner gesessen haben, ist alles rauh, u. hökericht, zum Empfang
der Nerven welche die Hörner auf der Haut gehalten haben. Die
Sehnen müssen sehr stark seyn, denn die Haut ist erstaunend dike, wie
ich in Manheim gesehen habe. die Hörner bewegen sich willkührlich auf
der Haut, sodaß man bemerkt hat, daß das hintere kleinere Horn
sehr abgenuzt war, mittelst das vor dere grössere ganz seine
Spize hatte. Es soll sie auch in der Wuth, u. im Galoppiren
an einander schlagen. Leonhardi besizt ein Horn von 2 1/2 Fuß
Höhe. Ich habe Eins von Einem Asiatischen, u. Eins von einem Afrikanischen.
In der Textur sind sie sehr verschieden. die Asiatischen haben so dichte
Fibern, daß man mit blosen Augen nicht entdeken kan,
wie sie lauffen. Die Afrikanischen aber haben die Fibern wie Haare | 2 |
parallel in der Länge neben ein ander lauffen, u. sind mit blossen Augen
sichtbar. Die Gestalt ist auch ganz verschieden.


An der hintern Arca wird man leicht auf beyden Seiten einen Einschnitt wie
ein Y sehen, das wahrscheinℓ. zur Aufnahme von Venen gedient hat.
Was die erhabne rauhe Crista vorne bedeutet, weiß ich nicht.


Hier folgt auch eine Zeichnung vom Gaumen, woraus deutlich zu sehen ist,
daß sie zu nichts taugt, indem hier alles weggebrochen ist, und
die Alveolen der Zähne auch sehr undeutlich sind.


Aus den Comment. Petropol. Tom. XIII. et XVII. kan man den Gaumen
wohl betrachten.


Mit Campers Zeichnungs Methode ists weiter nichts, als daß er so vil
als mögℓ. alle Verkürzung meidet, so zu sagen einen point de Vue
ambulant hat, den Gegenstand betrachtet, als ob er gerade vor
ihm auf der Erde liege, u. er ihn ganz übersähe, oder ob er
in der Lufft aufgehängt seye. Dadurch wird auch der viele Schatten
vermieden, u. er giebt seinem Objekt nie einen angedeuteten Grund | 3 |
worauf es ruht. In seinen Briefen ist hierüber nie etwas aus-
führliches. Von der Reise will ich von Zeit zu Zeit einberichten.
Ich hoffe es soll mir besser mit ihm gehen, als dem Hℓ. HofR. Loder.
Ich begreiffe gar wohl, wie ein solcher Mann gegen die Aufpasser
jaloux seyn kan. Sömring erhebt ihn in die Wolken, u. sagt es
gäbe keinen communikativern Menschen als ihn, sobald er Bescheidenheit
u. Treu u. Glauben sieht. Ich habe dieß auch aus meiner eignen Erfahrung.
Er ist freylich sehr positiv in seinen Urtheilen. Allein wenn jemand Recht
dazu hat, so ists wohl Er. In seinem Alter, u. nach so vielen Erfah-
rungen, würden wir andere noch schärfer drein hauen. Dieser Mensch
erhält mich allein in meinem Studio durch sein Väterliches Zureden.
Und ich kan doch nichts anders gegen ihn machen als das Metier des
Colporteur.


Ich bin seit 8 Tagen ganz trunken von dem Besiz der herrlichen Reste, | 4 |
die mir noch vor meiner Abreise zu theil worden sind


   1.) Habe ich von Heilbron erhalten einen halben Unterkieffer eines Elephanten
   mit einsizendem Bakenzahn.
   2.) von daher 2 ungeheure Bakenzahn einzeln, wovon der Eine
   ganz erhalten ist. Sie wiegen jeder gegen 20 [Pfund].
   3.) die Unter Maxille eines Jungen Elephanten von Worms, die hier
   gezeichnet ist.


Aus diesen beyden Unter-­Maxillen folgt die wichtige Bemerkung, daß die Thiere
der Vorwelt, in Jeder Maxille statt 4 der Neueren nur 2 Molares haben.
Daß es sich im OberKopf eben so verhalte, beweise ich aus dem exacten Kupfer-
stiche den ich habe, von dem Ganzen ElephantenKopf, der ehedem bey Manheim ge-
funden worden, im Kisnerischen Cabinet (s. Keysslers Reise) gewesen ist, u.
nun in Petersburg ist. Hier sind auch nicht mehr denn 2 Molares.
Ich habe das Subject aufrecht gestellt, daß man von oben hat hineinsehen können,
um die 2 merkwürdige triangulare Oefnungen A. B. zu zeigen, die
hinter dem vordern Rande des Process. coronoid. sich finden. Dadurch
entdekt man auf beyden Seiten einen herrlichen dentem serotinum, der | 5 |
oben mamillenartig gebildet ist, und sich hinten herauf zieht,
in den ganz hohlen SeitenAesten, wie das Profil durch die Punkti-
rungen angiebt. In meinem alten Unter Kieffer ist gleichfals nur
ein Dens molaris, u. hat vermöge des spatii nie mehr als einer
seyn können, auch ist die Hälffte von vorne biß hinten ganz. In den
Seiten der Aeste zeigt sich keine Spur von dente serotino bey den Alten.
Ich hatte schon lange gemuthmaßt, daß merkliche Verschiedenheiten in Ansehung
der Zähne bey beyden den Thieren der Vorwelt, u. den Jezigen obwalteten.
Allein dieser grosse Charakter war mir unbekant, weil ich noch kein
ganzes Exemplar gesehen hatte. Auch sind die Platten oben auf der ho-
rizontalen Fläche nicht in Rhomboiden getheilt, wie bey den Neueren
sondern es sind länglichte, parallellauffende Linien.


Bey F u. G. fängt der Process. coronoid. an. Die Oefunungen bey C.
D. sind auch natürlich u. nicht gebrochen. durch sie entdekt man, daß die
Aeste inwendig ganz hohl sind, aus dünnen Wänden ohne alle Diploe
bestehen.


Der Kopf des alten Thiers hat von der vorderen Spize, die ganz erhalten
ist, biß an den äussern Contour des Seiten-­Astes 17 Pariser Zoll | 6 |
Länge, u. 15. Zoll Höhe, u. es versteht sich, daß sehr Vieles oben
an den Process. Coronoid. u. Condyloid. fehlt.


Bey der Durchsuchung der GailenReiterHöhle erbitte ich mir wo
möglich eine TygerMaxille mit Dentibus bifurcatis. Meine hab
ich Campern geschenkt; u. sie gehören doch zu einem Corpore collectio.


Auf die Crania will ich acht haben. Meine Zeichnungen will ich Alle
mit dir theilen. Was wird es nicht Alles bey dem Alten zu copiren geben?
Nur muß ich mir alsdenn aufs heiligste erbitten, daß Hℓ. Lodern
nichts communizirt wird, weil diese Herren alle sich gerne des
Plagiato schuldig machen.


In den Neuen Hessischen Beyträgen findest du 2 Abh. von mir. 1.) Von
einem ungeheuren SchenkelKnochen eines Menschen in Alsfeld gefunden. 2.) ein
paar Schnizen über meine Münzen, die ich deswegen eingerükt habe, weil gerade
4 Seiten musten ausgeschnitten werden.


Ich habe neulich mit grosem Vergnügen eine Abh. von Sömring im 2ten St.
der hessischen Beyträge gesehen, vom SeheNerven. das Stük ist aber noch
nicht ausgegeben.


Den 15​ten May gehe ich ab. Biß dahin also erwarte ich noch weitere
Befehle


   Adio

    JHM.


S:  GSA 28/613 St. 1  D:  Merck BW Nr. 672  B : 1784 April 23 (WA IV 6, Nr. 1917)  A? : 1784 August 6 (WA IV 6, Nr. 1966) 

M. übersendet eine etwas ausführlichere Zeichnung des Rhinoceros und eine Zeichnung vom Gaumen. Er beschreibt die Beschaffenheit des Kopfes und des Hörneransatzes und vergleicht anhand zweier in seiner Sammlung enthaltener Exemplare das Horn des asiatischen mit dem des afrikanischen Nashorns. - Über P. Campers Zeichenmethode und über dessen Persönlichkeit. Erwähnung J. C. Loders und S. T. Soemmerrings. - Über einige osteologische Neuerwerbungen, mit deren Hilfe M. beweisen könne, daß die Thiere der Vorwelt, in Jeder Maxille [...] nur 2 Molares haben; ausführliche Beweisführung anhand mehrerer Zeichnungen. - M. wolle sich aus der Gailenreuther Höhle (bei Muggendorf) eine Tyger Maxille erbitten; seine habe er Camper geschenkt. Auf die Crania will ich acht haben. Meine Zeichnungen will ich Alle mit dir theilen. Nur müsse er aufs heiligste bitten, daß Loder nichts communicirt werde. - Hinweis auf zwei numismatische bzw. osteologische Aufsätze von M. und einen Beitrag Soemmerrings von Sehe Nerven in den "Hessischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit und Kunst".


? Anlage(n): Vier osteologische Zeichnungen.
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 Hier bey folgt eine etwas ausführlichere Zeichnung des Rhinoceros. Keine Suturen sind nirgends, sondern der ganze Kopf ist wie aus Metall gegossen. Die Knochen sind glatt, ausser da, wo die beyden arcæ der Hörner gesessen haben, ist alles rauh, u. hökericht, zum Empfang der Nerven welche die Hörner auf der Haut gehalten haben. Die Sehnen müssen sehr stark seyn, denn die Haut ist erstaunend dike, wie ich in Manheim gesehen habe. die Hörner bewegen sich willkührlich auf der Haut, sodaß man bemerkt hat, daß das hintere kleinere Horn sehr abgenuzt war, mittelst das vor dere grössere ganz seine Spize hatte. Es soll sie auch in der Wuth, u. im Galoppiren an einander schlagen. Leonhardi besizt ein Horn von 2 1/2 Fuß Höhe. Ich habe Eins von Einem Asiatischen, u. Eins von einem Afrikanischen. In der Textur sind sie sehr verschieden. die Asiatischen haben so dichte Fibern, daß man mit blosen Augen nicht entdeken kan, wie sie lauffen. Die Afrikanischen aber haben die Fibern wie Haare| 2 | parallel in der Länge neben ein ander lauffen, u. sind mit blossen Augen sichtbar. Die Gestalt ist auch ganz verschieden.

 An der hintern Arca wird man leicht auf beyden Seiten einen Einschnitt wie ein Y sehen, das wahrscheinℓ. zur Aufnahme von Venen gedient hat. Was die erhabne rauhe Crista vorne bedeutet, weiß ich nicht.

 Hier folgt auch eine Zeichnung vom Gaumen, woraus deutlich zu sehen ist, daß sie zu nichts taugt, indem hier alles weggebrochen ist, und die Alveolen der Zähne auch sehr undeutlich sind.

 Aus den Comment. Petropol. Tom. XIII. et XVII. kan man den Gaumen wohl betrachten.

 Mit Campers Zeichnungs Methode ists weiter nichts, als daß er so vil als mögℓ. alle Verkürzung meidet, so zu sagen einen point de Vue ambulant hat, den Gegenstand betrachtet, als ob er gerade vor ihm auf der Erde liege, u. er ihn ganz übersähe, oder ob er in der Lufft aufgehängt seye. Dadurch wird auch der viele Schatten vermieden, u. er giebt seinem Objekt nie einen angedeuteten Grund| 3 | worauf es ruht. In seinen Briefen ist hierüber nie etwas ausführliches. Von der Reise will ich von Zeit zu Zeit einberichten. Ich hoffe es soll mir besser mit ihm gehen, als dem Hℓ. HofR. Loder. Ich begreiffe gar wohl, wie ein solcher Mann gegen die Aufpasser jaloux seyn kan. Sömring erhebt ihn in die Wolken, u. sagt es gäbe keinen communikativern Menschen als ihn, sobald er Bescheidenheit u. Treu u. Glauben sieht. Ich habe dieß auch aus meiner eignen Erfahrung. Er ist freylich sehr positiv in seinen Urtheilen. Allein wenn jemand Recht dazu hat, so ists wohl Er. In seinem Alter, u. nach so vielen Erfahrungen, würden wir andere noch schärfer drein hauen. Dieser Mensch erhält mich allein in meinem Studio durch sein Väterliches Zureden. Und ich kan doch nichts anders gegen ihn machen als das Metier des Colporteur.

 Ich bin seit 8 Tagen ganz trunken von dem Besiz der herrlichen Reste,| 4 | die mir noch vor meiner Abreise zu theil worden sind

  1.) Habe ich von Heilbron erhalten einen halben Unterkieffer eines Elephanten  mit einsizendem Bakenzahn.  2.) von daher 2 ungeheure Bakenzahn einzeln, wovon der Eine  ganz erhalten ist. Sie wiegen jeder gegen 20 [Pfund].  3.) die Unter Maxille eines Jungen Elephanten von Worms, die hier  gezeichnet ist.

 Aus diesen beyden Unter-­Maxillen folgt die wichtige Bemerkung, daß die Thiere der Vorwelt, in Jeder Maxille statt 4 der Neueren nur 2 Molares haben. Daß es sich im OberKopf eben so verhalte, beweise ich aus dem exacten Kupferstiche den ich habe, von dem Ganzen ElephantenKopf, der ehedem bey Manheim gefunden worden, im Kisnerischen Cabinet (s. Keysslers Reise) gewesen ist, u. nun in Petersburg ist. Hier sind auch nicht mehr denn 2 Molares. Ich habe das Subject aufrecht gestellt, daß man von oben hat hineinsehen können, um die 2 merkwürdige triangulare Oefnungen A. B. zu zeigen, die hinter dem vordern Rande des Process. coronoid. sich finden. Dadurch entdekt man auf beyden Seiten einen herrlichen dentem serotinum, der| 5 | oben mamillenartig gebildet ist, und sich hinten herauf zieht, in den ganz hohlen SeitenAesten, wie das Profil durch die Punktirungen angiebt. In meinem alten Unter Kieffer ist gleichfals nur ein Dens molaris, u. hat vermöge des spatii nie mehr als einer seyn können, auch ist die Hälffte von vorne biß hinten ganz. In den Seiten der Aeste zeigt sich keine Spur von dente serotino bey den Alten. Ich hatte schon lange gemuthmaßt, daß merkliche Verschiedenheiten in Ansehung der Zähne bey beyden den Thieren der Vorwelt, u. den Jezigen obwalteten. Allein dieser grosse Charakter war mir unbekant, weil ich noch kein ganzes Exemplar gesehen hatte. Auch sind die Platten oben auf der horizontalen Fläche nicht in Rhomboiden getheilt, wie bey den Neueren sondern es sind länglichte, parallellauffende Linien.

 Bey F u. G. fängt der Process. coronoid. an. Die Oefunungen bey C. D. sind auch natürlich u. nicht gebrochen. durch sie entdekt man, daß die Aeste inwendig ganz hohl sind, aus dünnen Wänden ohne alle Diploe bestehen.

 Der Kopf des alten Thiers hat von der vorderen Spize, die ganz erhalten ist, biß an den äussern Contour des Seiten-­Astes 17 Pariser Zoll| 6 | Länge, u. 15. Zoll Höhe, u. es versteht sich, daß sehr Vieles oben an den Process. Coronoid. u. Condyloid. fehlt.

 Bey der Durchsuchung der GailenReiterHöhle erbitte ich mir wo möglich eine TygerMaxille mit Dentibus bifurcatis. Meine hab ich Campern geschenkt; u. sie gehören doch zu einem Corpore collectio.

 Auf die Crania will ich acht haben. Meine Zeichnungen will ich Alle mit dir theilen. Was wird es nicht Alles bey dem Alten zu copiren geben? Nur muß ich mir alsdenn aufs heiligste erbitten, daß Hℓ. Lodern nichts communizirt wird, weil diese Herren alle sich gerne des Plagiato schuldig machen.

 In den Neuen Hessischen Beyträgen findest du 2 Abh. von mir. 1.) Von einem ungeheuren SchenkelKnochen eines Menschen in Alsfeld gefunden. 2.) ein paar Schnizen über meine Münzen, die ich deswegen eingerükt habe, weil gerade 4 Seiten musten ausgeschnitten werden.

 Ich habe neulich mit grosem Vergnügen eine Abh. von Sömring im 2ten St. der hessischen Beyträge gesehen, vom SeheNerven. das Stük ist aber noch nicht ausgegeben.

 Den 15​ten May gehe ich ab. Biß dahin also erwarte ich noch weitere Befehle

 Adio   JHM.

 

 
 

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Druck des Regests: RA 1, Nr. 186.

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