Goethes Briefe: GB 2, Nr. 98
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , zweite Hälfte? Februar 1774〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉

〈Abschrift〉


Ich habe über Ihre briefe gesagt nicht was ich wolte, sondern was ich mußte, und so wars vom Herzen zum Herzen, und da geht kein Wort verlohren, denn eigentlich sinds keine Worte. Sie fragen mich ob Sie meiner Schwester die Iris empfelen sollen? was sagt Ihnen Ihr Gewissen? und wenn es ja sagte warum fragen Sie mich? ich hab ihr meine Meinung geschrieben, mich dünkte sie solle sich haus lassen, solle ihre Freunde nicht in Contribution sezzen um eines Fremden willen, mit dem sie nie etwas gemein gehabt hat! noch haben kann, und dessen Keckheit unverzeihlich ist mit der er zu seiner Geldschneyderey die Spediteurs zusammen bettelt, und übrigens möge sie nun thun wie's ihr vorkommt.

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Das hab ich geschrieben, und nun thun Sie was Sie können und meine Schwester mag thun was sie will. mir ist die Kleinheit des Menschen wieder bey der Gelegenheit recht merkwürdig worden, und mir gehts wie dem Dechant der die Sotisen seiner wiedersacher, wie eine Perlen Schnur um den Hals trägt. – Ich wünsch Jak. viel halbe Pistolen, und in dieser Rücksicht hab ich ihm das andre verziehen, daß die Kerls mit ihrem Nahmen Wucher treiben ist recht gut, nur mich und die meinigen sollen sie ungeschoren lassen da sie auch, dünckt mich, überzeugt sein könnten, daß man mit ihnen nichts zu thun haben will.


Da ich fertig binn liebe Mama, fallt mir ein daß ich Ungerecht gegen die Jacobis binn, hab ich mich denn nicht auch bey ihren Weibern Tanten und Schwestern eingenistet, daß giebt ihnen nach der strengsten Compensation ein recht auf meine Cornelie. Oho!

Meine Eltern und Fräulein von Klettenb. grüsen Sie herzlich, von Ihrer Max kann ich nicht lassen solang ich lebe, Und ich werde sie immer lieben dürfen

Anhaltspunkt für die Datierung ist die Werbung für Johann Georg Jacobis „Iris“. Die Zeitschrift wurde im März-Heft des „Teutschen Merkur“ angezeigt: „Der Herr Canonicus Jacobi in Halberstadt hat, in einem kleinen Programm, eine Art von weiblichem Merkur, unter dem Nahmen ​Iris, angekündiget 〈…〉. Der Preiß 〈für ein Vierteljahr〉 ist eine halbe Pistole 〈…〉.“ (5. Bd. 3. Stück. März 1774, S. 367; Anzeige abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen.) Goethes Brief an Johann Christian Kestner aus der zweiten Hälfte des Februar 1774 ( Nr 96 ), der auf einen am 13. Februar erhaltenen Bezugsbrief antwortet (vgl. 74,25–26 ), spricht dafür, dass dieses „Programm“ bereits im Februar in Jacobis Freundeskreis kursierte, denn in dem Brief wird ebenfalls von der Anzeige der „Iris“ gesprochen und Charlotte Kestner als Protecktrice ( 75,20 ) der Jacobis bezeichnet. Den im vorliegenden Brief genannten Preis von einer halben Pistole (vgl. 77,17 ) entnahm Goethe gleichfalls diesem Ankündigungs-„Programm“. Es ist zu vermuten, dass der vorliegende Brief ebenso wie Nr 96 aus der zweiten Hälfte des Februar 1774 stammt. Möglicherweise liegt das Datum näher an der Monatsmitte als am Monatsende. Denn Goethe beantwortet Sophie La Roches nicht überlieferte Erwiderung auf seinen Brief von Mitte Februar ( Nr 95 ), in dem er vorsichtige Kritik an deren „Freundschaftlichen Frauenzimmer-Briefen“ geübt hatte; vermutlich wird Sophie La Roches Erwiderung ebenso rasch erfolgt sein wie Goethes Antwort im vorliegenden Brief.

H: Verbleib unbekannt.

h​1: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano vom 2. oder 3. Juni 1806 (= h​a; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​2: The Pierpont Morgan Library, New York, Misc. Heineman, H Goethe-Bettina, MSS 1. – Abschrift von Bettine Brentano (= h​b; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​3: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 10721–10732. – Abschrift von Johann Friedrich (Fritz) Schlosser (= h​c; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

h​4: GSA Weimar, Sign.: 29/294,III. – Abschrift von fremder Hd (= h​d; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 ).

E: Frese (1877), 142 f., Nr 4 (nach h​3).

WA IV 2 (1887), 100–102, Nr 165 (nach Goethe-La Roche, 17 f. [dort vermutlich nach einer nicht überlieferten Abschrift von h​3]).

Textgrundlage: h​1. – Vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47 .

briefe] Briefe ​h​2 wolte,] wollte ​h​2 mußte, und] mußte Und ​h​2 verlohren,] verlohren ​h​2 Worte.] Worte ​Absatz h​2       empfelen] empfehlen ​h​2 dünkte] dünckte ​h​2 sezzen] sezzen, ​h​2 hat!] hat, ​h​2 ist] ist, ​h​2 zusammen] zu sammen ​h​2 wie's] wies ​h​2 vorkommt.] ​Doppelstriche fehlen h​2 können] können, ​h​2 will.] will, ​h​2 Kleinheit] kleinheit ​h​2 wiedersacher,] wiedersacher ​h​2 Perlen Schnur um den] Perlenschnur am ​h​2 trägt. –] trägt. – – ​Absatz h​2       wünsch Jak.] wünsche Jacoby ​h​2 verziehen,] verziehen; ​h​2       lassen] lassen, ​h​2 auch,] auch ​h​2 mich,] mich ​h​2       sein könnten,] seyn könnten ​h​2 will.] will ​h​2 binn] bin ​h​2 Mama,] Mama ​h​2 fallt] fällt ​h​2 Ungerecht] ungerecht ​h​2 eingenistet] eingenißtelt ​h​2 daß] das ​h​2       Compensation] Compensation ​h​2 recht] Recht ​h​2 Cornelie] Cornelie ​h​2 von] v. ​h​2 grüsen] grüssen ​h​2 Und] und ​h​2

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Sophie La Roches (vgl. 77,3 ). – Der Antwortbrief, den Goethe vermutlich mit Nr 99 erwiderte, ist ebenfalls nicht überliefert.

Ihre briefe] Bruchstücke aus Sophie La Roches „Freundschaftlichen Frauenzimmer-Briefen“ (vgl. zu 74,1 ).

Schwester] Cornelia Schlosser geb. Goethe.

Iris] Die Zeitschrift „Iris“ wurde von Johann Georg Jacobi herausgegeben und von Wilhelm Heinse redigiert. Vgl. die Anzeige im März-Heft von Wielands „Teutschem Merkur“ von 1774, abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen. – Jacobi und sein Bruder Friedrich Heinrich waren mit Sophie La Roche befreundet.

empfelen] Gemeint ist: zur Subskription (empfehlen).

ich hab ihr meine Meinung geschrieben] Goethes Brief an seine Schwester Cornelia ( EB 24 ) ist nicht überliefert.

haus] Heraus; sich haus/heraus lassen: „sich heraushalten“ (GWb 4, 795).

in Contribution sezzen] Hier in übertragenem Sinn: ,zum Kauf der „Iris“ zwingen‘, eigentlich: in Kriegszeiten eine Stadt oder ein Land zu Abgaben und Steuern zwingen (vgl. Adelung 1, 1349).

Keckheit] Möglicherweise hatte sich Johann Georg Jacobi direkt auch an Cornelia gewandt, worauf diese bei Sophie La Roche Rat gesucht hatte.

Geldschneyderey] Vgl. zu 75,14 .

Spediteurs] Französierende Personalbildung zu ‚spedieren‘ (befördern, versenden) (vgl. Deutsches Fremdwörterbuch 4, 313).

wie's ihr vorkommt] Gemeint ist: ‚wie es ihr als richtig erscheint‘.

Dechant] Gemeint ist der katholische Geistliche Damian Friedrich Dumeiz (vgl. die erste Erläuterung zu 71,20 ); er war zur damaligen Zeit Anfeindungen aus den eigenen Reihen ausgesetzt: „Nahm man ihm in Frankfurt vielleicht übel, daß in seinem Umgang Protestanten eine so große Rolle spielten, obwohl die Katholiken in Frankfurt von den die Stadt beherrschenden Lutheranern keineswegs freundlich und entgegenkommend behandelt wurden?“ (Bach, Goethes „Dechant Dumeiz“, 144.)

Sotisen] Franz. sottise: Flegelei, Grobheit.

Jak.] Jacobi (vgl. Überlieferungsvarianten).

Pistolen] Goldmünzen im Wert von etwa 5 Reichstalern. Die „Iris“ kostete eine halbe Pistole (vgl. die Anzeige, abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen).

Weibern Tanten und Schwestern] Gemeint sind Elisabeth Jacobi, Frau von Friedrich Heinrich Jacobi, Johanna Fahlmer, Stieftante der Brüder Jacobi, und Charlotte Jacobi, Stiefschwester der Brüder Jacobi; mit allen diesen Frauen stand Goethe in freundschaftlicher Beziehung.

Fräulein von Klettenb.] Susanna von Klettenberg. – Die Adressatin hatte sie offenbar im Januar 1774 in Frankfurt kennen gelernt. Diese berichtet darüber in einem Brief an Carl von Moser vom 21. Januar 1774: „Madame la Roche 〈…〉 war Gestern auch von der Gesellschafft, ihre Tochter, ein schönes, sanfftes Kind hat einen Brentano von hier einen Witwer mit 5 Kinder geheirathet – der Mutter fehlt das Christenthum – wann dieses da wär, so würde sie eine große Frau seyn, ​so, komen mir ihre begriffe, Empfindungen – und außdrücke ein wenig durch ein ander geworffen vor.“ (Funck, 258.)

Max] Maximiliane Brentano, Sophie La Roches Tochter.

Anzeige der „Iris“ im März-Heft von Wielands „Teutschem Merkur“ von 1774 (5. Bd. 3. Stück, S. 367):


Der Herr Canonicus Jacobi in Halberstadt hat, in einem kleinen Programm, eine Art von weiblichem Merkur, unter dem Nahmen ​Iris, angekündiget; ein Journal, welches er dem schönen Geschlechte unmittelbar widmet, und das ganz dazu eingerichtet seyn wird, die mannichfaltigen Bedürfnisse des Geistes und Herzens teutscher Leserinnen zu befriedigen. Der Plan hat unsern vollständigsten Beyfall, und was kann man nicht von der Ausführung eines Werkes erwarten, woran der Genie und das Herz eines so liebenswürdigen Schriftstellers zugleich arbeiten werden? Von diesem periodischen Werke soll alle vierteljahre ein Bändchen von funfzehn Bogen, auf Schreibpapier, herauskommen. Der Preiß ist eine halbe Pistole, welche nächstkünftigen December bey Empfang des ​ersten Theils vorausbezahlt wird. Hier in Weimar ist der Hofrath Wieland zu Annehmung der Subscribenten bevollmächtiget.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 98 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR098_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 77, Nr 98 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 212–215, Nr 98 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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