Goethes Briefe: GB 2, Nr. 86
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. , 2.? Januar 1774. Sonntag?〉 → 〈Düsseldorf〉


Heut war Eis Hochzeit tag! Es musste gehn, es krachte, und bog sich, und quoll, und finaliter brachs, und der Hℓ. Ritter pattelten sich heraus wie eine Sau.

Hier ist eine Romanze.

Und Betty meinen Herzlein Grus, und Lolo inliegendes

Dass allen wohlgehe

sint mirs wohl ist. Amen.

Und auch weiter pp

Wir haben gestern gessen Wildprettsbraten und Geleepastete und viel Wein getruncken und zwischen Houries gesessen biss ein Uhr Nachts, und uns geweidet mit ​Löffeln / Vom zeitigen abermaligen Herrn Burgemeister Reus, wo ​ich scharlach mit Gold, das Neue Jahr verkündigt hatte – Wohin! – Kutscher an Rhein. Ich die Treppe hinauf, wo der drat noch in der Ecke hing. – Klingl ich! – Kommt die kleine Köchin! kennst du mich ​ 1 noch? – Ey lieber Gott. – der Gattern ward eröffnet, ich fasse sie freundlich beym Kopf und verzaus ihr die Haube Und drinnen ist der Hℓ. G. Scho. p1 p2 p3 p4 p5 Gut! Ich Präsentir mich. Die Mama schenckt Caffee und sieht mich vor ihren eignen

Ermeln nicht biss ich vor ihr stehe – Und dann

  1. mi|c|h​ ↑

Goethes Mitteilung, gestern ( 68,6 ) habe er beim Empfang des Bürgermeisters Johann Martin Reuß das Neue Jahr verkündigt ( 68,9–10 ), bezieht sich wahrscheinlich auf den 1. Januar 1774. Demnach stammt der vorliegende Brief vom 2. Januar 1774 (so auch DjG​3 4, 321). In diesem Fall ist der Begriff Hochzeit ( 66,19 ) in seiner allgemeineren Bedeutung zu verstehen (vgl. zu 66,19 ). Nicht auszuschließen ist allerdings, dass auf die Hochzeit von Maximiliane La Roche angespielt wird, die am 9. Januar 1774 stattfand und die Goethe im Brief an Elisabeth Jacobi vom 31. Dezember ( Nr 83 ) nach Düsseldorf gemeldet hatte. Der Neujahrsbesuch beim Bürgermeister mit anschließendem Festessen hätte in diesem Fall am 8. Januar stattgefunden (Heinrich Düntzer: Goethes Leben. Leipzig 1880, S. 199). Nicht plausibel erscheint dagegen, den Brief ohne weitere Begründung auf Ende Januar 1774 zu datieren (vgl. Goethe-Fahlmer, 47; WA IV 2, 141).

H: Privatbesitz, Deutschland. – 1 Bl. 11,3 × 18,6 cm, 2 S. beschr., egh. Tinte; S. 1 oben links von Johanna Fahlmers Hd, Tinte: „N ​r​o  8“ (vgl. die erste Erläuterung zu 46,5 ); unter dem Wort ​Löffeln ( 68,8 ) am Ende von S. 1 ein x- oder ×-artiges Zeichen, dessen Bedeutung nicht ermittelt wurde. – Faksimile der 2. Seite: Abb. 1 (S. 67).

E: Goethe-Fahlmer (1875), 47–49, Nr 9.

WA IV 2 (1887), 141 f., Nr 202 (nach E; Textkorrektur nach H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 208).

1) Manuskript einer nicht bekannten Romanze ( 68,1 ).

2) Vielleicht Manuskript weiterer Romanzen (vgl. die vierte Erläuterung zu 68,2 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Eis Hochzeit tag] Wie der Kontext nahelegt, ist ‚Hochzeit‘ hier in der älteren, allgemeinen Bedeutung gebraucht: eine „jede hohe, d. i. feyerliche Zeit, ein Fest“ (Adelung 2, 1229). Gemeint wäre demnach: ‚Ein schöner Festtag auf dem Eis‘. Vgl. jedoch Datierung.

finaliter] Lat.: schließlich.

der Hℓ. Ritter] Wohl Goethe selbst.

Romanze] Es könnte eine der elsässischen Romanzen gemeint sein (vgl. zu 55,21–22 ).

Betty] Elisabeth Jacobi.

Herzlein] Vgl. die erste Erläuterung zu 56,7 .

Lolo] Charlotte Jacobi.

inliegendes] Genaues ist nicht bekannt; doch berichtete Charlotte Jacobi in einem Brief an ihren Bruder Johann Georg vom 25. Januar 1774: „Ferner dient zur beliebigen Nachricht, daß ich einige Romanzen von Göthe für den herum um um von Jung, den ich ihm zuschickte, bekommen habe. Die Abschrift eines Liedchens davon, welches uns allen recht wohl gefallen hat, füg' ich hier bey, die übrigen aber werden auf deine Hierhinkunft verwahrt.“ (Julius Heyderhoff: Die Hausgeister von Pempelfort. Familien- und Freundschaftsbriefe des Jacobihauses. In: Goethe und das Rheinland. Düsseldorf 1932, S. 214 [unter dem, wie sich aus dem Inhalt des Briefes ergibt, falschen Datum des 25. Januar 1773].) Bei dem Lied handelte es sich um „Das Veilchen“, das in das Singspiel „Erwin und Elmire“ aufgenommen wurde (vgl. DjG​3 5, 44 f.).

sint] Veraltete mhd. Konjunktion: seit, seitdem; da, weil.

Houries] Nach muslimischem Glauben werden die Seligen im Paradies von Huris, Jungfrauen von unvergänglicher Schönheit, erwartet. – Mit dem Islam hatte sich Goethe befasst, als er im Herbst 1771 Auszüge aus dem Koran übersetzte (vgl. DjG​3 3, 125–127) und etwa von Ende 1772 bis Frühjahr 1773 an einem „Mahomet“-Drama arbeitete (vgl. das Fragment in DjG​3 3, 128–133).

​Löffeln] Hier wohl wie in der Studentensprache in der Bedeutung „liebeln, buhlen“ (Grimm 6, 1125).

zeitigen] Zeitig (im oberdeutschen Sprachraum): „gegenwärtig“ (Adelung 4, 1677), derzeitig.

abermaligen Herrn Burgemeister Reus] Johann Martin Reuß, „Handelsmann an der Brücke, 1761 Senator, 1772 und 1774 jüngerer Bürgermeister“ (Dietz, Bürgerbuch, 72); er hatte am 1. Januar 1774 zum zweiten Mal das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Frankfurt angetreten.

scharlach mit Gold] Goethe war in festlichem Anzug erschienen: im mit Goldtressen besetzten Scharlachrock. Vgl. auch 163,17–18 .

das Neue Jahr verkündigt] Bei einem offiziellen Neujahrsempfang.

Wohin!] Hier beginnt die Schilderung eines imaginären Besuchs bei Johanna Fahlmer und der Familie Jacobi in Düsseldorf; ähnliche Reise- und Besuchsphantasien finden sich z. B. auch in Goethes Briefen an die Familie Schönkopf vom 1. bis 3. Oktober 1768 (GB 1 I, Nr 46 ) und an Augusta zu Stolberg vom 14. bis 19. September 1775 ( Nr 263 ). In seinem Brief an Elisabeth Jacobi vom 21. Juli 1774 ( Nr 130 ) beschreibt Goethe später den wirklichen Besuch.

Köchin] Bisher wurde an dieser Stelle stets „Kähde“ (Käthe) gelesen, und zwar mit Bezug auf Elisabeth Jacobis Bedienstete Cathrine (vgl. 103,19–20 ), die Goethe möglicherweise bei Elisabeth Jacobis Besuch in Frankfurt (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 53 ) kennen gelernt hatte. Der Handschriftenbefund ließe diese Lesung zu, wenn am Wortende nicht eher ein in als ein de erkennbar wäre. Auch bei der Köchin könnte es sich im Übrigen um Cathrine gehandelt haben.

der Gattern] Mundartlich für ‚das Gatter‘ (vgl. GWb 3, 1125).

Und drinnen ist 〈…〉 p1p2p3p4p5] Möglicherweise sind Personen gemeint, die Goethe nach seinem Eintritt in Jacobis Haus vorfindet: Hℓ. G. für ‚Herr Großvater‘ oder ‚Herr Georg‘, Elisabeth Jacobis Sohn? Scho (vielleicht ‚Jean‘ oder ‚Schorsch‘) für Johann, den zweiten Sohn, oder Georg? Wenn Jacobis Kinder gemeint sind, könnte die Reihe der fünf p mit den Zahlen darüber eine Anspielung auf den zu erwartenden Kindersegen der Familie sein. Vielleicht ist auch die Abkürzung Hℓ. G. als ‚Herr Goethe‘ zu lesen.

Die Mama] Elisabeth Jacobi.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 86 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR086_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 66–68, Nr 86 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 179–181, Nr 86 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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