BuG: BuG I, A 174
Frankfurt Aug./Sept. 1771

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 91)

Frankfurt Aug./Sept. 1771

Gleich zu Anfang brachte ich meine Mutter in den Fall, daß sie zwischen meines Vaters rechtlichem Ordnungsgeist und meiner vielfachen Excentricität die Vorfälle in ein gewisses Mittel zu richten und zu schlichten beschäftigt sein mußte. In Mainz hatte mir ein harfespielender Knabe so wohl gefallen, daß ich ihn, weil die Messe gerade vor der Thür war, nach Frankfurt einlud, ihm Wohnung zu geben und ihn zu befördern versprach ... Meine Mutter, klärer als ich, sah wohl voraus, wie sonderbar es meinem Vater vorkommen müßte, wenn ein musikalischer Meßläufer, von einem so ansehnlichen Hause her zu Gasthöfen und Schenken ginge, sein Brod zu verdienen; daher sorgte sie in der Nachbarschaft für Herberge und Kost desselben; ich empfahl ihn meinen Freunden, und so befand sich das Kind nicht übel. Nach mehreren Jahren sah ich ihn wieder, wo er größer und tölpischer geworden war, ohne in seiner Kunst viel zugenommen zu haben.

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 93)

Frankfurt Aug./Sept. 1771

Von ältern Freunden und Bekannten fand ich an Horn den unveränderlich treuen Freund und heiteren Gesellschafter; mit Riese ward ich auch vertraut, der meinen Scharfsinn zu üben und zu prüfen nicht verfehlte, indem er, durch anhaltenden Widerspruch, einem dogmatischen Enthusiasmus, in welchen ich nur gar zu gern verfiel, Zweifel und Verneinung entgegensetzte. Andere traten nach und nach zu diesem Kreis, ... jedoch standen unter den Personen, die mir den neuen Aufenthalt in meiner Vaterstadt angenehm und fruchtbar machten, die Gebrüder Schlosser allerdings oben an. Der ältere, Hieronymus, ein gründlicher und eleganter Rechtsgelehrter, hatte als Sachwalter ein allgemeines Vertrauen. Unter seinen Büchern und Acten, in Zimmern wo die größte Ordnung herrschte, war sein liebster Aufenthalt; dort hab’ ich ihn niemals anders als heiter und theilnehmend gefunden. Auch in größerer Gesellschaft erwies er sich angenehm und unterhaltend: denn sein Geist war, durch eine ausgebreitete Lectüre, mit allem Schönen der Vorwelt geziert. Er verschmähte nicht, bei Gelegenheit, durch geistreiche lateinische Gedichte die geselligen Freuden zu vermehren ... Öfters berieth ich mich mit ihm über meinen einzuleitenden Lebens- und Geschäftsgang ...

Näher an Alter stand mir sein Bruder Georg, der sich von Treptow, aus den Diensten des Herzogs Eugen von Würtemberg, wieder zurückgezogen hatte. An Weltkenntniß, an praktischem Geschick vorgeschritten, war er in seiner Übersicht der deutschen und auswärtigen Literatur auch nicht zurück geblieben. Er schrieb, wie vormals, gern in allen Sprachen, regte mich aber dadurch nicht weiter an, da ich mich dem Deutschen ausschließlich widmend, die übrigen nur in so weit cultivirte, daß ich die besten Autoren im Original einigermaßen zu lesen im Stande war.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0174 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0174.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 190 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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