BuG: BuG I, A 168
Straßburg vor 9. 8. 1771

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 82)

Straßburg vor 9. 8. 1771

Noch ein Zwischenereigniß nahm mir die letzten Tage weg. Ich befand mich nämlich in ansehnlicher Gesellschaft auf einem Landhause, von wo man die Vorderseite des Münsters und den darüber emporsteigenden Thurm gar herrlich sehen konnte. Es ist Schade, sagte jemand, daß das Ganze nicht fertig geworden und daß wir nur den einen Thurm haben. Ich versetzte dagegen: es ist mir eben so leid, diesen einen Thurm nicht ganz ausgeführt zu sehn; denn die vier Schnecken setzen viel zu stumpf ab, es hätten darauf noch vier leichte Thurmspitzen gesollt, so wie eine höhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz steht.

Als ich diese Behauptung mit gewöhnlicher Lebhaftigkeit aussprach, redete mich ein kleiner muntrer Mann [J. A. Silbermann] an und fragte: wer hat Ihnen das gesagt? – Der Thurm selbst, versetzte ich. Ich habe ihn so lange und aufmerksam betrachtet, und ihm so viel Neigung erwiesen, daß er sich zuletzt entschloß, mir dieses offenbare Geheimniß zu gestehn. – Er hat Sie nicht mit Unwahrheit berichtet, versetzte jener; ich kann es am besten wissen, denn ich bin der Schaffner, der über die Baulichkeiten gesetzt ist. Wir haben in unserm Archiv noch die Originalrisse, welche dasselbe besagen, und die ich Ihnen zeigen kann. – Wegen meiner nahen Abreise drang ich auf Beschleunigung dieser Gefälligkeit. Er ließ mich die unschätzbaren Rollen sehn; ich zeichnete geschwind die in der Ausführung fehlenden Spitzen durch ölgetränktes Papier und bedauerte, nicht früher von diesem Schatz unterrichtet gewesen zu sein.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0168 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0168.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 183 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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