BuG: BuG I, A 140
Straßburg Apr. 1770

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 231)

Straßburg Apr. 1770

Ich bezog ein kleines aber wohlgelegenes und anmuthiges Quartier an der Sommerseite des Fischmarkts ... Dann gab ich meine Empfehlungsschreiben ab, und fand unter meinen Gönnern einen Handelsmann, der mit seiner Familie jenen frommen, mir genugsam bekannten Gesinnungen ergeben war, ob er sich gleich, was den äußeren Gottesdienst betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabei ein verständiger Mann und keineswegs kopfhängerisch in seinem Thun und Lassen. Die Tischgesellschaft, die man mir und der man mich empfahl, war sehr angenehm und unterhaltend. Ein paar alte Jungfrauen hatten diese Pension schon lange mit Ordnung und gutem Erfolg geführt; es konnten ungefähr zehen Personen sein, ältere und jüngere. Von diesen letztern ist mir am gegenwärtigsten einer, genannt Meyer, von Lindau gebürtig ... Sein Gedächtniß war unglaublich, die Aufmerksamkeit in den Collegien kostete ihm nichts; er behielt alles was er hörte und war geistreich genug, an allem einiges Interesse zu finden, und um so leichter, da er Medicin studirte. Alle Eindrücke blieben ihm lebhaft, und sein Muthwille in Wiederholung der Collegien und Nachäffen der Professoren ging manchmal so weit, daß wenn er drei verschiedene Stunden des Morgens gehört hatte, er Mittags bei Tische paragraphenweis, ja manchmal noch abgebrochener, die Professoren mit einander abwechseln ließ: welche buntschäckige Vorlesung uns oft unterhielt, oft aber auch beschwerlich fiel.

Die Übrigen waren mehr oder weniger feine, gesetzte, ernsthafte Leute. Ein pensionirter Ludwigsritter [Oberst Frhr. v. Cronhjelm?] befand sich unter denselben; doch waren Studirende die Überzahl, alle wirklich gut und wohlgesinnt, nur mußten sie ihr gewöhnliches Weindeputat nicht überschreiten. Daß dieses nicht leicht geschah, war die Sorge unseres Präsidenten, eines Doctor Salzmann ...

Mit diesem Manne beredete ich meinen Vorsatz, mich hier in Straßburg der Rechtswissenschaft ferner zu befleißigen, um bald möglichst promoviren zu können. Da er von allem genau unterrichtet war, so befragte ich ihn über die Collegia, die ich zu hören hätte, und was er allenfalls von der Sache denke? Darauf erwiderte er mir, daß es sich in Straßburg nicht etwa wie auf deutschen Akademien verhalte, wo man wohl Juristen im weiten und gelehrten Sinne zu bilden suche. Hier sei alles, dem Verhältniß gegen Frankreich gemäß, eigentlich auf das Praktische gerichtet und nach dem Sinne der Franzosen eingeleitet, welche gern bei dem Gegebnen verharren. Gewisse allgemeine Grundsätze, gewisse Vorkenntnisse suche man einem jeden beizubringen, man fasse sich so kurz wie möglich und überliefere nur das Nothwendigste. Er machte mich darauf mit einem Manne bekannt, zu dem man, als Repetenten, ein großes Vertrauen hegte; welches dieser sich auch bei mir sehr bald zu erwerben wußte. Ich fing an mit ihm zur Einleitung über Gegenstände der Rechtswissenschaft zu sprechen, und er wunderte sich nicht wenig über mein Schwadroniren: denn mehr als ich in meiner bisherigen Darstellung aufzuführen Gelegenheit nahm, hatte ich bei meinem Aufenthalte in Leipzig an Einsicht in die Rechtserfordernisse gewonnen ...

Mein Repetent, nachdem er mit meinem Umhervagiren im Discurse einige Zeit Geduld gehabt, machte mir zuletzt begreiflich, daß ich vor allen Dingen meine nächste Absicht im Auge behalten müsse, die nämlich, mich examiniren zu lassen, zu promoviren und alsdann allenfalls in die Praxis überzugehen. Um bei dem Ersten stehen zu bleiben, sagte er, so wird die Sache keineswegs im Weiten gesucht. Es wird nicht nachgefragt, wie und wo ein Gesetz entsprungen, was die innere oder äußere Veranlassung dazu gegeben; man untersucht nicht, wie es sich durch Zeit und Gewohnheit abgeändert, so wenig als in wiefern es sich durch falsche Auslegung oder verkehrten Gerichtsbrauch vielleicht gar umgewendet. In solchen Forschungen bringen gelehrte Männer ganz eigens ihr Leben zu; wir aber fragen nach dem was gegenwärtig besteht, dieß prägen wir unserm Gedächtniß fest ein, daß es uns stets gegenwärtig sei, wenn wir uns dessen zu Nutz und Schutz unsrer Clienten bedienen wollen. So statten wir unsre jungen Leute für’s nächste Leben aus, und das Weitere findet sich nach Verhältniß ihrer Talente und ihrer Thätigkeit. Er übergab mir hierauf seine Hefte, welche in Fragen und Antworten geschrieben waren und woraus ich mich sogleich ziemlich konnte examiniren lassen, weil Hopps kleiner juristischer Katechismus mir noch vollkommen im Gedächtniß stand; das Übrige supplirte ich mit einigem Fleiße und qualificirte mich, wider meinen Willen, auf die leichteste Art zum Candidaten.

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 236)

Straßburg Apr. 1770

Die meisten meiner Tischgenossen waren Mediciner. Diese sind, wie bekannt, die einzigen Studirenden, die sich von ihrer Wissenschaft, ihrem Metier, auch außer den Lehrstunden mit Lebhaftigkeit unterhalten ...

Bei Tische also hörte ich nichts anderes als medicinische Gespräche, eben wie vormals in der Pension des Hofraths Ludwig. Auf Spaziergängen und bei Lustpartien kam auch nicht viel anderes zur Sprache: denn meine Tischgesellen, als gute Kumpane, waren mir auch Gesellen für die übrige Zeit geworden, und an sie schlossen sich jedesmal Gleichgesinnte und Gleiches Studirende von allen Seiten an. Die medicinische Facultät glänzte überhaupt vor den übrigen, sowohl in Absicht auf die Berühmtheit der Lehrer als die Frequenz der Lernenden, und so zog mich der Strom dahin, um so leichter, als ich von allen diesen Dingen gerade so viel Kenntniß hatte, daß meine Wissenslust bald vermehrt und angefeuert werden konnte. Beim Eintritt des zweiten Semesters besuchte ich daher Chemie bei Spielmann, Anatomie bei Lobstein, und nahm mir vor, recht fleißig zu sein, weil ich bei unserer Societät, durch meine wunderlichen Vor- oder vielmehr Überkenntnisse, schon einiges Ansehen und Zutrauen erworben hatte.

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 55)

Straßburg Apr. 1770

An unserm Tische ward ... nichts wie Deutsch gesprochen. Salzmann drückte sich im Französischen mit vieler Leichtigkeit und Eleganz aus, war aber unstreitig dem Streben und der That nach ein vollkommener Deutscher; Lersen hätte man als Muster eines deutschen Jünglings aufstellen können; Meyer von Lindau schlenderte lieber auf gut Deutsch, als daß er sich auf gut Französisch hätte zusammennehmen sollen, und wenn unter den Übrigen auch mancher zu gallischer Sprache und Sitte hinneigte, so ließen sie doch, so lange sie bei uns waren, den allgemeinen Ton auch über sich schalten und walten.

Von der Sprache wendeten wir uns zu den Staatsverhältnissen. Zwar wußten wir von unserer Reichsverfassung nicht viel Löbliches zu sagen; wir gaben zu, daß sie aus lauter gesetzlichen Mißbräuchen bestehe, erhuben uns aber um desto höher über die französische gegenwärtige Verfassung, die sich in lauter gesetzlosen Mißbräuchen verwirre, deren Regierung ihre Energie nur am falschen Orte sehen lasse, und gestatten müsse, daß eine gänzliche Veränderung der Dinge schon in schwarzen Aussichten öffentlich prophezeit werde.

Blickten wir hingegen nach Norden, so leuchtete uns von dort Friedrich, der Polarstern, her, um den sich Deutschland, Europa, ja die Welt zu drehen schien. Sein Übergewicht in allem offenbarte sich am stärksten, als in der französischen Armee das preußische Exercitium und sogar der preußische Stock eingeführt werden sollte. Wir verziehen ihm übrigens seine Vorliebe für eine fremde Sprache, da wir ja die Genugthuung empfanden, daß ihm seine französischen Poeten, Philosophen und Literatoren Verdruß zu machen fortfuhren und wiederholt erklärten, er sei nur als Eindringling anzusehn und zu behandeln.

Was uns aber von den Franzosen gewaltiger als alles andere entfernte, war die wiederholte unhöfliche Behauptung, daß es den Deutschen überhaupt, so wie dem nach französischer Cultur strebenden Könige, an Geschmack fehle. Über diese Redensart, die, wie ein Refrain, sich an jedes Urtheil anschloß, suchten wir uns durch Nichtachtung zu beruhigen; aufklären darüber konnten wir uns aber um so weniger, als man uns versichern wollte, schon Menage habe gesagt, die französischen Schriftsteller besäßen alles, nur nicht Geschmack; so wie wir denn auch aus dem jetzt lebenden Paris zu erfahren hatten, daß die neuesten Autoren sämmtlich des Geschmacks ermangelten, und Voltaire selbst diesem höchsten Tadel nicht ganz entgehen könne. Schon früher und wiederholt auf die Natur gewiesen, wollten wir daher nichts gelten lassen als Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls, und der rasche derbe Ausdruck desselben,

  Freundschaft, Liebe, Brüderschaft,   Trägt die sich nicht von selber vor?

war Losung und Feldgeschrei, woran sich die Glieder unserer kleinen akademischen Horde zu erkennen und zu erquicken pflegten. Diese Maxime lag zum Grund allen unsern geselligen Gelagen, bei welchen uns denn freilich manchen Abend Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutschheit zu besuchen nicht verfehlte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0140 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0140.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 128 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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