BuG: BuG I, A 31
Frankfurt Ende Apr. 1764

Dichtung und Wahrheit VI (WA I 27, 5)

Frankfurt Ende Apr. 1764

Es dauerte nicht lange, so gab man mir noch einen besondern Aufseher. Glücklicherweise war es ein Mann, den ich liebte und schätzte: er hatte eine Hofmeisterstelle in einem befreundeten Hause bekleidet, sein bisheriger Zögling war allein auf die Akademie gegangen. Er besuchte mich öfters in meiner traurigen Lage, und man fand zuletzt nichts natürlicher, als ihm ein Zimmer neben dem meinigen einzuräumen: da er mich denn beschäftigen, beruhigen und, wie ich wohl merken konnte, im Auge behalten sollte. Weil ich ihn jedoch von Herzen schätzte und ihm auch früher gar manches, nur nicht die Neigung zu Gretchen, vertraut hatte, so beschloß ich um so mehr, ganz offen und gerade gegen ihn zu sein, als es mir unerträglich war, mit jemand täglich zu leben und auf einem unsicheren gespannten Fuß mit ihm zu stehen. Ich säumte daher nicht lange, sprach ihm von der Sache, erquickte mich in Erzählung und Wiederholung der kleinsten Umstände meines vergangenen Glücks, und erreichte dadurch so viel, daß er, als ein verständiger Mann, einsah, es sei besser, mich mit dem Ausgang der Geschichte bekannt zu machen, und zwar im Einzelnen und Besonderen, damit ich klar über das Ganze würde und man mir mit Ernst und Eifer zureden könne, daß ich mich fassen, das Vergangene hinter mich werfen und ein neues Leben anfangen müsse. Zuerst vertraute er mir, wer die anderen jungen Leute von Stande gewesen, die sich anfangs zu verwegenen Mystificationen, dann zu possenhaften Polizeiverbrechen, ferner zu lustigen Geldschneidereien und anderen solchen verfänglichen Dingen hatten verleiten lassen. Es war dadurch wirklich eine kleine Verschwörung entstanden, zu der sich gewissenlose Menschen gesellten, durch Verfälschung von Papieren, Nachbildung von Unterschriften manches Strafwürdige begingen und noch Strafwürdigeres vorbereiteten. Die Vettern, nach denen ich zuletzt ungeduldig fragte, waren ganz unschuldig, nur im Allgemeinsten mit jenen andern bekannt, keineswegs aber vereinigt befunden worden. Mein Client, durch dessen Empfehlung an den Großvater man mir eigentlich auf die Spur gekommen, war einer der Schlimmsten, und bewarb sich um jenes Amt hauptsächlich, um gewisse Bubenstücke unternehmen oder bedecken zu können. Nach allem diesem konnte ich mich zuletzt nicht halten und fragte, was aus Gretchen geworden sei, zu der ich ein- für allemal die größte Neigung bekannte. Mein Freund schüttelte den Kopf und lächelte: „Beruhigen Sie sich, versetzte er: dieses Mädchen ist sehr wohl bestanden und hat ein herrliches Zeugniß davon getragen. Man konnte nichts als Gutes und Liebes an ihr finden, die Herren Examinatoren selbst wurden ihr gewogen, und haben ihr die Entfernung aus der Stadt, die sie wünschte, nicht versagen können. Auch das was sie in Rücksicht auf Sie, mein Freund, bekannt hat, macht ihr Ehre; ich habe ihre Aussage in den geheimen Acten selbst gelesen und ihre Unterschrift gesehen.“ Die Unterschrift! rief ich aus, die mich so glücklich und so unglücklich macht. Was hat sie denn bekannt? was hat sie unterschrieben? Der Freund zauderte zu antworten; aber die Heiterkeit seines Gesichts zeigte mir an, daß er nichts Gefährliches verberge. „Wenn Sie’s denn wissen wollen, versetzte er endlich, als von Ihnen und Ihrem Umgang mit ihr die Rede war, sagte sie ganz freimüthig: ich kann es nicht läugnen, daß ich ihn oft und gern gesehen habe; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft schwesterlich. In manchen Fällen habe ich ihn gut berathen, und anstatt ihn zu einer zweideutigen Handlung aufzuregen, habe ich ihn verhindert, an muthwilligen Streichen Theil zu nehmen, die ihm hätten Verdruß bringen können.“

Der Freund fuhr noch weiter fort, Gretchen als eine Hofmeisterin reden zu lassen; ich hörte ihm aber schon lange nicht mehr zu: denn daß sie mich für ein Kind zu den Acten erklärt, nahm ich ganz entsetzlich übel, und glaubte mich auf einmal von aller Leidenschaft für sie geheilt; ja ich versicherte hastig meinen Freund, daß nun alles abgethan sei! Auch sprach ich nicht mehr von ihr, nannte ihren Namen nicht mehr; doch konnte ich die böse Gewohnheit nicht lassen, an sie zu denken, mir ihre Gestalt, ihr Wesen, ihr Betragen zu vergegenwärtigen, das mir denn nun freilich jetzt in einem ganz anderen Lichte erschien.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0031 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0031.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 52 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang