BuG: BuG I, A 19
Frankfurt Dez. 1760/Juni 1762

Dichtung und Wahrheit III (WA I 26, 143)

Frankfurt Dez. 1760/Juni 1762 und Dez. 1762/Apr. 1763

Da ich [im französischen Theater] nicht immer die ganzen Stücke auszuhören Geduld hatte, und manche Zeit in den Corridors, auch wohl bei gelinderer Jahreszeit vor der Thür, mit andern Kindern meines Alters allerlei Spiele trieb, so gesellte sich ein schöner munterer Knabe zu uns, der zum Theater gehörte, und den ich in manchen kleinen Rollen, obwohl nur beiläufig, gesehen hatte. Mit mir konnte er sich am besten verständigen, indem ich mein Französisch bei ihm geltend zu machen wußte; und er knüpfte sich um so mehr an mich, als kein Knabe seines Alters und seiner Nation bei’m Theater oder sonst in der Nähe war. Wir gingen auch außer der Theaterzeit zusammen, und selbst während der Vorstellungen ließ er mich selten in Ruhe. Er war ein allerliebster kleiner Aufschneider, schwatzte charmant und unaufhörlich, und wußte so viel von seinen Abenteuern, Händeln und andern Sonderbarkeiten zu erzählen, daß er mich außerordentlich unterhielt, und ich von ihm, was Sprache und Mittheilung durch dieselbe betrifft, in vier Wochen mehr lernte, als man sich hätte vorstellen können; so daß niemand wußte, wie ich auf einmal, gleichsam durch Inspiration, zu der fremden Sprache gelangt war ...

Der junge Derones, so will ich den Knaben nennen, mit dem ich mein Verhältniß immer fortsetzte, war außer seinen Aufschneidereien ein Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen. Er machte mich mit seiner Schwester bekannt, die ein paar Jahre älter als wir und ein gar angenehmes Mädchen war, gut gewachsen, von einer regelmäßigen Bildung, brauner Farbe, schwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges. Ich suchte ihr auf alle Weise gefällig zu sein; allein ich konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken ... Mit einem jüngern Bruder hatte ich kein Verhältniß.

Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in Gesellschaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zusammen, um zu spielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schönen eine Blume, eine Frucht oder sonst etwas zu überreichen, welches sie zwar jederzeit mit sehr guter Art annahm und auf das höflichste dankte; allein ich sah ihren traurigen Blick sich niemals erheitern, und fand keine Spur, daß sie sonst auf mich geachtet hätte. Endlich glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette seiner Mutter, das mit eleganten seidnen Vorhängen aufgeputzt war, ein Pastellbild, das Porträt eines schönen Mannes, und bemerkte zugleich mit schlauer Miene: das sei eigentlich nicht der Papa, aber eben so gut wie der Papa; und indem er diesen Mann rühmte, und nach seiner Art umständlich und prahlerisch manches erzählte, so glaubte ich herauszufinden, daß die Tochter wohl dem Vater, die beiden andern Kinder aber dem Hausfreund angehören mochten. Ich erklärte mir nun ihr trauriges Ansehen und hatte sie nur um desto lieber.

Die Neigung zu diesem Mädchen half mir die Schwindeleien des Bruders übertragen, der nicht immer in seinen Gränzen blieb. Ich hatte oft die weitläufigen Erzählungen seiner Großthaten auszuhalten, wie er sich schon öfter geschlagen, ohne jedoch dem andern schaden zu wollen: es sei alles bloß der Ehre wegen geschehen. Stets habe er gewußt seinen Widersacher zu entwaffnen, und ihm alsdann verziehen; ja er verstehe sich auf’s Ligiren so gut, daß er einst selbst in große Verlegenheit gerathen, als er den Degen seines Gegners auf einen hohen Baum geschleudert, so daß man ihn nicht leicht wieder habhaft werden können ...

Einst, als wir eine ganze Zeit unser Wesen getrieben und Derones sich unter uns gemischt hatte, fiel es diesem ein, mir zu betheuern, ich hätte ihn beleidigt, und müsse ihm Satisfaction geben. Ich begriff zwar nicht, was ihm Anlaß geben konnte, ließ mir aber seine Ausforderung gefallen und wollte ziehen. Er versicherte mir aber, es sei in solchen Fällen gebräuchlich, daß man an einsame Örter gehe, um die Sache desto bequemer ausmachen zu können. Wir verfügten uns deßhalb hinter einige Scheunen, und stellten uns in gehörige Positur. Der Zweikampf erfolgte auf eine etwas theatralische Weise, die Klingen klirrten, und die Stöße gingen neben aus; doch im Feuer der Action blieb er mit der Spitze seines Degens an der Bandschleife meines Bügels hangen. Sie ward durchbohrt, und er versicherte mir, daß er nun die vollkommenste Satisfaction habe, umarmte mich sodann, gleichfalls recht theatralisch, und wir gingen in das nächste Kaffeehaus, um uns mit einem Glase Mandelmilch von unserer Gemüthsbewegung zu erholen und den alten Freundschaftsbund nur desto fester zu schließen.

Ein anderes Abenteuer, das mir auch im Schauspielhause, obgleich später, begegnet, will ich bei dieser Gelegenheit erzählen. Ich saß nämlich mit einem meiner Gespielen ganz ruhig im Parterre, und wir sahen mit Vergnügen einem Solotanze zu, den ein hübscher Knabe, ungefähr von unserm Alter, der Sohn eines durchreisenden französischen Tanzmeisters, mit vieler Gewandtheit und Anmuth aufführte. Nach Art der Tänzer war er mit einem knappen Wämschen von rother Seide bekleidet, welches, in einen kurzen Reifrock ausgehend, gleich den Lauferschürzen, bis über die Kniee schwebte. Wir hatten diesem angehenden Künstler mit dem ganzen Publicum unsern Beifall gezollt, als mir ich weiß nicht wie einfiel, eine moralische Reflexion zu machen. Ich sagte zu meinem Begleiter: Wie schön war dieser Knabe geputzt und wie gut nahm er sich aus; wer weiß in was für einem zerrissenen Jäckchen er heute Nacht schlafen mag! – Alles war schon aufgestanden, nur ließ uns die Menge noch nicht vorwärts. Eine Frau, die neben mir gesessen hatte und nun hart an mir stand, war zufälliger Weise die Mutter dieses jungen Künstlers, die sich durch meine Reflexion sehr beleidigt fühlte. Zu meinem Unglück konnte sie Deutsch genug, um mich verstanden zu haben, und sprach es gerade so viel als nöthig war, um schelten zu können. Sie machte mich gewaltig herunter: wer ich denn sei, meinte sie, daß ich Ursache hätte an der Familie und an der Wohlhabenheit dieses jungen Menschen zu zweifeln. Auf alle Fälle dürfe sie ihn für so gut halten als mich, und seine Talente könnten ihm wohl ein Glück bereiten, wovon ich mir nicht würde träumen lassen. Diese Strafpredigt hielt sie mir im Gedränge und machte die Umstehenden aufmerksam, welche Wunder dachten, was ich für eine Unart müßte begangen haben. Da ich mich weder entschuldigen, noch von ihr entfernen konnte, so war ich wirklich verlegen, und als sie einen Augenblick inne hielt, sagte ich, ohne etwas dabei zu denken: Nun, wozu der Lärm? heute roth morgen todt! – Auf diese Worte schien die Frau zu verstummen. Sie sah mich an und entfernte sich von mir, sobald es nur einigermaßen möglich war. Ich dachte nicht weiter an meine Worte. Nur einige Zeit hernach fielen sie mir auf, als der Knabe, anstatt sich nochmals sehen zu lassen, krank ward und zwar sehr gefährlich. Ob er gestorben ist, weiß ich nicht zu sagen ...

Es wurden damals einige halb mythologische, halb allegorische Stücke im Geschmack des Piron gegeben; sie hatten etwas von der Parodie und gefielen sehr. Diese Vorstellungen zogen mich besonders an: die goldnen Flügelchen eines heitern Mercur, der Donnerkeil des verkappten Jupiter, eine galante Danae, oder wie eine von Göttern besuchte Schöne heißen mochte, wenn es nicht gar eine Schäferin oder Jägerin war, zu der sie sich herunterließen. Und da mir dergleichen Elemente aus Ovids Verwandlungen und Pomey’s Pantheon Mythicum sehr häufig im Kopfe herum summten, so hatte ich bald ein solches Stückchen in meiner Phantasie zusammengestellt ... Eine von mir selbst sehr reinlich gefertigte Abschrift legte ich meinem Freund Derones vor, welcher sie mit ganz besonderm Anstand und einer wahrhaften Gönnermiene aufnahm, das Manuscript flüchtig durchsah, mir einige Sprachfehler nachwies, einige Reden zu lang fand, und zuletzt versprach, das Werk bei gehöriger Muße näher zu betrachten und zu beurtheilen. Auf meine bescheidene Frage, ob das Stück wohl aufgeführt werden könne, versicherte er mir, daß es gar nicht unmöglich sei. Sehr vieles komme bei’m Theater auf Gunst an, und er beschütze mich von ganzem Herzen; nur müsse man die Sache geheim halten; denn er habe selbst einmal mit einem von ihm verfertigten Stück die Direction überrascht, und es wäre gewiß aufgeführt worden, wenn man nicht zu früh entdeckt hätte, daß er der Verfasser sei. Ich versprach ihm alles mögliche Stillschweigen ...

So leichtsinnig übrigens der Freund war, so schien ihm doch die Gelegenheit den Meister zu spielen allzu erwünscht. Er las das Stück mit Aufmerksamkeit durch, und indem er sich mit mir hinsetzte, um einige Kleinigkeiten zu ändern, kehrte er im Laufe der Unterhaltung das ganze Stück um und um, so daß auch kein Stein auf dem andern blieb. Er strich aus, setzte zu, nahm eine Person weg, substituirte eine andere, genug er verfuhr mit der tollsten Willkür von der Welt, daß mir die Haare zu Berge standen. Mein Vorurtheil, daß er es doch verstehen müsse, ließ ihn gewähren: denn er hatte mir schon öfters von den drei Einheiten des Aristoteles, von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne, von der Wahrscheinlichkeit, von der Harmonie der Verse und allem was daran hängt, so viel vorerzählt, daß ich ihn nicht nur für unterrichtet, sondern auch für begründet halten mußte. Er schalt auf die Engländer und verachtete die Deutschen; genug er trug mir die ganze dramaturgische Litanei vor, die ich in meinem Leben so oft mußte wiederholen hören.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0019 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0019.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 27 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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