Goethes Briefe: GB 2, Nr. 30
An Johann Christian Kestner

Darmstadt , 〈21. April 1773. Mittwoch〉 → Wetzlar


Danck euch Kestner für eure zwey liebe Brief lieb wie alles was von ​ 1 euch kommt, und besonders jetzt. Der Todt einer teuer geliebten Freundinn ist noch um mich. heut früh ward sie begraben und ich binn immer an ihrem Grabe, und verweile, da noch meines Lebens Hauch und Wärme hinzugeben ​ 2 , und eine Stimme zu seyn aus dem Steine dem Zukünftigen ​ 3 . Aber ach auch ist mir verboten einen Stein zu setzen ihrem Andencken, und mich verdriesst dass ich nicht streiten mag mit dem Gewäsch und Geträtsch.

Lieber Kestner der du hast lebens in deinem Arm ein Füllhorn, lasse dir Gott dich freuen. Meine arme Existenz starrt zum öden Fels. Diesen Sommer geht alles. Merck mit dem Hofe nach berlin, sein Weib in die Schweiz, meine Schwester, die Flachsland, ihr 4 , alles. Und ich binn allein. Wenn ich kein Weib nehme oder mich erhänge, so sagt ich habe das Leben recht lieb, oder was, das mir mehr Ehre macht, wenn ​ 5 ihr wollt. Adieu. Euerm Engel tausend Grüsse

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Die Datierung folgt Kestners Empfangsvermerk. Wie datierte Briefe Goethes belegen, die ebenfalls einen Empfangsvermerk tragen, ging die Post von Darmstadt nach Wetzlar in der Regel zwei Tage (vgl. GB 1 II, Datum und Überlieferung zu Nr 119 ).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 29–30. – Doppelblatt 17,5(–18) × 21(–21,3) cm, 1 S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse, Tinte: An Herrn / Herrn Kestner / Legationssekretair / in / Wetzlar.; Reste einer roten Verschlussoblate, Postvermerk: „de darmstadt“; S. 1 oben links Empfangsvermerk, Tinte: „Acc. W. 23. Apr. 73.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 162, Nr 69.

WA IV 2 (1887), 82 f., Nr 145.

Der Brief beantwortet zwei nicht überlieferte Briefe Kestners (vgl. zu 25,9 ). – Der Antwortbrief (vgl. 26,2 ) ist nicht überliefert.

Darmst] Goethe war am 15. April zu Fuß nach Darmstadt gewandert (vgl. 24,6 ; 25,1 ).

eure zwey liebe Brief] Kestners nicht überlieferte Briefe beantworteten vermutlich Goethes Briefe vom 14. April ( Nr 27 , 29 ).

Todt einer teuer geliebten Freundinn] Gemeint ist die Hofdame der Herzogin von Pfalz-Zweibrücken, Henriette Alexandrine von Roussillon, die ‚Urania‘ des Darmstädter Kreises der ‚Empfindsamen‘ (vgl. GB 1 II, zu 243,10 ). Sie war nach langer schwerer Krankheit am 18. April 1773, also kurz nach Goethes Ankunft in Darmstadt, gestorben. – Vgl. dazu den Tagebucheintrag des Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt: „〈…〉 den 18. abends um 7 Uhr ist das Fräulein von Roussillon bei der Frau Herzogin Durchl. im 45. Jahr ihres Alters gestorben und wird den 21. begraben 〈…〉.“ (Zitiert nach: Hermann Bräuning-Oktavio: Der Katalog der Bibliothek des Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Damstadt [1790]. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe. Nr 93 [20. Mai 1970], Sp. 2585; vgl. auch Herder-Flachsland 2, 386 und 411.) – Henriette von Roussillon war am 19. Januar 1745 geboren, 1773 also 28 Jahre alt.

Gewäsch und Geträtsch] Näheres nicht ermittelt. – Goethes Bemerkung könnte sich auf Gerüchte beziehen, die ihn selbst oder auch Merck betrafen. Aus den Briefen Caroline Flachslands an Herder geht hervor, dass Merck mit Henriette von Roussillon eng befreundet war und seine Frau sich deshalb vernachlässigt fühlte, wenn sich die Hofdame in Darmstadt aufhielt: „M[erck] ist meist an Hoff und bey Fräulein von Roußillon, und wir sind bey seiner Frau 〈…〉.“ (8. oder 11. November 1771; Herder-Flachsland 1, 362.) „〈…〉 die gute Frau 〈Françoise Louise Merck〉 lebt wieder auf, da Fräulein von Roußillon und Ziegler nicht mehr hier sind und ihr Mann jetzt wieder mehr mit ihr lebt. Sie hat es meiner Schwester und mir aufrichtig gestanden, daß es ihr wehe gethan, daß er so oft bey ihnen gewesen 〈…〉.“ (25. Mai 1772; Herder-Flachsland 2, 122; vgl. auch Briefe vom 6. Dezember 1771 und vom 6. April 1772; Herder-Flachsland 1, 402 und 2, 85.)

Merck 〈…〉 berlin] Merck verließ am 6. Mai Darmstadt; er begleitete die Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt als Rechnungsführer nach St. Petersburg zur Vermählung ihrer Tochter Wilhelmine mit Großfürst Paul Petrowitsch von Russland, die am 10. Oktober 1773 stattfand (vgl. zu 27,14–15 ). Auf dem Weg dahin machte er u. a. in Leipzig und Berlin Station (vgl. Briefe Mercks an Friedrich Nicolai, 2. April 1773, und an Sophie La Roche, 7.–25. Juni 1773; Merck, Briefwechsel 1, 365, Nr 116 und 370, Nr 118).

sein Weib in die Schweiz] Mercks Frau reiste mit den Kindern zu ihren Eltern nach Moges am Genfer See.

meine Schwester] Gemeint ist Cornelia Goethes bevorstehende Hochzeit mit Schlosser und der damit verbundene Weggang aus Frankfurt. Cornelia verließ ihr Elternhaus am 14. November 1773.

die Flachsland] Caroline Flachsland heiratete Herder am 2. Mai 1773 und folgte ihm nach Bückeburg.

ihr] Gemeint ist die bevorstehende Übersiedlung des Ehepaars Kestner nach Hannover.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 30 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR030_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 25, Nr 30 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 53–55, Nr 30 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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