Goethes Briefe: GB 2, Nr. 14
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , Januar/Februar 1773〉 → Wetzlar


Kann nicht unterlassen mit heutiger Post noch an hochdieselben einige Zeilen zu senden Sintemalen wir heute mit Blaukraut und Leberwurst unser Gemüth ​ 1 ergötzt. Werden das abenteuerliche Format 2 verzeihen, wenn denenselben attestire, dass es stehenden Fusses in dem Zimmer der so tugendbelobten Mamsell Gerocks gefertiget wird. Dienet sodann zur freundlichen Nachricht dass wegen gesternabendigem ​ 3 unmässiglicher Weisse zu uns genommenem Wein, die cristliche Nachtruhe durch mancherley so seltsamlich als verdrüssliche Abenteuer genecket und gestört worden. Versetzt〈e〉 uns nähmlich ein guter Geist zuerst nach Wetzlar in den Cronprinzen zwischen ​ 4 Gesprächige Tischgesellschafft die der leidige Teufel auf die noch leidigere ​ 5 Philosophey zu diskuriren ​ 6 brachte, und mich in sein〈e〉 Schlingen verwickelte, bald darauf fiel mir schweer aufs herz ich habe Lotten no〈ch〉 nicht gesehn, eilte zu meiner stube ​ 7 den Hut zu holen ​ 8 die ich denn nicht finden Konnte sondern durch Kammern, Säle, Gärten Einöd〈en〉 Wälder, Bilderkabinets, Scheuern Schla〈f〉zimmer Besuchzimmer Schweinställe auf eine unglaublich wunderbaare weis〈e〉 mit geängstigtem Herzen herumgetr〈ie〉ben wurde, biss mich endlich ein gute〈r〉 Geist in ​ 9 Gestalt des Cronprinzen Caspa〈r〉 an einer Galanteriebude antraff und über drey Speicher und Kornböden vor mein Zimmer brachte, wo denn zum Unglück sich kein Schlüssel fand, dass ich mich resolvirte über ein Dach und Rinne zum Fenster hineinzusteigen. Gefahr und / Schwindel und Fallen und was folgt. Genug ich habe Lotten nicht zu sehn gekriegt. Also dass gegen Morgen erst in einen süsen Schlaff fiel und gegen halb neun erst mein Bette verlies.

Wenn nun übrigens hochdieselben an des Hℓ. Romisch Reichs Gerechtigkeits Curifikations Wesen manche Feder verschaben, und von dem Gekrize und Gekratze in dem heiligtuhme des Deutschen Orden sich erholen, wenn meine Buben noch über einander kabeln wie iunge Katzen, Albrecht bald ​ 10 die Continuation des Cristen in der einsamkeit herausgiebt. Georg bald versifizirt wie Gotter Und die Grosen sich zu Phisica glücklich hinan chriisiren und analysiren

Wen dem Papa sein Pfeifgen schmeckt

Der Docktor Hofrath Grillen heckt

Und sie Carlingen für Liebe verkauft

Die Lotte herüber hinüber lauft

Lenchen treuherzig und wohlgemuth

In die Welt hinein Lugen tuht.

Mit Dreckigen Handen und Honigschnitten

Mit Löcher im Kopf nach ​ 11 deutschen Sitten

Die Buben jauchzen mit hellem Hauf

Tühr ​ 12 ein Tühr aus, Hof ab Hof auf

Und ihr mit den blauen Augelein

Gucket so ganz gelassen drein

Als wärt ihr mänlein von Porzellan,

Seyd innerlich doch ein wackrer Mann

Treuer liebhaber und warmer Freund

So lass des Reichs und Cristen Feind

Und Russ und Preuss und Belial

Sich teilen in den Erdenball

Und nur das liebe Teusche Haus

Nehmt von der grosen Teilung aus

Und dass der Weeg von hier zu euch

Wie Jakobs Leiter sey sicher und gleich.

Und unser Magen verdau gesund.

So seegnen Wir euch mit Herz und Mnd

  Gott allein die Ehr

  Mir mein ​ 13 Weib allein

  So kann ich und er

  Wohl zufrieden seyn.

  1. Gemu ​üth​ ↑
  2. Fort ​mat​ ↑
  3. ge× ​sternabendigem​ ↑
  4. in d ​zwischen​ ↑
  5. × ​leidigere​ ↑
  6. disp ​kuriren​ ↑
  7. T ​stube​ ↑
  8. ⎡den Hut zu holen⎤​ ↑
  9. die ​in ​ ↑
  10. bals ​d ​ ↑
  11. und ⎡nach⎤​ ↑
  12. Hauf / Die ​Tühr​ ↑
  13. allein mein​ ↑

Die Datierung ist unsicher. Der Umstand, dass der Brief im Haus der mit Goethe befreundeten Schwestern Gerock geschrieben wurde (vgl. 10,18–19 ), verweist auf die Zeit des geselligen Frankfurter Kreises im Januar/Februar 1773 (vgl. auch zu 7,6–7 ). Außerdem könnte eine Briefstelle als Anspielung auf die Wiederaufnahme der Visitation des Reichskammergerichts Anfang Februar 1773 zu verstehen sein (vgl. zu 11,19–20 ).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 2–3. – Doppelblatt 20,5(–21,7) × 34,5 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte, flüchtig geschrieben; S. 3 Adresse, Tinte: An Herrn / Herrn Kestner / Legationssekretair / in / Wetzlar; rotes Initialsiegel: „G“; Blätter am rechten Seitenrand ausgerissen, Verlust einzelner Buchstaben (vgl. 11,2–12 ); S. 1 am linken Rand obere Hälfte quer geschr. von fremder Hd, Bleistift: „Antoinette Gerock / in Frackf.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 121–123, Nr 41.

WA IV 2 (1887), 53–55, Nr 119 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Der vorliegende Brief, der aus einer Laune heraus entstanden zu sein scheint, nimmt in parodierender Absicht den zeitgenössischen Kanzleistil auf. Die Verwendung von übertrieben ehrerbietigen Anredefloskeln, veralteter Lexik und altertümelnden Wortformen unterstreicht die für den Kanzleistil charakteristische pleonastische Umständlichkeit, womit wohl auch scherzhaft auf Kestners Tätigkeit am Reichskammergericht und Goethes eigenen Anwaltsberuf angespielt wird (vgl. die folgenden Erläuterungen). Auch das Format des Briefpapiers entsprach dem der amtlichen Schreiben der Zeit (vgl. Überlieferung; zu 10,17 ).

Blaukraut] Blaukohl (Rotkohl).

das abenteuerliche Format] Im Unterschied zu fast allen anderen Briefen an Kestner und auch an Charlotte und Hans Buff verwendete Goethe für den vorliegenden Brief ein Doppelblatt im Folioformat, was wahrscheinlich damit zusammenhing, dass der Brief nicht zu Hause geschrieben wurde (vgl. 10,18–19 ), Goethe also nicht sein eigenes Briefpapier benutzen konnte.

Mamsell Gerocks] Gemeint sind die mit Goethe befreundeten Schwestern Gerock, insbesondere Antoinette Louise; namentlich bekannt sind außerdem Catharina, Charlotte, Anna und Christiane Gerock (vgl. zu 7,11 ).

Cronprinzen] Name eines Gasthauses in Wetzlar, am Buttermarkt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Dom gelegen.

Gesprächige Tischgesellschafft 〈…〉 verwickelte] Anspielung auf die Wetzlarer ‚Rittertafel‘ um den ehemaligen braunschweigischen Legationssekretär von Goué, die im Gasthaus „Zum Kronprinzen“ tagte (vgl. GB 1 II, zu 237,26 ; zu 239,2 ). – Der Anfang der hier geschilderten Traumszene, in der wie selbstverständlich der Teufel auftaucht, könnte darauf hindeuten, dass Goethe in dieser Zeit am „Faust“ arbeitete, dessen frühe Fassung in Teilen wahrscheinlich zwischen 1773 und 1775 entstanden ist (vgl. auch zu 11,26–12,20 ). Als ein in dieser Hinsicht bemerkenswertes Analogon hebt Fischer-Lamberg auch die altertümliche Form des Wortes Philosophey hervor, die nur am Beginn des Anfangsmonologs der frühen Faust-Fassung wiederkehrt und sonst bei Goethe nicht mehr begegnet: Hab nun ach die Philosophey 〈…〉 (DjG​3 5, 272; vgl. Fischer-Lamberg, Urfaust, 393). Zu den Szenen, die nach Fischer-Lamberg schon 1772/73 entstanden sein könnten, gehören Mephistopheles im Schlafrock 〈…〉 . Student und Auerbachs Keller (DjG​3 5, 280–298).

Caspa〈r〉] Name des Hausknechts im Gasthaus „Zum Kronprinzen“.

Galanteriebude] Bude: nur für eine bestimmte Zeit errichteter hölzerner Kram- oder Kaufladen; hier: Verkaufsstand für Schmuck- und Putzwaren.

resolvirte] Resolvieren: hier: beschließen, entschließen; von lat. resolvere: wieder lösen, (von Zweifeln) befreien.

des Hℓ. Romisch 〈…〉 Curifikations Wesen] Des Heiligen Römischen Reichs Curifikationswesen; vorletztes Wort möglicherweise aus Flüchtigkeit verschrieben (vgl. Überlieferung), gemeint ist das Purifikationswesen: Reinigungswesen. Anspielung auf die langwierige Visitation des Wetzlarer Reichskammergerichts, die nach einer Unterbrechung im Februar 1773 fortgesetzt werden sollte (vgl. zu 7,1 ).

heiligtuhme des Deutschen Orden] Scherzhaft-pathetische Bezeichnung für das „Teutsche Haus“, das Wohnhaus der Familie Buff, das zum Deutschordenshof, dem Verwaltungssitz des Deutschen Ritterordens, gehörte.

meine Buben] Gemeint sind Charlotte Buffs jüngere Brüder. Die im Folgenden namentlich genannten Albrecht und Georg Buff waren damals knapp sieben und neun Jahre alt (vgl. zu 4,20–21 ).

kabeln] Wohl verschrieben für ‚krabeln‘: krabbeln.

Continuation] Fortsetzung; von lat. continuatio: Zusammenhang, Fortdauer.

Cristen in der einsamkeit] Gemeint ist das Werk des Hofpredigers Martin Crugot „Der Christ in der Einsamkeit“ (Breslau 1758).

Gotter] Der sachsen-gothaische Legationsrat Friedrich Wilhelm Gotter, der 1770 mit Boie den ersten Göttinger „Musen Almanach“ herausgegeben hatte, war ein Göttinger Studienfreund Kestners. In Wetzlar gehörte er zum Kreis der Rittertafel (AA DuW 1, 439 [12. Buch]) und zu den Freunden der Familie Buff. Mit ihm unterhielt Goethe eine freundschaftliche Verbindung, die er auch nach seinem Weggang aus Wetzlar fortsetzte (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 44 ).

die Grosen] Damit sind wohl die drei ältesten der insgesamt sieben Brüder Charlotte Buffs gemeint: der damals knapp 16-jährige Johann (Hans), der um ein Jahr jüngere Wilhelm und der elfjährige Fritz.

Phisica 〈…〉 chriisiren und analysiren] Physica, Physik, auch Philosophia naturalis: im 18. Jahrhundert noch allgemeiner gebraucht für ‚Natur-Lehre‘, ‚Natur-Kunde‘, ‚Natur-Wissenschaft‘; Chrie: Begriff aus der Rhetorik, Aufsatzplan zur Erläuterung einer Sentenz. – Hier ist vermutlich gemeint, dass sich Hans und Wilhelm Buff in die höheren Klassen der Wetzlarer Lateinschule ‚hinaufgearbeitet‘ hatten (vgl. auch DjG​2 6, 256).

Wen dem Papa 〈…〉 zufrieden seyn.] ‚Wen‘ versehentlich für ‚wenn‘. – Das Gedicht in Knittelversen, in denen der altdeutsch-parodierende Ton des vorangehenden Briefteils fortgeführt wird, ist das erste überlieferte Zeugnis dafür, dass Goethe sich dieser Versform bediente. Es setzt die Kenntnis der Dichtungen Hans Sachs' voraus und wird von Fischer-Lamberg u. a. in Beziehung zur Arbeit an der frühen Fassung des „Faust“ gesehen (vgl. Fischer-Lamberg, Urfaust, 393; Valters Nollendorfs: Der Streit um den Urfaust. [Studies in German literature 4]. The Hague u. a. 1967, S. 131–141). Auf die Kenntnis der Versform bereits seit der Leipziger Studienzeit (1765–1768), vermittelt durch Gottscheds „Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ (1730), verweist hingegen Albrecht Schöne im Zusammenhang mit der Eingangszene der frühen Faust-Fassung (vgl. FA/Goethe 7/2, 831–833); vgl. auch GB 1 II, zu 122,22 .

Der Docktor Hofrath 〈…〉 verkauft] Gemeint ist der angehende Jurist Johann Jakob Christian Dietz, Sohn aus erster Ehe von Goethes Großtante, der Hofrätin Lange (vgl. zu 41,25 ). Er heiratete 1777 Charlotte Buffs ältere Schwester Caroline (Carlingen). Sein Benehmen als Bewerber um Carolines Hand scheint im Familien- und Freundeskreis der Buffs Anlass zu Spötteleien gegeben zu haben (vgl. auch 23,1–2 ).

Lotte 〈…〉 lauft] Wohl als scherzhafte Anspielung auf die hausfrauliche Geschäftigkeit Charlotte Buffs zu verstehen, die nach dem Tod der Mutter 1770 den Haushalt führte.

Lenchen] Charlotte Buffs jüngere Schwester Helene, die zur Zeit von Goethes Aufenthalt in Wetzlar wahrscheinlich nicht zu Hause war (vgl. GB 1 II, zu 248,10 ) und von der sich Goethe ein Porträt erbeten hatte.

des Reichs und Cristen Feind] Vermutlich als Anspielung auf die nichtchristlichen Türken zu verstehen.

Belial] Auch Beliar; hebr.: der Heillose, Nichtswürdige; im Neuen Testament für ‚Antichrist‘, ‚Satan‘ (vgl. 2 Korinther 6,15). – Hier vielleicht im alttestamentarischen Sinne der ‚Gottlose‘, möglicherweise der ‚ungläubige‘ Türke.

Sich teilen in den Erdenball] Wahrscheinlich ist dies eine Anspielung auf die erste Teilung Polens zwischen Preußen, Österreich und Russland im Jahr 1772 und den russisch-türkischen Krieg (1768–1774), in dem die Türken 1771 die Krim an Russland verloren hatten.

Teusche Haus] Teusche: verschrieben für ‚Teutsche‘. – Gemeint ist das Wohnhaus der Familie Buff in Wetzlar (vgl. zu 11,21 ).

Jakobs Leiter] Anspielung auf die Himmelsleiter, die Jakob im Traum erblickte: „Und ihm träumete, und siehe, eine Leiter stund auf Erden, die rührete mit der Spizze an den Himmel; und siehe, die Engel Gottes stiegen dran auf und nieder.“ (1 Mose 28,12; Luther-Bibel 1768 AT, 56.) – Offenbar in Anlehnung an diese Bibelstelle heißt es in der Eingangsszene „Nacht“ der frühen Fassung des „Faust“: Wie Himmels kräffte auf und nieder steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen! (DjG​3 5, 274; vgl. zu 11,3–5 .)

Mnd] Verschrieben für ‚Mund‘.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 14 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR014_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 10–12, Nr 14 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 22–24, Nr 14 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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