Goethes Briefe: GB 2, Nr. 25
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , 10. April 1773. Samstag〉 → 〈Wetzlar〉


Da tuht ihr wohl Kästner dass ihr mich beym Wort nehmt ​ 1 ! O den trefflichen Menschen! „Ihr wollt ia nichts mehr ​ 2 von uns wissen.“ Gar schön! Ich wollte freylich nichts von euch wissen, weil ich wusste ihr würdet mir ​ 3 nicht schreiben mögen. Sonst feiner Herre war der Tag eurem Fürsten der Abend, eurer Lotte, und Die Nacht für mich und meinen Bruder Schlaf. die Nacht fliesst nun in den Abend und der arme Goethe behilft ​ 4 sich wie immer. Es stünde euch wohl zu Gesichte —— Doch das will ich nicht sagen, ich würde mich zum teufel geben wenn ich euch erst drauf bringen sollte. Also Hℓ. Kestner und Madame Kestner Gute Nacht.

Ich würde auch hier geschlossen haben wenn ich was bessers im Bett erwartete als meinen lieben Bruder. Sieh doch mein Bett da, so steril stehts wie ein Sandfeld. Und ich habe heut einen Schönen Tag gehabt So schön dass mir Arbeit und Freude ​ 5 und Streben und ​ 6 Geniessen zusammen / flossen. dass auch am Schönen hohen Sternen Abend ganz mein Herz voll war vom wunderbaaren ​ 7 Augenblick ​ 8 da ich zun ​ 9 Füssen eurer an Lottens Garnirung spielte, und ach mit einem Herzen, das auch ​das nicht mehr geniessen sollte, von drüben sprach, und nicht die Wolcken, nur die Berge meinte. Von der Lotte wegzugehn. Ich begreifs noch nicht wies möglich ​ 10 war. Denn seht nur seyd kein Stock. Wer nun, oder vorher, oder nachher zu euch sagte geht weg von Lotten – Nun was würdet ihr – ? das ist keine Frage – Nun ich bin auch kein Stock, und binn gangen, und sagt ists Heldentaht oder was. Ich binn mit mir zufrieden und nicht. Es kostete mich wenig, und doch begreif ich nicht wies möglich war. – da liegt der Haas im Pfeffer. –

Wir redeten wies drüben aussäh über den Wolcken, das weis ich zwar nicht, das weis ich aber, dass unser / Herr Gott ein sehr kaltblütiger Mann seyn muss der euch die Lotte lässt. Wenn ich sterbe und habe droben was zu sagen ich hohl sie euch warrlich. drum betet fein für mein Leben und Gesundheit, Waden und Bauch pp und sterb ich so versöhnt meine Seele mit Trähnen, Opfer, und dergleichen sonst Kastner siehts schief 11 aus.

Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe. eben um die Zeit da ihr bey eurer Lotte gewiss nicht an mich denckt. Doch bescheid ich mich ​ 12 gern nach dem Gesez der Antipatie da wir ​ 13 die Liebenden, fliehen ​ 14 , u〈nd〉 die Fliehenden lieben.

  1. n× ​ehmt​ ↑
  2. m× ​ehr​ ↑
  3. d ​mir​ ↑
  4. behill ​ft​ ↑
  5. Freu× ​de​ ↑
  6. Streben un g ​d ​ ↑
  7. wunderl ​baaren​ ↑
  8. a ​Augenblick​ ↑
  9. zur ​n ​ ↑
  10. no ​möglich​ ↑
  11. sie ​chief​ ↑
  12. g ​mich​ ↑
  13. wi e ​r ​ ↑
  14. fi ​liehen​ ↑

Aus dem Inhalt geht hervor, dass der Brief am Abend geschrieben wurde (vgl. 20,23–21 ,2), er konnte folglich erst am nächsten Tag befördert werden. Nach Kestners Empfangsvermerk erhielt dieser den Brief am 12. April 1773 (vgl. Überlieferung). Da die Post von Frankfurt nach Wetzlar in der Regel einen Tag unterwegs war (vgl. GB 1 II, Datum und Überlieferung zu Nr 124 ), kommt als Datierung der 10. April 1773 in Frage.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 24–25. – Doppelblatt 16,8 × 20,6(–21) cm, 2 ½ S. beschr., egh., Tinte, flüchtige, ungleichmäßige Schrift; S. 4 rotes Initialsiegel: „G“; Bl. 2 rechter Seitenrand in der Mitte Papier ausgerissen durch das Öffnen des Siegels; S. 1 oben in der Mitte Empfangsvermerk, Tinte: „acc. dℓ 12. Apr. 73. Wetzl.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 153–155, Nr 65.

WA IV 2 (1887), 75–77, Nr 139 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 207).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners etwa vom 9. April 1773 (vgl. zu 20,14–17 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Das Schriftbild des Briefes (vgl. Überlieferung) lässt Goethes innere Erregung erkennen, die durch die kaum verhohlene Eifersucht ausgelöst wurde, als er sich Johann Christian und Charlotte Kestners eheliche Gemeinschaft vorstellte (vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 99 ).

Da tuht ihr wohl Kästner 〈…〉 schreiben mögen.] Mit Bezug auf Kestners nicht überlieferten Brief, der nach der gewöhnlichen Beförderungsdauer von einem Tag etwa vom 9. April stammen könnte.

eurem Fürsten] Georg III. Wilhelm Friedrich, König von Großbritannien und Kurfürst von Hannover.

meinen lieben Bruder] Gemeint ist ‚der Schlaf‘ (vgl. 20,19 ).

da ich zun Füssen 〈…〉 Berge meinte] Goethe erinnert hier an das Abschiedsgespräch in Wetzlar, das nach Kestners Tagebuchaufzeichnungen vom 10. September 1772 u. a. auch „dem Zustande nach diesem Leben“ gegolten habe (Goethe-Kestner, 102; vgl. GB 1 II, zu 234,13–14 ).

Lottens Garnirung] Gemeint ist der Besatz des Kleides (vgl. GB 1 II, 237,2–9 ).

schief] Hier im übertragenen Sinne für ‚schlecht‘, ‚schlimm‘.

da wir die Liebenden 〈…〉 lieben] Möglicherweise in Anlehnung an Horaz, Satiren I 2,107 f.: „〈…〉 meus est amor huic similis; nam / transvolat in medio posita et fugientia captat.“ (Horaz: Satiren und Episteln. Auf der Grundlage der Übersetzung von J. K. Schönberger lateinisch und deutsch von Otto Schönberger. Berlin 1976, S. 46. – „〈…〉 diesem 〈Jäger〉 gleicht mein Liebesverlangen, denn an dem, was bequem zur Hand liegt, eilt es vorbei und hascht nach dem, was sich entzieht.“ [Ebd., S. 47].)

u〈nd〉] Buchstabenverlust durch Öffnen des Siegels (vgl. Überlieferung).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 25 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR025_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 20–21, Nr 25 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 46–47, Nr 25 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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