Goethes Briefe: GB 2, Nr. 188
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

Frankfurt a. M. , 〈etwa 18.–30.〉 Januar 1775 → 〈Uetersen〉


Meine Teure —— ich will Ihnen keinen Nahmen geben, denn was sind die Nahmen Freundinn Schwester, Geliebte, Braut, Gattin, oder ein Wort das einen Complex von all denen Nahmen begriffe, gegen das unmittelbaare Gefühl, zu dem —— ich kann nicht weiter schreiben ​ 1 , Ihr Brief hat mich in einer wunderlichen Stunde gepackt. Adieu, gleich den ersten Augenblick! –

Ich komme doch wieder —— ich fühle Sie können ihn tragen diesen Zerstückten, stammelnden Ausdruck wenn das Bild des Unendlichen in uns wühlt. Und was ist das als Liebe! —— Musste ​er Menschen machen nach seinem Bild, ein Geschlecht das ihm ähnlich ​ 2 sey, was müssen wir fühlen wenn wir Brüder finden, unser Gleichniss, uns selbst verdoppelt.

Und so solls weg, so sollen Sie's haben dieses Blat, obiges schrieb ich wohl vor acht Tagen, unmittelbaar auf den Empfang Ihres Briefs.

Haben Sie Geduld ​ 3 mit mir, bald sollen Sie Antwort haben. Hier indess meine Silhouette, ich bitte um die Ihrige, aber nicht in's kleine, den grosen von der Natur genommenen Riss bitt ich. Adieu ein herzlichstes Adieu. Frfurt. dℓ. 26. Jan. 1775.

Goethe /

Der Brief ist wieder liegen ​ 4 blieben o haben Sie Geduld mit mit mir. Schreiben Sie mir, und in meinen Besten Stunden will ich ​ 5 an Sie dencken. Sie fragen ob ich glücklich bin? Ja meine beste ich bins, und wenn ich's nicht bin ​ 6 so wohnt wenigstens all das tiefe Gefuhl von Freud und Leid in mir. Nichts ausser mir stört, schiert, hindert mich, ​ 7 Aber ich bin wie ein klein Kind weis Gott.     Noch einmal Adieu.

  1. S ​schreiben​ ↑
  2. an ​ähn d ​lich​ ↑
  3. Gedud ​ld ​ ↑
  4. × ​liegen​ ↑
  5. ⎡will ich⎤​ ↑
  6. binn ​ ↑
  7. mich t ​, ​ (Komma aus Ansatz zu ‚t‘) ​ ↑

Der Brief wurde etwa acht Tage vor der Datierung 26. Jan. 1775. ( 160,26 ) begonnen: obiges schrieb ich wohl vor acht Tagen ( 160,21–22 ). Danach blieb er wieder einige Tage liegen (vgl. 161,1 ).

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 5. – Doppelblatt 19,2 × 23,5 cm, 1 ½ S. beschr. (S. 3–4), egh., Tinte; S. 1 Adresse: Der theuern Ungenandten; rotes Initialsiegel: „G“. – Vermutlich Beischluss zu einem Brief Goethes an Heinrich Christian Boie (vgl. EB 57 ). – Faksimile: Behrens, zwischen 10 und 11.

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 77 f., Nr 1.

WA IV 2 (1887), 230 f., Nr 286 (wahrscheinlich nach Goethe-Stolberg​2 [1881], 3–5, Nr 1; Hinweis auf H und Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 211).

Goethes Silhouette ( 160,24 ).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Augusta zu Stolbergs etwa aus der ersten Hälfte des Januar 1775 (vgl. 160,13–14 ). – Der Antwortbrief (vgl. zu 164,35 ) von Anfang Februar 1775 ist nicht überliefert.

Der vorliegende Brief ist der erste von insgesamt 19 überlieferten Briefen Goethes an Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg (1753–1835). Aus ihrem Nachlass gelangten die Briefe in den Besitz des Kieler Mediziners Franz Hermann Hegewisch. Er gab sie weiter an Emilie von Binzer, deren Mann August die Briefe 1839 zum ersten Mal veröffentlichte (vgl. Goethe-Stolberg​1, 69–71). 1881, bei Erscheinen einer zweiten, von Wilhelm Arndt besorgten Auflage, waren die Handschriften bereits verstreut. Zwei Briefe befanden sich im FDH/FGM, darunter der vorliegende Brief vom Januar 1775, fünf in der Sammlung Rudolf Brockhaus in Leipzig, einer in der Sammlung Hirzel in Leipzig und die übrigen noch im Besitz Emilie von Binzers (im Einzelnen vgl. Goethe-Stolberg​2, V f. und 81–160). In den folgenden Jahrzehnten gelangten weitere fünf Briefe in die Sammlung Brockhaus, die 1992 vom FDH/FGM erworben wurde (vgl. Patrimonia 67, 7–13). Vier Briefhandschriften sind heute verschollen ( Nr 196 , 233 , 250 sowie der Brief vom 16. Mai 1776 [WA IV 3, 61, Nr 456]). Augusta zu Stolbergs Briefe an Goethe sind mit zwei Ausnahmen (vgl. RA 1, 63, Nr 56 und Behrens, 51–55, Nr 20) nicht überliefert. Im vorliegenden Band werden die acht aus dem Zeitraum von Januar bis September 1775 stammenden Briefe Goethes an Augusta zu Stolberg mitgeteilt.

Mit seinem Brief etwa vom 18. bis 30. Januar 1775 antwortete Goethe auf das Schreiben einer ihm vollkommen Unbekannten. Die Adressatin lebte zur Zeit, als Goethe an sie schrieb, als Konventualin des Adeligen Damenstifts in Uetersen im dänisch regierten Herzogtum Holstein. Sie war das fünfte von zwölf Kindern des Grafen Christian Günther zu Stolberg-Stolberg und seiner Ehefrau Charlotte Friederike Christiane, einer geborenen Gräfin zu Castell-Remlingen. Der Vater, zweiter Sohn des Grafen zu Stolberg-Stolberg im Harz, war seit 1744 Amtmann von Segeberg in Holstein, außerdem hatte er 1751 das zum Amt gehörende Gut Bramstedt erworben, wo Augusta Louise zur Welt kam. 1756 zum Oberhofmeister der dänischen Königin-Mutter Sophia Magdalena berufen, folgte er ihr mit der Familie nach Kopenhagen und auf den Sommersitz Hørsholm (Hirschholm). Die Atmosphäre im Elternhaus Augusta zu Stolbergs war geprägt von tiefer Religiosität. Der Vater stand einer gemäßigten Richtung des Pietismus nahe, wie sie seine Verwandten in Stolberg und Wernigerode vertraten. Dagegen nahm die Frömmigkeit seiner Frau, die die Versammlungen der Herrnhuter Gemeine in Kopenhagen besuchte, zuweilen exzentrische Züge an. Zum großen Freundeskreis der Stolbergs in Kopenhagen gehörten u. a. der dänische Staatsminister Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff und dessen Ehefrau Charitas Emilie, der Dichter und Theologe Johann Andreas Cramer, Hofprediger König Friedrichs V., sowie Friedrich Gottlieb Klopstock, der zeitweise im Bernstorffschen Hause lebte. – Durch die Heirat der ältesten Tochter Henriette mit Andreas Peter von Bernstorff, dem Neffen und Amtsnachfolger des Ministers, wurde die Verbindung der Familie Stolberg mit den Bernstorffs noch enger. 1783 wurde Augusta die zweite Frau ihres inzwischen verwitweten Schwagers. – Nach dem plötzlichen Tod des Vaters im Jahre 1765 erwarb die Familie den Landsitz Rungstedt (Rondstedt) nördlich von Kopenhagen am Öresund, wo die jüngeren Kinder in ländlicher Umgebung und trotz der streng pietistischen und zur Exzentrik neigenden Mutter naturverbunden und weitgehend frei von Standeskonventionen aufwuchsen. Klopstock, der die Familie häufig besuchte, wurde für die beiden ältesten Brüder Christian und Friedrich Leopold zum geistigen Mentor und für die jüngeren Geschwister zum väterlichen Freund. 1766 erhielt Augusta durch die Unterstützung des eben zur Regentschaft gelangten dänischen Königs Christian VII. einen Platz im Stift Uetersen, womit ihr künftiger Lebensunterhalt unabhängig von den Zuwendungen der Familie gesichert war. Im Oktober 1770 übersiedelte sie nach Uetersen, wo sie – mit Unterbrechungen – insgesamt 13 Jahre ihres Lebens verbringen sollte. In den Sommermonaten hielt sie sich meist bei der Familie in Dänemark auf. Häufig besuchte sie auch Freunde und Bekannte in Hamburg und im benachbarten dänisch regierten Altona, wo die Mutter von 1770 bis 1773 wohnte. Vor allem aber blieb sie durch Briefe mit ihrem weit verstreuten Freundeskreis und mit den Verwandten, insbesondere mit den ihr am nächsten stehenden Brüdern Christian und Friedrich Leopold, in Verbindung. So schrieb sie am 18. August 1775 an ihre Brüder, die – zeitweise gemeinsam mit Goethe – Deutschland und die Schweiz bereisten: „Wie oft in meinem Leben habe ich schon den Erfinder des Brief schreibens geseegnet, nie aber so, so von ganzem Herzen als auf dieser eurer Reise, viel mehr darum weil wir in der weiten Entfernung von euch, so oft Nachrichten erhalten, als um der himmlisch schönen Beschreibungen willen, die mich so sehr entzücken, und so oft den Mund wässern machen – der Erfinder des Brief schreibens, denke ich oft, muß ein guter Mann gewesen seyn, Menschenliebend. erfand er doch eine Sache die fast alle Menschen froh und den zärtlichen unter ihnen oft so glücklich macht – den besten Seegen wünsche ich ihn, dan daß er eimal unsre ganze Freude sähe, und hörte, wenn Briefe aus der Schweiz kommen.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 276.) Das Schreiben und Empfangen von Briefen gehörte daher neben der Lektüre deutscher und englischer Autoren zu den Hauptbeschäftigungen Augustas, der sie sowohl in Uetersen als auch auf Reisen einen Großteil ihrer Zeit widmete. Zu ihren Briefpartnern zählten Klopstock und Heinrich Wilhelm von Gerstenberg. Durch ihre Brüder hatte sie außerdem Kontakt zu den Dichtern des Göttinger Hains, darunter Johann Heinrich Voß, Johann Martin Miller, Ludwig Heinrich Hölty und Johann Friedrich Hahn. Besondere Freundschaft verband sie mit Heinrich Christian Boie, den sie im Januar 1774 persönlich kennen gelernt hatte, als er sich zu Besuch in Hamburg aufhielt. Vermutlich war Boie auch der Vermittler des ersten Briefs Augustas an Goethe (vgl. zu 160,10 ).

Der engste briefliche Kontakt zwischen Goethe und der Adressatin bestand in den ersten acht Monaten nach Beginn der Korrespondenz. Goethe, der noch immer im Frankfurter Elternhaus wohnte, sich mit verdrüslichen Geschäfften ( 178,17–18 ) als Anwalt plagte und gerade die Bekanntschaft Anna Elisabeth (Lili) Schönemanns gemacht hatte, durchlebte damals eine „Hauptkrisis“ seines Lebens, wie er noch Jahrzehnte später resümierend feststellte (Gespräch mit Friedrich von Müller, 8. Juni 1830; vgl. Gespräche​3 3.2, 639, Nr 6582). Die Briefpartnerin im fernen Uetersen wurde für ihn zur Vertrauten seines spannungsreichen Verhältnisses zu ‚Lili‘, das mit der inoffiziellen Verlobung in der Osterwoche 1775 seinen Höhepunkt erreichte und mit der Trennung des Paares und Goethes Weggang aus Frankfurt im Herbst desselben Jahres endete (vgl. die einleitende Erläuterung zu Z 1 ). Der Dichter schätzte an der Adressatin vermutlich vor allem ihre Fähigkeit zur Empathie, ihre ‚Begabung zur Freundschaft‘, die selbst in einer Epoche des empfindsamen Freundschafts- und Gefühlskults außergewöhnlich gewesen sein muss. Eine in dieser Hinsicht aufschlussreiche Selbstcharakteristik Augustas findet sich im Brief an den Bruder Friedrich Leopold vom 28. September 1775: „Du weißt wie mich alles erhizt, ich versichre dir, daß es die reinste wahrheit ist wenn ich dir sage, daß jede lecture die mir gefällt, und jeder discours der mich intereßirt den effect auf mich hat – und immer ruhig – ja das könte, und sollte ich wohl seyn – aber mein Gott ich bin es nun einmal nicht, alles rührt und afficirt mich zu leicht, jede kleinigkeit, kan mich erfreun, und jede kleinigkeit mich betrüben wenn es jemand den ich liebe angeht – 〈…〉.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 280.) – Obwohl Goethe bald die Identität der theuern Ungenandten kannte (vgl. zu 164,35 ), blieb ihm die Briefpartnerin doch auch danach ein imaginäres Gegenüber, eine Kunstfigur, Freundinn Schwester, Geliebte, Braut, Gattin ( 160,11 ), deren er zur Vergewisserung seiner selbst bedurfte: Morgends da ich nach Hause kam, wollt ich Ihnen schreiben, liess es aber und redete viel mit Ihnen 〈…〉 . Ich dachte mir sollts unterm Schreiben besser werden 〈…〉. ( 170,7–13 .) Die Briefe an Augusta zu Stolberg tragen daher, soweit sie in diesem Band mitgeteilt werden, weit eher den Charakter eines immer wieder von neuem aufgenommenen Selbstgesprächs, als dass sie Teil eines schriftlich geführten Dialogs wären. Sie sind Momentaufnahmen der Befindlichkeit ihres Verfassers und dienen ganz offensichtlich auch seiner Selbststilisierung. Trotz des mehrfach ausgedrückten Bedauerns, dass eine Begegnung nicht möglich sei, unternahm Goethe niemals einen ernsthaften Versuch, seine Briefpartnerin persönlich kennen zu lernen (vgl. zu 215,10 ). Augusta hatte vermutlich bis zum Ende des Jahres 1775 gehofft, Goethe gemeinsam mit den Brüdern Christian und Friedrich Leopold in Hamburg zu treffen. Goethes Frage Wann kommst Du nach Hamburg? (WA IV 2, 306) im Brief an Augusta vom 20. September bis 22. November 1775 schien auf sein Vorhaben, ebenfalls nach Hamburg zu kommen, hinzudeuten. In ihrem Antwortschreiben vom 9. Dezember, das Goethe allerdings niemals erreichen sollte, gab Augusta der Hoffnung auf eine persönliche Begegnung Ausdruck: „Hören Sie Goethe Sie könten wohl mit nach Hamburg kommen, und es ahndet mir halb, daß Sie mich überraschen werden, daß ist so Ahndung daß es ein dißapointment seyn wird, wenn Sie nicht kommen.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 288.) Augustas Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Mit Goethes mittlerweile vollzogener Übersiedlung nach Weimar im November 1775 wurde auch die briefliche Verbindung nach Uetersen zunehmend lockerer. Nach dem Brief vom 20. September bis 22. November 1775 (vgl. WA IV 2, 304–306, Nr 365) trat eine Pause von fast drei Monaten ein. Aus dem Jahr 1776 sind noch fünf Briefe Goethes an Augusta zu Stolberg überliefert, 1777, 1778, 1780 und 1782 jeweils einer. Danach brach die Korrespondenz mit der Uetersener Konventualin ab. Nach mehr als vierzig Jahren, in einem Brief vom 15. und 23. Oktober 1822, wandte sich Augusta Louise, nunmehr verwitwete Gräfin von Bernstorff, noch einmal an Goethe, um dessen Seelenheil sie als gläubige Christin besorgt war (H: GSA 28/192; gedruckt bei Behrens, 51–55, Nr 20). Goethe antwortete am 17. April 1823 (vgl. WA IV 37, 18–20, Nr 17). – Zur Biographie Augusta zu Stolbergs bis 1782 vgl. Elsa Plath-Langheinrich: Als Goethe nach Uetersen schrieb. Das Leben der Conventualin Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg. Neumünster 1993; mit einem „Tabellarischen Verzeichnis“ der überlieferten Briefe 1770–1782 (S. 354–358).

Meine Teure] Goethes Anrede galt einer ihm unbekannten Adressatin (vgl. auch die Adresse: Der theuern Ungenandten). Vermutlich hatte Heinrich Christian Boie, Herausgeber des Göttinger „Musenalmanachs“ und ein Freund Augusta zu Stolbergs, den Briefkontakt vermittelt. Goethe war über Friedrich Wilhelm Gotter wohl zuerst im Juni 1772 mit Boie in Kontakt gekommen und stand als Beiträger des „Musenalmanachs“ mit ihm in Verbindung, außerdem war ihm Boie 1773 beim Vertrieb des „Götz von Berlichingen“ behilflich gewesen. Ein Besuch Boies in Frankfurt bei Goethe ist für den Oktober 1774 belegt (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 46 ).

Ihr Brief] Nicht überliefert. – Anlass des ersten Briefes Augusta zu Stolbergs an Goethe war die Lektüre des „Werther“ im Herbst 1774. Im Goethe-Museum Düsseldorf ist Augustas Exemplar des in der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig erschienenen Erstdrucks vom Herbst 1774 überliefert (Sign.: KK 3039). Von ihrer intensiven Lektüre zeugen zahllose über das gesamte Buch verteilte Anstreichungen und Unterstreichungen. Am 14. November hatte sie an Heinrich Christian Boie geschrieben: „Sagen Sie mir ich bitte Sie, waß sagen Sie zu Die Leiden des jungen Werther? ich kan Ihnen versichern, daß ich fast nichts, (ich nehme allein unßern Klopstok aus) mit den Enzücken geleßen habe – ich weiß fast daß ganze Buch auswendig, der erste Theil insonderheit, hat ganz göttliche Stellen, und der 2 t: ist schrecklich schön – Göthe muß ein treflicher Mann seyn! sagen Sie mir kennen Sie ihn? ich mögte ihn wohl kennen – welches warme überfließende Herz, welche lebhafte Empfindungen, wie offen muß sein Herz jeder Schönheit der Natur, des Geistes, und des Herzens seyn! man fühlt es ihn in jeder Zeile ab, wie mich dünkt, daß er so, und eben so denkt und empfindet als er schreibt – Nur wollte ich daß er die Irrthümer in Werthers Art zu denken, wiederlegte, oder zum wenigsten es den Leser fühlen laßen, daß es Irrthümer sind, ich fürchte viele werden glauben daß Göthe selbst so denkt – stellen Sie sich meinen Schrecken vor, als ich, nachdem ich es geleßen hatte, hörte, daß es leider kein Roman sondern die wahre Geschichte des armen unglüklichen jungen Jerusalems ist. Gottlob daß ich es nicht vorher wußte 〈…〉.“ (Briefe an Boie, 335 f.)

in einer wunderlichen Stunde] Wahrscheinlich eine Anspielung auf Goethes innere Zerrissenheit und Unruhe in der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Anna Elisabeth Schönemann.

Zerstückten] Zerstücken: in Stücke reißen, etwas mit Gewalt zerlegen, zertrümmern.

das Bild des Unendlichen] Ähnliche Paraphrasen für das Göttliche finden sich auch in den „Leiden des jungen Werthers“ (vgl. DjG​3 4, 107 [1. Teil, Brief vom 10. Mai]; DjG​3 4, 139 [1. Teil, Brief vom 18. August]; DjG​3 4, 182 [2. Teil]).

Musste ​er 〈…〉 ähnlich sey] Fast wörtliches Selbstzitat aus der „Prometheus“-Ode, deren älteste erhaltene Handschrift Goethe vermutlich am 7. März 1775 an Merck schickte: Hier sitz ich forme Menschen / Nach meinem Bilde / Ein Geschlecht das mir gleich sey 〈…〉. (Beilage zu Nr 205 .) – In Anlehnung an 1 Mose 1,26: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei 〈…〉.“ (Luther-Bibel 1768 AT, 10.) Über Goethes Beschäftigung mit dem Prometheus-Mythos vgl. zu 36,19–20 .

meine Silhouette] Nicht überliefert. Möglicherweise lag Goethes Schattenriss aus dem Jahr 1774 bei, der in vielen, leicht variierenden Exemplaren verbreitet gewesen sein muss. Überliefert ist ein Exemplar der Silhouetten, die Goethe in seinem Brief vom 26. bis 31. August 1774 an Charlotte Kestner geschickt hatte (vgl. zu 123,3 ).

die Ihrige] Erst im Brief vom 7. bis 10. März 1775 bedankte sich Goethe für den Schattenriss Augustas (vgl. zu 170,22 ); er wird ihn also vermutlich zwischen Mitte Februar und Anfang März erhalten haben.

den grosen 〈…〉 Riss] Gemeint ist eine so genannte Original-Silhouette, ein Profilporträt nach dem wirklichen Schattenbild in Lebensgröße, d. h. infolge der angewandten Technik eigentlich in leicht vergrößerter Form. Das am wenigsten Aufwand erfordernde Verfahren zur Anfertigung einer Original-Silhouette bestand darin, die Zeichenunterlage direkt an einer Wand zu befestigen, auf die der Schatten der zu porträtierenden Person projiziert wurde. Man bediente sich auch verschiedener Hilfsvorrichtungen, so eines ‚Silhouettierbrettes‘, eines ‚Stehrahmens‘ oder sogar eines ‚Silhouettierstuhls‘, deren Erfindung dem mit Goethe bekannten Gießener Professor Ludwig Julius Friedrich Höpfner zugeschrieben wird. Lavater beschrieb die Vorrichtung im zweiten Band der „Physiognomischen Fragmente“ (S. 92 f.). Zum Verkleinern der Original-Silhouetten wurde neben anderen Techniken meist ein Pantograph oder ‚Storchschnabel‘ verwendet, ein aus zwei Parallelogrammen bestehendes mechanisches Werkzeug aus Stahl oder Holz (vgl. hierzu insgesamt: Anton Kippenberg: Die Technik der Silhouette. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. Erster Band. Leipzig 1921, S. 132–177). – Offenbar bevorzugte Goethe die noch nicht verkleinerten Porträts, so hatte er sich z. B. im Brief an Johann Christian Kestner vom 15. Dezember 1772 von Helene Buff eine Silhouette im grosen (GB 1 I, 249,9–10 ) gewünscht. Auch die 16 Porträts von Leipziger Bekannten etwa aus dem Jahr 1766, die wahrscheinlich von Goethes selbst stammen, sind Originalsilhouetten in Lebensgröße (vgl. GB 1 II, Abb. 1–16, S. 300–303).

mit mit] Versehentliche Dittographie.

wie ein klein Kind] Auch im Brief an Charlotte Kestner vom 16. Juni 1774 hatte Goethe, wohl mit Bezug zum gerade abgeschlossenen „Werther“, diesen Wesenszug betont (vgl. 93,4–5 ).

 

 
 

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Online-Edition:
GB 2, Nr 188 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR188_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 160–161, Nr 188 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 394–400, Nr 188 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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