Goethes Briefe: GB 2, Nr. 178
An Philipp Erasmus Reich

Frankfurt a. M. , 2. Januar 1775. Montag → 〈Leipzig〉

Hochedelgebohrner insonders Hochzuehrender Herr


Es ist mir sehr angenehm gleich mit dem Anfange des Neueniahrs Gelegenheit zu finden Sie an Ihre alte Gewogenheit gegen mich zu erinnern. Lavater trägt mir auf Ihnen beigehenden Anfang des Phisiognomischen Manuscripts zu übersenden mit dem es folgende Bewandniß hatt. Die Uebersezung der Einleitung habe ich zu besorgen, dahingegen Sie die Fragmente selbst von p.  7: an von Herrn Hubern übersezen laßen werden. p.  17. wo ein ┼ mit Bleistifft gezeichnet stehet, wie auch p. 21. werden vielleicht noch einige Zusäze eingesandt werden, sollten diese aber außen bleiben, so ist an beiden Orten zur Nachricht dem Sezer schon ange/merkt daß diese Zeichen auf weiter nichts Beziehung haben. Wollten Sie mir den Empfang dieser Papiere gefälligst berichten, und zugleich etwa sonst einiges zu Beförderung und Ausführung dieses Werks gehöriges mir zu wißen thun, so will ich alles mit dem besten Eifer besorgen, da ohnedem die Spedition des Manuscripts meistens durch meine Hände gehen wird, da ich den ofters die Ehre haben werde Sie derienigen Hochachtung zu versichern mit der ich mich nenne

Ew. Hochedelgebℓ.
Frankfurt den 2 Jenner.
  Goethe

H: UB Leipzig, Slg Hirzel, Sign.: B 37. – Doppelblatt 18,5 × 23 cm, 2 S. beschr., Schreiberhd (Liebholdt?), Unterschrift egh., Tinte; S. 4 am rechten Rand quer geschr. Erledigungsvermerk (?) von Reichs Hd (vgl. zu 155,13–14 ): „1775. 1 Febℓ Ffurth / Göthe“.

E: Goethe-Lavater​1 (1833), 168 f., o. Nr.

WA IV 2 (1887), 223 f., Nr 275.

Erste Manuskriptsendung zu Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ (vgl. zu 155,5–6 ).

Der Brief beantwortet keinen Brief Reichs; er eröffnet die Korrespondenz über den Druck von Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“. – Der Antwortbrief, auf den sich Nr 182 bezieht, ist nicht überliefert.

Über das Verhältnis Goethes zu Philipp Erasmus Reich vgl. die einleitende Erläuterung zum Brief vom 20. Februar 1770 (GB 1 II, Nr 67 ).

Goethe nahm an Entstehung und Drucklegung von Johann Caspar Lavaters Werk „Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“, das 1775–1778 in vier Bänden („Versuchen“) bei Reich in Leipzig und bei Heinrich Steiner in Winterthur erschien, lebhaften Anteil: Er redigierte das Manuskript und kümmerte sich von Januar 1775 an um den Druck. Er lieferte auch eigene Beiträge und Abbildungen (vgl. DjG​3 4, 275–279 und 5, 196–199; ferner: von der Hellen). Anfang Dezember 1774 hatte er das Manuskript an Johann Friedrich Wilhelm Gotter geschickt, der es ins Französische übersetzen sollte (vgl. 146,18–19 ). Gotter hatte jedoch abgesagt und das Manuskript wieder an Goethe zurückgeschickt, der sich daraufhin mit Lavater über die nächsten Schritte verständigte: Goethe sollte die Einleitung übersetzen, die „Fragmente“ selbst Michael Huber, Professor für französische Sprache in Leipzig, der u. a. auch Klopstock und Lessing übersetzte. Im vorliegenden Brief bittet Goethe Reich, eine entsprechende Anfrage an Huber zu richten. Dieser übernahm die Aufgabe allerdings ebenso wenig wie Gotter (vgl. 157,7–8 ). Erst daraufhin schrieb Lavater am 24. Januar 1775 an Reich und teilte ihm mit, dass Gotter nicht zur Verfügung stehe und er sich um einen anderen Übersetzer bemühe (Brief abgedruckt im Anschluss an die Erläuterungen zu Nr 189 ). Ein solcher wurde offensichtlich nicht gefunden, denn Lavaters „Fragmente“ erschienen auf Französisch – soweit bekannt, ohne Beteiligung Goethes – erst 1781–1786 in drei Bänden in Den Haag: Essai sur la physiognomie, destiné à faire connoître l'homme & à le faire aimer. Par Jean Gaspard Lavater 〈übersetzt von Marie Elisabeth de la Fite, Antoine Bernard Caillard und Henri Renfer〉.

Ihre alte Gewogenheit] Goethe kannte Reich seit seiner Leipziger Studienzeit; vgl. auch GB 1 I, einleitende Erläuterung zu Nr 67 .

Anfang des Phisiognomischen Manuscripts] Er umfasst die Einleitung und die Fragmente 1–4. Die nächste Lieferung folgte am 17. Januar (vgl. Nr 182 ). Der Druck des 1. Bandes begann Ende des Monats.

Einleitung] Sie trägt den Untertitel „Würde der menschlichen Natur“.

Zusäze] Die Zugaben ( 146,18 ) zu den Fragmenten 2 und 3 „Von der Physiognomik überhaupt“ und „Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik“ (vgl. zu 146,18 ).

den Empfang 〈…〉 berichten] Reichs Vermerk auf der Handschrift, den 1. Februar betreffend (vgl. Überlieferung), gibt nicht das Datum des Empfangs an, denn Goethes Brief an Reich vom 17. Januar ( Nr 182 ) setzt voraus, dass Goethe auf den vorliegenden Brief bereits eine Antwort bekommen hatte. Vielleicht handelt es sich um einen Erledigungsvermerk: Am 1. Februar, nach Erhalt von Goethes Brief vom 30. Januar ( Nr 189 ), war die Frage der französischen Übersetzung, jedenfalls für Reich, zunächst abgeschlossen.

Spedition] Nach lat. expeditio (Abfertigung, Erledigung): Beförderung, Lieferung.

den] Verschrieben für ‚denn‘.

Jenner.] Im Oberdeutschen für ‚Januar‘ (vgl. Grimm 10, 2263); in dieser Form von Goethe vorwiegend in der frühen Zeit gebraucht.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 178 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR178_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 155, Nr 178 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 385–386, Nr 178 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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