Goethes Briefe: GB 2, Nr. 104
An Charlotte Kestner

〈Frankfurt a. M. , Ende März/Anfang April 1774〉 → Hannover


Liebe Lotte, es fällt mir den Augenblick so ein, dass ich lang einen Brief von dir habe, auf den ich nicht antwortete. Das macht du bist diese ganze Zeit, vielleicht mehr als iemals in, cum et sub , |:lass​ 1 dir das von deinem gnädgen Herrn erklären:| mit mir gewesen. Ich lasse es dir ehstens drucken — Es wird gut meine beste. denn ist mirs nicht wohl wenn ich an euch dencke?

Ich bin immer der Alte, und deine Silhouette ist noch in meiner Stube angesteckt, und ich borge die Nadeln davon wie vor Alters. Dass ich ein Tohr binn, daran zweifelst du nicht, und ich schäme mich mehr zu sagen. Denn wenn du nicht fühlst dass ich dich liebe, warum lieb ich dich? — !

Goethe.

  1. las ​ss ​ ↑

Wie verschiedene Anspielungen belegen (vgl. vor allem zu 82,17–18 ), ist der Brief offenbar nicht lange vor oder kurz nach dem Abschluss der Arbeit am „Werther“ geschrieben worden. Außerdem ist anzunehmen, dass die Geburt von Charlotte Kestners erstem Sohn am 1. Mai 1774 noch bevorstand (vgl. zu 93,22 ), da Goethe dieses Ereignis nicht erwähnt und sich auch nicht nach dem Kind erkundigt. – Mit der Arbeit am „Werther“ hatte Goethe Anfang Februar 1774 begonnen (vgl. 74,17–19 ), nach „Dichtung und Wahrheit“ habe er nur vier Wochen daran gearbeitet (vgl. AA DuW 1, 484 [13. Buch]). Knebel dagegen berichtete in einem Brief an Bertuch vom 23. Dezember 1774: „An den Leiden des jungen Werthers hat er 〈Goethe〉 zwey Monate gearbeitet und er hat mir versichert, daß er keine ganze Zeile darinn ausgestrichen habe.“ (BG 1, 309.) – Der vorliegende Brief wurde wahrscheinlich Ende März/Anfang April 1774 geschrieben.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/263,I, Bl. 8–9. – Doppelblatt 19,2 × 23 cm, ⅔ S. beschr. egh., Tinte; S. 1 oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1774.“, links am Rand quer zum Text von fremder Hd, Bleistift: „Werther“; S. 3 Adresse: An Frau / Archivsekretarius ​Kestner / nach / ​Hannover / ​franck Duderstadt ; rotes Initialsiegel: „G“, Postvermerk; Bl. 2 Siegelausriss am rechten Rand.

E: Goethe und Werther​1 (1854), 202, Nr 96.

WA IV 2 (1887), 151, Nr 211.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Charlotte Kestners (vgl. 82,14–15 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

einen Brief] Nicht überliefert.

in, cum et sub] Lat.: in, mit und unter; theologische Formel des Abendmahls, bei dem nach der Lutherischen Lehre in Brot und Wein der Leib und das Blut Christi mit gegenwärtig sind. Hier mit Bezug auf die Arbeit am „Werther“ zu verstehen und die damit verbundene gedankliche Beschäftigung mit Charlotte Kestner.

deinem gnädgen Herrn] Scherzhaft-übertreibend für ‚Ehemann‘, Johann Christian Kestner.

Ich lasse es 〈…〉 drucken] Ende Mai/Anfang Juni 1774 schickte Goethe das Manuskript des „Werther“ an den Verleger Weygand in Leipzig (vgl. zu 90,10 ), im Druck erschien der Roman zur Herbstmesse 1774.

euch] Charlotte und Johann Christian Kestner.

deine Silhouette] Wahrscheinlich ist die Porträtsilhouette Charlotte Buffs gemeint, die mehrfach als Faksimile veröffentlicht wurde, deren Original aber schon vor 1910 als verschollen galt (vgl. DjG​2 4, 374, Tafel 5; Goethe-Kestner, zwischen 24 und 25, Tafel 4; vgl. auch GB 1 II, zu 235,22 ).

ich borge die Nadeln] Anspielung auf eine Stelle im Brief an Kestner vom 15. Mai 1773 (vgl. 29,12–15 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 104 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR104_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 82, Nr 104 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 226–227, Nr 104 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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