Goethes Briefe: GB 2, Nr. 7
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , 26. Januar 1773. Dienstag〉 → 〈Wetzlar〉


So seegn euch Gott lieber Kestner wenn ihr auch meiner gedencket, um meintwillen. Ich binn so gewohnt Briefe von euch zu haben dass mirs wohl unfreundlich ist wenn ich von Tische aufsteh und kein Brief da ist.

Lotten sagt: ein gewisses Mädgen hier das ich​ 1 von herzen lieb habe und das ich wenn ich zu heurathen hätte gewiss vor allen andern griffe ist auch den 11ten Januar gebohren. Wäre wohl hübsch so zwey Paare. Wer weis was Gottes Wille ist.

Die Philosophie solle sie doch ia lesen sagt ihr. Bey Gott sie wird ein ganz andres herrlicheres Geschöpf werden; werden ihr von den Augen fallen​ 2 wie Schuppen, Irrthum, Vorurteile pp Und wird seyn wie der heiligen Götter eine.

Sagt ihr das und gebt ihr das buch, und wenn sie ein Blatt drinne herabliest​ 3 so will ich – Carte blanche für das scheuslichste Ragout das der Teufel erfinden mag – fressen will ichs / Ich glaub Lotte hält mich und euch​ 4 fürn Narren. Sie – in​ 5 mittem Carnaval – eine Philosophie. Mach sie sich einen Domino zurecht und lass sie solche Grillen den Reuters – die Gott weiss wenn sie alle Gaben hätte wie St Paulus spricht und mit Engel und Menschen Weisheit und Zungen spräche, fehlt ihr die Liebe doch und ist ein tonend Erz und eine klingende Schelle.

Sagt der goldnen Lotte ich würds ihr dencken dass Sie uns den Streich gespielt.

Nun Adieu. Die Anzeige des ​Visitations 6 ​ Wesens kommt nicht in unsre Zeitung. Der Verleger fürchtet es möchte der Teufel dahinte stecken hier ist Titel und Register. Und ein Blat. Verwischts nur und die andern auch ich brauchs nicht.

  1. is ​ch ​ ↑
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Die Datierung folgt Kestners Empfangsvermerk unter Berücksichtigung des Postweges von gewöhnlich einem Tag (vgl. GB 1 II, Datum und Überlieferung zu Nr 124 ).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 7. – 1 Bl. 11,5(–11,7) × 19,2 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben rechts Empfangsvermerk, Tinte: „Acc. Wetzl. dℓ 27. Jan. 73. v. Frckft.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 130 f., Nr 48.

WA IV 2 (1887), 59 f., Nr 123 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206).

Möglicherweise Titel, Gesamtregister sowie Teil eines Heftes des Jahrgangs 1772 der FGA (vgl. die Erläuterungen zu 7,3 ).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners etwa vom 25. Januar 1773 (vgl. 6,7–10 ). – Kestner antwortete vermutlich erst in seinem nicht überlieferten Brief etwa vom 3. Februar 1773 (vgl. die erste Erläuterung zu 8,17 ).

wenn ihr auch meiner 〈…〉 meintwillen] Offenbar mit Bezug auf einen nicht überlieferten Brief Kestners.

ein gewisses Mädgen 〈…〉 gebohren] Susanne Magdalene Münch, Tochter des Frankfurter Kaufmanns Philipp Anselm Münch, war wie Charlotte Buff am 11. Januar 1753 geboren. Wie aus diesem und einem weiteren Brief an Kestner hervorgeht, gehörte Magdalene Münch offenbar in der Zeit nach der Rückkehr aus Wetzlar zu Goethes Frankfurter Freundeskreis, den er im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ schildert (vgl. zu 9,19 ; zu 9,21–23 ).

Die Philosophie 〈…〉 fürn Narren.] Welches Werk gemeint ist, konnte nicht ermittelt werden. – Die Verbindung des Teufels mit der Philosophie verweist nach Fischer-Lamberg wiederum auf die frühe Faust-Fassung, und zwar auf die Studentenszene, in der Mephisto als ‚Lehrer‘ der Logik und Metaphysik auftritt, um den Studenten in die ärgste Verwirrung zu führen (vgl. DjG​3 5, 283–285; vgl. auch zu 11,26–12,20 ).

Carte blanche] Franz.: weiße Karte, d. i. eine Spielkarte, die für alle anderen Karten eingesetzt werden konnte; hier: unbeschränkte Vollmacht, freie Hand.

das scheuslichste Ragout 〈…〉 mag] Hier im übertragenen Sinne als Vermischung unterschiedlicher ‚geistiger Speisen‘ gemeint. – Diese Metapher verwendet Goethe auch in der Schüler-Szene der frühen Fassung des „Faust“: Sizzt ihr einweil und leimt zusammen, / Braut ein Ragout von andrer Schmaus 〈…〉. (DjG​3 5, 278.)

Domino] Ein langer schwarzer seidener Maskenmantel mit Kapuze; in seinem 1769 entstandenen Lustspiel „Die Mitschuldigen“ lässt Goethe am Beginn des Stückes den leichtlebigen Söller in einem Domino, den Hut auf, die Masque vorm Gesicht auftreten (I 1, Regieanweisung; DjG​3 1, 311).

den Reuters] Möglicherweise eine Anspielung auf den preußischen Gesandten Johann Hartwig Reuter und seine Familie, die zur Wetzlarer Gesellschaft gehörten. – Über Reuter findet sich bei Gloël die folgende Bemerkung, die die Vermutung, dass sich Goethes Erwähnung auf diesen Namen beziehen könnte, stützt: „Der kursächsische Gesandte Graf Aug. Ferd. v. Zech war ein Freund der Dichtung und des Theaters; man sagte, er verschieße die Bolzen, die der preußische Gesandte, Tribunalsrat Joh. Hartwig Reuter (†  1773), spitze.“ (Gloël, 82.)

wie St Paulus spricht 〈…〉 klingende Schelle] Vgl. 1 Korinther 13,1: „Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz, oder eine klingende Schelle.“ (Luther-Bibel 1768 NT, 359.)

​Visitations Wesens] Am 3. Februar 1773 nahm die Visitationskommission am Reichskammergericht in Wetzlar nach fast einjähriger Unterbrechung ihre Arbeit wieder auf (vgl. GB 1 II, zu 237,26–238,3 ; zu 238,2 ).

unsre Zeitung] FGA.

Verleger] Johann Conrad Deinet (vgl. zu 4,18–19 ).

dahinte] Frankfurterisch für ‚dahinter‘.

Titel und Register] Wahrscheinlich schickte Goethe Titel und Gesamtregister des Jahrgangs 1772 der FGA mit (zu Goethes Anteil am Jahrgang 1772 der FGA vgl. Bräuning-Oktavio, FGA 1772, bes. 224–247; vgl. auch GB 1 II, zu 237,19–20 ).

ein Blat] Vermutlich ein Teil eines Heftes der FGA vom Jahrgang 1772.

Verwischts nur] Noch direkter formulierte Goethe diesen Rat für Kestner im Brief vom 11. April 1773 (vgl. 22,1 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 7 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR007_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 6–7, Nr 7 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 12–14, Nr 7 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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