BuG: BuG I, A 163
Sesenheim 18. 5./23. 6. 1771

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 19)

Sesenheim 18. 5./23. 6. 1771

Der Briefwechsel mit Friederiken wurde lebhafter. Sie lud mich ein zu einem Feste, wozu auch überrheinische Freunde kommen würden; ich sollte mich auf längere Zeit einrichten. Ich that es, indem ich einen tüchtigen Mantelsack auf die Diligence packte; und in wenig Stunden befand ich mich in ihrer Nähe. Ich traf eine große und lustige Gesellschaft, nahm den Vater bei Seite, überreichte ihm den Riß, über den er große Freude bezeigte; ich besprach mit ihm, was ich bei der Ausarbeitung gedacht hatte; er war außer sich vor Vergnügen, besonders lobte er die Reinlichkeit der Zeichnung: die hatte ich von Jugend auf geübt und mir dießmal auf dem schönsten Papier noch besondere Mühe gegeben. Allein dieses Vergnügen wurde unserm guten Wirthe gar bald verkümmert, da er, gegen meinen Rath, in der Freude seines Herzens, den Riß der Gesellschaft vorlegte. Weit entfernt, daran die erwünschte Theilnahme zu äußern, achteten die einen diese köstliche Arbeit gar nicht; andere, die etwas von der Sache zu verstehn glaubten, machten es noch schlimmer, sie tadelten den Entwurf als nicht kunstgerecht, und als der Alte einen Augenblick nicht aufmerkte, handhabten sie diese saubern Blätter als Brouillons, und einer zog mit harten Bleistiftstrichen seine Verbesserungsvorschläge dergestalt derb über das zarte Papier, daß an Wiederherstellung der ersten Reinheit nicht zu denken war.

Den höchst verdrießlichen Mann, dem sein Vergnügen so schmählich vereitelt worden, vermochte ich kaum zu trösten, so sehr ich ihm auch versicherte, daß ich sie selbst nur für Entwürfe gehalten, worüber wir sprechen und neue Zeichnungen darauf bauen wollten. Er ging dem allen ungeachtet höchst verdrießlich weg, und Friederike dankte mir für die Aufmerksamkeit gegen den Vater eben so sehr als für die Geduld bei der Unart der Mitgäste.

Ich aber kannte keinen Schmerz noch Verdruß in ihrer Nähe. Die Gesellschaft bestand aus jungen, ziemlich lärmenden Freunden, die ein alter Herr noch zu überbieten trachtete und noch wunderlicheres Zeug angab als sie ausübten. Man hatte schon bei’m Frühstück den Wein nicht gespart; bei einem sehr wohl besetzten Mittagstische ließ man sich’s an keinem Genuß ermangeln und allen schmeckte es, nach der angreifenden Leibesübung, bei ziemlicher Wärme, um so besser, und wenn der alte Amtmann des Guten ein wenig zu viel gethan hatte, so war die Jugend nicht weit hinter ihm zurückgeblieben.

Ich war gränzenlos glücklich an Friederikens Seite: gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch Gefühl, Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt. Sie in gleichem Falle, offen, heiter, theilnehmend und mittheilend. Wir schienen allein für die Gesellschaft zu leben und lebten bloß wechselseitig für uns.

Nach Tische suchte man den Schatten, gesellschaftliche Spiele wurden vorgenommen und Pfänderspiele kamen an die Reihe. Bei Lösung der Pfänder ging alles jeder Art in’s Übertriebene: Gebärden die man verlangte, Handlungen die man ausüben, Aufgaben die man lösen sollte, alles zeigte von einer verwegenen Lust, die keine Gränzen kennt. Ich selbst steigerte diese wilden Scherze durch manchen Schwank, Friederike glänzte durch manchen neckischen Einfall; sie erschien mir lieblicher als je; alle hypochondrischen abergläubischen Grillen waren mir verschwunden, und als sich die Gelegenheit gab, meine so zärtlich Geliebte recht herzlich zu küssen, versäumte ich’s nicht, und noch weniger versagte ich mir die Wiederholung dieser Freude.

Die Hoffnung der Gesellschaft auf Musik wurde endlich befriedigt, sie ließ sich hören und alles eilte zum Tanz. Die Allemanden, das Walzen und Drehen war Anfang, Mittel und Ende. Alle waren zu diesem Nationaltanz aufgewachsen; auch ich machte meinen geheimen Lehrmeisterinnen Ehre genug, und Friederike, welche tanzte wie sie ging, sprang und lief, war sehr erfreut an mir einen geübten Partner zu finden. Wir hielten meist zusammen, mußten aber bald Schicht machen, weil man ihr von allen Seiten zuredete, nicht weiter fortzurasen. Wir entschädigten uns durch einen einsamen Spaziergang Hand in Hand, und an jenem stillen Platze durch die herzlichste Umarmung und die treulichste Versicherung, daß wir uns von Grund aus liebten.

Ältere Personen die vom Spiel aufgestanden waren, zogen uns mit sich fort. Bei der Abend-Collation kam man eben so wenig zu sich selbst; es ward bis tief in die Nacht getanzt, und an Gesundheiten so wie an andern Aufmunterungen zum Trinken fehlte es so wenig als am Mittag.

An J. D. Salzmann 29. 5. 1771 (WA IV 1, 261)

Sesenheim 18. 5./23. 6. 1771

Die Kleine [Friederike Brion] fährt fort traurig kranck zu seyn, und das giebt dem Ganzen ein schiefes Ansehn ... Getanzt hab ich und die Ältste [Salomea] Pfingstmontags, von zwey Uhr nach Tisch biss 12 Uhr in der Nacht, an einem fort, ausser einigen Intermezzos von Essen und Trincken. Der Herr Amtschulz von Reschwog hatte seinen Saal hergegeben, wir hatten brave Schnurranten erwischt da giengs wie Wetter.

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 26)

Sesenheim 18. 5./23. 6. 1771

Wir hatten eine Zeitlang zusammen still und anmuthig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging, den Landpriester von Wakefield nach Sesenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermuthet zu überreichen, als hätte es weiter gar nichts zu sagen. Ich wußte mich zu fassen und las so heiter und freimüthig als ich nur konnte. Auch die Gesichter meiner Zuhörer erheiterten sich sogleich, und es schien ihnen gar nicht unangenehm, abermals zu einer Vergleichung genöthigt zu sein. Hatten sie zu Raymond und Melusine komische Gegenbilder gefunden, so erblickten sie hier sich selbst in einem Spiegel, der keineswegs verhäßlichte. Man gestand sich’s nicht ausdrücklich, aber man verläugnete es nicht, daß man sich unter Geistes- und Gefühlsverwandten bewege.

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 28)

Sesenheim 18. 5./23. 6. 1771

Die Gewohnheit, zusammen zu sein, befestigte sich immer mehr; man wußte nicht anders als daß ich diesem Kreise angehöre. Man ließ es geschehn und gehn, ohne gerade zu fragen, was daraus werden sollte ...

Man glaubte sowohl auf Friederikens Gesinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit, für die man, wegen jenes wunderlichen Enthaltens selbst von unschuldigen Liebkosungen, ein günstiges Vorurtheil gefaßt hatte, völlig vertrauen zu können. Man ließ uns unbeobachtet, wie es überhaupt dort und damals Sitte war, und es hing von uns ab, in kleinerer oder größerer Gesellschaft, die Gegend zu durchstreifen und die Freunde der Nachbarschaft zu besuchen. Diesseits und jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort-Louis, Philippsburg, der Ortenau, fand ich die Personen zerstreut, die ich in Sesenheim vereinigt gesehn, jeden bei sich, als freundlichen Wirth, gastfrei und so gern Küche und Keller als Gärten und Weinberge, ja die ganze Gegend aufschließend. Die Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheines in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier, in den traulichen Fischerhütten, vielleicht mehr als billig angesiedelt, hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. Über diese unerträgliche Störung einer der schönsten Lustpartien, wo sonst alles glückte, wo die Neigung der Liebenden mit dem guten Erfolge des Unternehmens nur zu wachsen schien, brach ich wirklich, als wir zu früh, ungeschickt und ungelegen nach Hause kamen, in Gegenwart des guten geistlichen Vaters, in gotteslästerliche Reden aus und versicherte, daß diese Schnaken allein mich von dem Gedanken abbringen könnten, als habe ein guter und weiser Gott die Welt erschaffen. Der alte fromme Herr rief mich dagegen ernstlich zur Ordnung und verständigte mich, daß diese Mücken und anderes Ungeziefer erst nach dem Falle unserer ersten Eltern entstanden, oder wenn deren im Paradiese gewesen, daselbst nur angenehm gesummet und nicht gestochen hätten. Ich fühlte mich zwar sogleich besänftigt: denn ein Zorniger ist wohl zu begütigen, wenn es uns glückt, ihn zum Lächeln zu bringen; ich versicherte jedoch, es habe des Engels mit dem flammenden Schwerte gar nicht bedurft, um das sündige Ehepaar aus dem Garten zu treiben; er müsse mir vielmehr erlauben, mir vorzustellen, daß dieß durch große Schnaken des Tigris und Euphrat geschehen sei. Und so hatte ich ihn wieder zum Lachen gebracht; denn der gute Mann verstand Spaß, oder ließ ihn wenigstens vorübergehn.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0163 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0163.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 174 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang