BuG: BuG I, A 155
Sesenheim Ende Okt. 1770

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 10)

Sesenheim Ende Okt. 1770

Es war schon spät, als ich in Sesenheim mein Pferd einstellte. Der Wirth, auf meine Frage, ob wohl in der Pfarre noch Licht sei, versicherte mich, die Frauenzimmer seien eben erst nach Hause gegangen; er glaube gehört zu haben, daß sie noch einen Fremden erwarteten. Das war mir nicht recht; denn ich hätte gewünscht der Einzige zu sein. Ich eilte nach, um wenigstens, so spät noch, als der Erste zu erscheinen. Ich fand die beiden Schwestern vor der Thüre sitzend; sie schienen nicht sehr verwundert, aber ich war es, als Friederike Olivien in’s Ohr sagte, so jedoch daß ich’s hörte: hab’ ich’s nicht gesagt? da ist er! Sie führten mich in’s Zimmer und ich fand eine kleine Collation aufgestellt. Die Mutter begrüßte mich als einen alten Bekannten; wie mich aber die Ältere bei Licht besah, brach sie in ein lautes Gelächter aus: denn sie konnte wenig an sich halten.

Nach diesem ersten etwas wunderlichen Empfang ward sogleich die Unterredung frei und heiter, und was mir diesen Abend verborgen blieb, erfuhr ich den andern Morgen ...

Oliviens Lachen blieb auch kein Geheimniß; sie gestand, daß es ihr sehr lustig vorgekommen, mich dießmal geputzt und wohl ausstaffirt zu sehn; Friederike hingegen fand es vortheilhaft, eine solche Erscheinung mir nicht als Eitelkeit auszulegen, vielmehr den Wunsch ihr zu gefallen, darin zu erblicken.

Früh bei Zeiten rief mich Friederike zum Spazierengehn; Mutter und Schwester waren beschäftigt, alles zum Empfang mehrerer Gäste vorzubereiten. Ich genoß an der Seite des lieben Mädchens der herrlichen Sonntagsfrühe auf dem Lande, wie sie uns der unschätzbare Hebel vergegenwärtigt hat. Sie schilderte mir die erwartete Gesellschaft und bat mich, ihr beizustehn, daß alle Vergnügungen wo möglich gemeinsam und in einer gewissen Ordnung möchten genossen werden. Gewöhnlich, sagte sie, zerstreut man sich einzeln; Scherz und Spiel wird nur obenhin gekostet, so daß zuletzt für den einen Theil nichts übrig bleibt, als die Karten zu ergreifen, und für den andern, im Tanze sich auszurasen.

Wir entwarfen demnach unsern Plan, was vor und nach Tische geschehn sollte, machten einander wechselseitig mit neuen geselligen Spielen bekannt, waren einig und vergnügt, als uns die Glocke nach der Kirche rief, wo ich denn an ihrer Seite eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand ...

Als wir nach Hause kamen, schwirrten die von mehreren Seiten angekommenen Gäste schon lustig durch einander, bis Friederike sie sammelte und zu einem Spaziergang nach jenem schönen Platze lud und führte. Dort fand man eine reichliche Collation und wollte mit geselligen Spielen die Stunde des Mittagessens erwarten. Hier wußte ich, in Einstimmung mit Friederiken, ob sie gleich mein Geheimniß nicht ahnete, Spiele ohne Pfänder, und Pfänderlösungen ohne Küsse zu bereiten und durchzuführen.

Meine Kunstfertigkeit und Gewandtheit war um so nöthiger, als die mir sonst ganz fremde Gesellschaft geschwind ein Verhältniß zwischen mir und dem lieben Mädchen mochte geahnet haben, und sich nun schalkhaft alle Mühe gab, mir dasjenige aufzudringen, was ich heimlich zu vermeiden suchte ...

Der Vater, der uns manchmal durch Wiesen und Felder begleitete, war öfters nicht günstig gepaart. Ich gesellte mich deßhalb zu ihm, und er verfehlte nicht, sein Lieblingsthema wieder anzustimmen und mich von dem vorgeschlagnen Bau des Pfarrhauses umständlich zu unterhalten. Er beklagte sich besonders, daß er die sorgfältig gefertigten Risse nicht wieder erhalten könne, um darüber nachzudenken und eine und die andere Verbesserung zu überlegen. Ich erwiderte darauf, es sei leicht sie zu ersetzen, und erbot mich zur Fertigung eines Grundrisses, auf welchen doch vorerst alles ankomme. Er war es wohl zufrieden, und bei der nöthigen Ausmessung sollte der Schulmeister an die Hand gehen, welchen aufzuregen er denn auch sogleich forteilte, damit ja der Fuß- und Zollstab morgen früh bereit wäre.

Als er hinweggegangen war, sagte Friederike: Sie sind recht gut, die schwache Seite des lieben Vaters zu hegen, und nicht, wie die andern, die dieses Gespräch schon überdrüssig sind, ihn zu meiden oder davon abzubrechen. Freilich muß ich Ihnen bekennen, daß wir übrigen den Bau nicht wünschen; er würde der Gemeine zu hoch zu stehen kommen und uns auch. Neues Haus, neues Hausgeräthe! Unsern Gästen würde es bei uns nicht wohler sein, sie sind nun einmal das alte Gebäude gewohnt. Hier können wir sie reichlich bewirthen, dort fänden wir uns in einem weitern Raume beengt. So steht die Sache; aber unterlassen Sie nicht, gefällig zu sein, ich danke es Ihnen von Herzen.

Ein anderes Frauenzimmer, das sich zu uns gesellte, fragte nach einigen Romanen, ob Friederike solche gelesen habe. Sie verneinte es; denn sie hatte überhaupt wenig gelesen; sie war in einem heitern sittlichen Lebensgenuß aufgewachsen und dem gemäß gebildet. Ich hatte den Wakefield auf der Zunge, allein ich wagte nicht ihr ihn anzubieten; die Ähnlichkeit der Zustände war zu auffallend und zu bedeutend. – Ich lese sehr gern Romane, sagte sie; man findet darin so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte.

Die Ausmessung des Hauses geschah des andern Morgens. Sie ging ziemlich langsam von statten, da ich in solchen Künsten so wenig gewandt war, als der Schulmeister. Endlich kam ein leidlicher Entwurf zu Stande. Der gute Vater sagte mir seine Absicht und war nicht unzufrieden, als ich Urlaub nahm, um den Riß in der Stadt mit mehr Bequemlichkeit zu verfertigen. Friederike entließ mich froh; sie war von meiner Neigung überzeugt, wie ich von der ihrigen, und die sechs Stunden schienen keine Entfernung mehr.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0155 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0155.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 164 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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