Goethes Briefe: GB 2, Nr. 23
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , etwa 6. April 1773〉 → 〈Wetzlar〉


Gott seegn euch denn ihr habt mich überrascht. Auf den Charfreytag wollt ich heilig Grab machen und Lottens Sillhouette 1 begraben. So hängt sie noch und soll denn auch hängen biss ich sterbe. Lebt wohl. Grüsst mir euern Engel und Lengen sie soll die zweyte Lotte werden, und es soll ihr eben so wohl gehn. Ich wandre in Wüsten da kein Wasser ist, meine Haare sind mir Schatten und mein Blut mein Brunnen. Und euer Schiff doch mit bunten Flaggen und Jauchzen zuerst im Hafen freut mich. Ich gehe nicht in die Schweiz. Und unter und über Gottes Himmel binn ich euer Freund, und Lottens.

  1. Si× ​llhouette​ ↑

Aus dem Inhalt des Briefes geht hervor, dass Charfreytag ( 19,13 ), der 1773 auf den 9. April fiel, noch bevorstand, während die Hochzeit Kestners und Charlotte Buffs am 4. April, auf die Goethe gleich zu Beginn anspielt (vgl. 19,13 ), bereits stattgefunden hatte. Der Brief muss geschrieben worden sein, kurz nachdem Goethe die Nachricht von der Eheschließung Kestners erhalten hatte, also etwa am 6. April 1773.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 23. – 1 Bl. 15,2(–15,4) × 18,2(–18,4) cm, ¾ S. beschr., egh., Tinte, flüchtig geschrieben; S. 1 oben rechts von fremder Hd, Bleistift: „1773. April“.

E: Goethe und Werther​1 (1854), 149, Nr 62.

WA IV 2 (1887), 74 f., Nr 138.

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners etwa vom 5. April 1773 (vgl. die erste Erläuterung zu 19,13 ). – Der Antwortbrief etwa vom 9. April 1773 (vgl. 20,14–17 ) ist nicht überliefert.

Gott seegn 〈…〉 überrascht.] Goethe bezieht sich hier offenbar auf Kestners Mitteilung etwa vom 5. April, dass die Hochzeit bereits am Palmsonntag, dem 4. April 1773, stattgefunden hatte.

Charfreytag] 9. April 1773.

Lottens Sillhouette] Charlottes Schattenriss (vgl. GB 1 II, zu 235,22 ). – Schon im vorangegangenen Brief an Kestner vom 2.? April hatte Goethe angekündigt, Charlottes Silhouette an ihrem Hochzeitstag aus seinem Zimmer zu verbannen (vgl. 18,28–19 ,1).

Lengen] Helene Buff, die jüngere Schwester Charlottes, die sich zur Zeit von Goethes Aufenthalt in Wetzlar wahrscheinlich nicht zu Hause aufgehalten hatte (vgl. GB 1 II, zu 248,10 ).

Ich wandre in Wüsten 〈…〉 Brunnen.] Erinnert an die Diktion des Alten Testaments. Anklänge für den ersten Teil der Formulierung finden sich z. B. bei 2 Mose 15,22: „Mose ließ die Kinder Israel ziehen vom Schilfmeer hinaus zu der Wüsten Sur, und sie wanderten drei Tage in der Wüsten, daß sie kein Wasser funden.“ (Luther-Bibel 1768 AT, 135.) Vom „Brunnen ihres Bluts“ ist in 3 Mose 20,18 die Rede (Luther-Bibel 1768 AT, 225). Fischer-Lamberg verweist auf die Parallelstelle im „Schreiben über den Homer“ in Nr 73 der FGA vom 11. September 1772 (vgl. DjG​3 2, 275), allerdings ist die Autorschaft Goethes nicht zweifelsfrei erwiesen (vgl. Bräuning-Oktavio, FGA 1772, 675 f., Nr 266).

euer Schiff 〈…〉 im Hafen] Metaphorisch für das Ankommen Kestners und Charlottes ‚im Hafen der Ehe‘. – Zur Verwendung der Schifffahrtsmetaphorik vgl. zu 15,15–16 .

nicht in die Schweiz] Goethe hatte Merck und dessen Frau, eine gebürtige Schweizerin, auf eine Reise in deren Heimat begleiten wollen. Der Plan dazu muss bereits in der Zeit von Goethes Wetzlarer Aufenthalt bestanden haben. Dies legt eine Äußerung Caroline Flachslands in einem Brief an Herder vom Juni 1772 nahe: „A propos, haben Sie nicht Lust, M[erck] mit seiner Fr[au] künftiges Frühjahr in die Schweiz zu begleiten und wieder mit ihm zurück? er bleibt ohngefähr 3 Monath drinnen. Göthe geht auch mit 〈…〉.“ (Herder-Flachsland 2, 151.) Inzwischen scheint Goethe aber die Nachricht erhalten zu haben, dass die gemeinsame Reise des Ehepaars Merck nicht stattfinden würde. Die Gründe dafür wurden allerdings zunächst noch geheim gehalten, wie aus einem weiteren Brief Caroline Flachslands an Herder vom 19. März 1773 hervorgeht: „Im Vertrauen muß ich Dir was sagen, das mir L[euchsenring] gesagt. M[erck] geht nicht mit seiner Frau in die Schweiz, sondern den 3t Mai mit der Landgräfin und ihren 3 Prinzeßinnen nach Berlin als ihr Rechnungsführer. man weiß es hier im Vertrauen, daß eine von den Prinzeßinnen an den Grosfürst dort vermählt wird, und sie werden ohngefähr 6 Monath ausbleiben.“ (Herder-Flachsland 2, 387.) Merck reiste dann allerdings im Gefolge der Landgräfin nicht nach Berlin, sondern nach St. Petersburg (vgl. zu 25,19 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 23 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR023_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 19–20, Nr 23 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 43–44, Nr 23 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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