BuG: BuG I, A 9
Frankfurt 1756/57

Bettina v. Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (Oehlke 3, 499)

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Frankfurt 1756/57

[Nach Elisabeth Goethe] Oft sah er nach den Sternen, von denen man ihm sagte, daß sie bei seiner Geburt eingestanden haben, hier mußte die Einbildungskraft der Mutter oft das Unmögliche tun, um seinen Forschungen Genüge zu leisten, und so hatte er bald heraus, daß Jupiter und Venus die Regenten und Beschützer seiner Geschicke sein würden; kein Spielwerk konnte ihn nun mehr fesseln, als das Zahlbrett seines Vaters, auf dem er mit Zahlpfennigen die Stellung der Gestirne nachmachte, wie er sie gesehen hatte; er stellte dieses Zahlbrett an sein Bett und glaubte sich dadurch dem Einfluß seiner günstigen Sterne näher gerückt; er sagte auch oft zur Mutter sorgenvoll: „Die Sterne werden mich doch nicht vergessen und werden halten, was sie bei meiner Wiege versprochen haben?“ – Da sagte die Mutter: „Warum willst du denn mit Gewalt den Beistand der Sterne, da wir andre doch ohne sie fertig werden müssen,“ da sagte er ganz stolz: „Mit dem, was andern Leuten genügt, kann ich nicht fertig werden;“ damals war er sieben Jahr alt.

Dichtung und Wahrheit II (WA I 26, 122)

Frankfurt 1756/57

In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die früheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und gerühmten Dichter gefunden ... Ich hatte diese sämmtlichen Bände von Kindheit auf fleißig durchgelesen und theilweise memorirt, weßhalb ich denn zur Unterhaltung der Gesellschaft öfters aufgerufen wurde.

Dichtung und Wahrheit II (WA I 26, 124)

Frankfurt 1756/57

Die Mutter hielt es [ein Exemplar von Klopstocks Messias] heimlich, und wir Geschwister bemächtigten uns desselben wann wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als möglich in’s Gedächtniß zu fassen.

Portia’s Traum recitirten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, welche in’s todte Meer gestürzt worden, hatten wir uns getheilt. Die erste Rolle, als die gewaltsamste, war auf mein Theil gekommen, die andere, um ein wenig kläglicher, übernahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar gräßlichen aber doch wohlklingenden Verwünschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen höllischen Redensarten zu begrüßen.

Es war ein Samstagsabend im Winter – der Vater ließ sich immer bei Licht rasiren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können – wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und recitirte, zwar leise genug aber doch mit steigender Leidenschaft:

  Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst,   Ungeheuer, dich an! Verworfner, schwarzer Verbrecher,   Hilf mir! ich leide die Pein des rächenden ewigen Todes! ...   Vormals konnt’ ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!   Jetzt vermag ich’s nicht mehr! Auch dieß ist stechender Jammer!

Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fürchterlicher Stimme rief sie die folgenden Worte:

  O wie bin ich zermalmt! ..

Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasiren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Muthwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man sie nicht auf’s neue hätte verrufen und verbannen sollen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0009 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0009.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 8 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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