BuG: BuG I, A 157
Sesenheim Nov. 1770

J. V. Widmann (Gartenlaube 1864, 332)

Sesenheim Nov. 1770

Von dieser Freigebigkeit Goethe’s cursirt namentlich in Sesenheim eine etwas groteske Geschichte, aber eben deshalb wie dazu gemacht, im Andenken der Bauern zu bleiben: Die Bursche des Dorfes machten, wie jedes Jahr, hinter der Kirche zuweilen im November ein Feuer und belustigten sich, mit Stangen drüber zu springen. Der „Herr Goethe“ war auch einmal bei einem solchen Anlaß zugegen und bemerkte unter den Zuschauenden sechs Weiber mit alten zerrissenen Strohhüten. Da sagte er dem Bauer Wolf, er solle die Strohhüte in’s Feuer werfen. Der that’s auch gleich, nur eine ließ sich den Strohhut unter keiner Bedingung nehmen. Als nun die fünf Strohhüte lichterloh brannten, zog der Herr Goethe seinen Geldbeutel hervor und gab jedem der fünf Weiber, die ziemlich verdutzt dastanden, zwei Thaler; jetzt verkehrten sich die sauern Mienen in frohen Jubel; die sechste aber bot nun freiwillig ihren Strohhut an; als ihr Goethe gar keine Aufmerksamkeit schenkte, warf sie voll Verdruß ihren Hut selbst in’s Feuer, erntete aber auch für diese heroische Äußerung ihrer Unzufriedenheit nichts als den Spott des ganzen Dorfes. Als Moral dieser Geschichte setzte der Bauer Wolf, der mir dieselbe erzählte, hinzu: Einem so vornehmen Herrn muß man eben Zutrauen schenken.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0157 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0157.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 167 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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