Goethes Briefe: GB 2, Nr. 87
An Johann Friedrich von Fleischbein

〈Frankfurt a. M. 〉, 3. Januar 1774. Montag → 〈Oesdorf bei Pyrmont〉

〈Druck〉

Wohlgebohrener Herr Insonders hochzuverehrender Herr Vetter!

Wir hoffen allerseits zu vernehmen daß dieselben den Wechsel des Jahres, nebst dero hochgeschäzzten Frau Schwester, in möglichstem irdischen Leibes Wohl und geistlichem Seegen werden erlebt haben, wir empfelen uns allzusammt dero Freundschafft und hohen Zuneigung und bitten von dem hochgelobten Heilande, daß uns derselbe noch lange den Genuß dero Liebe und Wohlgewogenheit verstatten möge.

Ich habe bis hierher zu schreiben angestanden, weil ich hoffte den Empfang der 100 L d'or melden zu können. Avisiert sind sie auch schon. Erhalte den Betrag aber erst in 8 Tagen.

Werde sogleich Ew Wohlgeb. und H. du Toit mit dem michs freut als einem würdigen Manne in Bekanntschaft zu gerathen, davon Nachricht geben.

Mein Vater dancket für die überschickten schäzbaren Stücken aufs verbindlichste. Sie machen eine sonderliche Zierde seiner Sammlung. Auch dient zur schuldichen Nachricht daß in beyden Münz Rescriptis niemand ​namentlich eingeführet worden. Wie denn auch sonst Ew Wohlgeb. sich von unserer Seite alle mögliche Diskretion versprechen können.

Die Medizin wird hoffentlich nunmehro wohl angelanget seyn. Den Calstädter Wein hoffe aufzutreiben.

Von den anverlangten Büchern der Mad. Guion habe nur eins nämlich Sa Vie III tomes erhalten. Werde solches gelegentlich übersenden.

Die Rechnung über die Arznei Spezies lege hier bey.

Wie auch einen Brief von H. von Offenbach.

Ingleichen von H. du Toit.

Die Fräulein von Klettenberg schließt sich an unsre Wünsche. Und wie wir zusammen in dem festesten Freundschaftsbunde vereinigt sind, so gehet auch unsre Liebe und Ergebenheit gegen Ew Wohlgeb. gleichen Schrittes.

Uebrigens empfele mich denenselben und dero Frau Schwester vielmals und habe die Ehre ohnzielsetzlich zu verharren

Ew Wohlgeb.
gehorsamster Dr
J W Goethe Dr

Vom Herausgeber des Erstdrucks wurde der Adressat nach der Provenienz der Handschrift bestimmt. Nach Auskunft Wernles habe der Schweizer Pietismusforscher und Sammler Jules Chavannes den vorliegenden Brief in einem Konvolut von Briefen an Johann Friedrich von Fleischbein gefunden: „Die Adresse fehlt zwar, aber der fleißige Sammler Jules Chavannes hat ihn mitten in einem Bündel anderer Briefe an denselben Herrn von Fleischbein gefunden und in dem gleichen Zusammenhang stehen lassen 〈…〉.“ (Paul Wernle: Ein unbekannter Brief des jungen Goethe. In: Neue Zürcher Zeitung, 8. November 1921, Nr 1592.)

H: Verbleib unbekannt; 1921 Bibliothek der Facultè de l'Eglise évangèlique libre, Lausanne, Nachlass Jules Chavannes (vgl. E). – Nach Auskunft der Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne ist die Handschrift nicht mehr auffindbar.

E: Paul Wernle: Ein unbekannter Brief des jungen Goethe. In: Neue Zürcher Zeitung, 8. November 1921, Nr 1592. Erstes Morgenblatt (danach bei Hans Gerhard Gräf: Nachträge zu Goethes Briefen. In: GJb 9 [1922], 261 f.; nach Gräf: DjG​3 4, 3 f., Nr 210).

WAN 1 (WA IV 51; 1990), 47 f., Nr 197a (nach E).

Textgrundlage: E. – Nach Angabe Paul Wernles liegt E die Handschrift der Ausfertigung zugrunde, während alle nachfolgenden Drucke auf E beruhen.

1) Rechnung (vgl. 69,14 ).

2) Brief von H. von Offenbach ( 69,15 ).

3) Brief Jean Philippe Dutoits (vgl. zu 69,16 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Der vorliegende Brief ist der einzige überlieferte Brief Goethes an diesen Adressaten. Johann Friedrich von Fleischbein (1700–1774) entstammte einer Frankfurter Patrizier- und Kaufmannsfamilie (seit 1666: Fleischbein von Kleeberg), die durch Einheirat auch zu Goethes Familie in entfernter Verwandtschaftsbeziehung stand (vgl. zu 68,18 ). Mit 16 Jahren bezog Fleischbein die Ritterakademie in Lunéville in Lothringen, die er nach einer schweren Verwundung in einem Duell wieder verließ. Bald darauf kam er mit ‚erweckten‘ Kreisen in der Westschweiz (Waadtland) in Berührung. Er verbrachte fortan sein Leben in kontemplativer Zurückgezogenheit, zunächst mit Eltern, Schwestern und Schwager auf Schloss Hayn bei Dillenburg im Siegerland in der Nähe der Grafschaft Wittgenstein, einem der Zentren des radikalen Pietismus. (Die Besitzrechte an Schloss Hayn, den dazugehörigen Ländereien und dem Dorf Hainichen hatte der Vater des Adressaten, Heinrich Georg Philipp von Fleischbein, sachsen-gothaischer Hofrat und Resident in Frankfurt a. M., 1715 erworben. Den Besitzern des Schlosses und Dorfes standen jedoch keine reichsunmittelbaren Hoheitsrechte zu, die Familie von Fleischbein auf Schloss Hayn gehörte demnach dem untitulierten Adel an. Der noch heute in der Literatur gebräuchliche Titel des Adressaten ‚Graf von Hayn‘ geht vermutlich auf die Anrede ‚Comte de Hayn‘ der französischsprachigen Freunde Fleischbeins zurück [vgl. Knieriem/Burkardt, 36 f.].) Als ‚Seelenführer‘ der Gemeinde auf Schloss Hayn, die sich selbst „Kindheit-Jesu Genossen“ nannte, lebte dort von 1736 bis 1743 der aus dem hugenottischen Adel stammende Quietist und religiöse Schriftsteller Charles Hector Marquis Saint George de Marsay, ein Anhänger der französischen Mystikerin Jeanne Marie Guyon du Chesnoy (vgl. zu 69,12–13 ). Auf diese gehen auch der Name „Kindheit-Jesu Genossen“ und die Regeln dieser Gemeinschaft zurück (vgl. Knieriem/Burkardt, 50–54). Fleischbein übersetzte später Marsays und Guyons Schriften ins Deutsche und ließ sie auf eigene Kosten in deutscher und französischer Sprache drucken. – Nach dem Tod des größten Teils seiner Familie verkaufte Fleischbein 1747 das väterliche Anwesen und übersiedelte zunächst ins hessische Korbach, später erwarb er ein Haus in Oesdorf bei Pyrmont (heute ein Stadtteil von Pyrmont). Die Wahl des Wohnortes hing vermutlich auch mit der Absicht Fleischbeins zusammen, in Kontakt zu Standespersonen zu gelangen, die er für seine quietistische Gemeinde zu gewinnen suchte.

Als Goethe an ihn schrieb, lebte er schon seit fast 20 Jahren in Oesdorf, das er seit seiner Übersiedlung dorthin nicht mehr verlassen hatte. Inzwischen selbst Oberhaupt und ‚Seelenführer‘ einer quietistischen Gemeinde, stand Fleischbein ganz unter dem Einfluss Guyons und Marsays. – Der junge Karl Philipp Moritz, der als Kind von seinem Vater in den Pyrmonter Quietistenzirkel eingeführt worden war, beschreibt gleich zu Beginn seines auf autobiographischer Grundlage gestalteten Romans „Anton Reiser“ (4 Tle. Berlin 1785–1790) die besondere Frömmigkeit dieser Gemeinschaft: „Das ganze Hauswesen bis auf den geringsten Dienstbothen bestand aus lauter solchen Personen, deren Bestreben nur dahin ging, oder zu gehen schien, in ihr ​Nichts (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ​ertödten und alle ​Eigenheit auszurotten. / Alle diese Personen mußten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen, den der Herr v. F. selbst eingerichtet hatte, und welcher darinn bestand, daß sie sich alle um einen Tisch setzten und mit zugeschloßnen Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten, ob sie etwa die Stimme Gottes oder das ​innre Wort, in sich vernehmen würden. Wer dann etwas vernahm, der machte es den übrigen bekannt. / Der Herr. v. F. bestimmte auch die Lektüre seiner Leute, und wer von den Knechten und Mägden eine müssige Viertelstunde hatte, den sahe man nicht anders, als mit einer von der Mad. Guion Schriften, vom ​innern Gebet, oder dergleichen, in der Hand, in einer nachdenkenden Stellung sitzen und lesen.“ Fleischbein selbst sei „von seinen Anhängern ebenfalls wie ein Heiliger verehrt“ worden (Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Hrsg. von Karl Philipp Moritz. Erster Theil. Berlin 1785, S. 1 f. und 6). – In seinen vorgerückten Lebensjahren in nahezu gänzlicher Abgeschiedenheit lebend, stand Fleischbein vorwiegend über seinen ausgedehnten Briefwechsel mit seinen Anhängern in Verbindung, darunter mit Georg Ludwig Freiherr von Klinckowström auf Gut Clüverswerder bei Bremen, dem wichtigsten Korrespondenzpartner seiner späten Jahre, und mit Jean Philipp Dutoit in Lausanne, den Fleischbein als seinen Nachfolger ansah (vgl. zu 69,1 ).

Der vorliegende einzige überlieferte Brief Goethes an Fleischbein ist vermutlich auch der letzte, den Goethe an den Adressaten, der am 7. Juli 1774 starb, geschrieben hat. Dass es zuvor weitere Briefe Goethes an Fleischbein gegeben haben muss, geht aus der Korrepondenz des Adressaten hervor (vgl. EB 9 , EB 16 ). Briefe Fleischbeins an Goethe sind nicht überliefert. Jedoch legen Fleischbeins Bemerkungen in seiner Korrespondenz mit Klinckowström die Vermutung nahe, dass er auch den Frankfurter ‚Vetter‘ für sein ‚Reich Gottes‘ zu gewinnen suchte, allerdings ohne den erhofften Erfolg (vgl. EB 16 ). – Der Brief an Fleischbein hebt sich sowohl inhaltlich wie stilistisch deutlich von anderen überlieferten Briefen Goethes aus dieser Zeit ab. Ob sich Goethe mit dem Brief an Fleischbein tatsächlich „einen Scherz“ erlauben wollte, indem er dessen „Briefstil nachahmte, ja karikierte“, um ihn „der Lächerlichkeit preiszugeben“, wie Michael Knieriem und Johannes Burkardt vermuten, sei dahingestellt (Knieriem/Burkardt, 57 f.). Während der Beginn des Briefes Bezug auf die besondere religiöse Ausrichtung des Adressaten nimmt, erinnern die folgenden Teile sprachlich an die etwa gleichzeitig entstandenen juristischen Schriftsätze, die Goethe in der Zeit seiner Frankfurter Anwaltstätigkeit verfasste (vgl. z. B. DjG​3 4, 189–199). Keinesfalls berechtigt der Brief an Fleischbein zu einer Auslegung, wie sie der Herausgeber des Erstdrucks in seinem Kommentar vornimmt. Wernle wertet den Brief als Beleg einer zumindest noch Anfang 1774 bestehenden „Geistesgemeinschaft“ Goethes mit den „deutschen Mystikern“. Mit seinem Schreiben habe „Goethe in seinem Frankfurt den Verkehr zwischen den beiden getrennten Jüngern der Guyon, dem Herrn von Fleischbein und Dutoit, vermitteln“ helfen (Wernle: Ein unbekannter Brief des jungen Goethe. In: Neue Zürcher Zeitung, 8. November 1921, Nr 1592). Anrede und Devotionsformel sowie Stil und Inhalt des Briefes verweisen vielmehr darauf, dass Goethe den Brief wohl teilweise im Namen seiner Eltern, teilweise im Auftrag seines Vaters geschrieben hat. – Zu Fleischbein vgl. Hans-Jürgen Schrader: Artikel „Fleischbein“, in: RGG​4 3 (2000), 159; Knieriem/Burkardt, bes. 60–77; Christof Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“. Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert. Hannover 2002, bes. S. 63–76.

Herr Vetter] Zwischen dem Adressaten und Goethe bestand durch dessen Vorfahren mütterlicherseits eine sehr weitläufige verwandtschaftliche Beziehung. Goethes Ururgroßvater Johann Wolfgang Textor, Syndikus in Frankfurt, hatte 1693 in zweiter Ehe Maria Sibylla von Fleischbein, eine Tochter des Frankfurter Senators und Schöffen Philipp Nicolaus von Fleischbein zu Kleeberg, geheiratet.

Schwester] Elisabeth Sophie Prueschenk von Lindenhofen geb. von Fleischbein. – Fleischbein, nach kurzer Ehe seit 1740 verwitwet, lebte nach dem Tod der meisten Mitglieder seiner Familie bis zum Lebensende mit seiner seit 1744 gleichfalls verwitweten, offenbar zeitlebens kränklichen Schwester zusammen. Im Kreise der quietistisch-mystischen Glaubensbrüder war es zudem üblich, so genannte ‚geistliche‘, d. h. enthaltsame Ehen (‚Geschwisterehen‘) einzugehen. Fleischbeins geistlicher Lehrer Marsay z. B. lebte mit seiner ‚Eheschwester‘ Clara von Callenberg 30 Jahre in ‚geistlicher‘ Ehe, ab 1736 bis zum ihrem Tod 1742 in der Gemeinschaft der „Kindheit Jesu-Genossen“ auf Schloss Hayn. – Über seine Schwester Elisabeth Sophie und das Verhältnis zu ihr schrieb Fleischbein am 24. April 1764 an Georg Ludwig Freiherrn von Klinckowström: „Von Kindheit an hat meine Schwester Elisabeth Sophie ein unschuldiges, von allen groben Lastern und Exzessen freies Leben geführt. Von der Kindheit an liebten wir uns beide mit einer wahren Liebe, wie sie unter Geschwistern sein sollte. 1719 oder 1720 bekam diese meine Schwester eine schwere und schmerzhafte Krankheit, die, weil der unverständige Medicus [an] ihr eine Menge von Opiata brauchte, sich verschlimmerte und ihre Gesundheit so verdarb, daß sie ihre Monatzeit von derselben Zeit an bis nun nicht wiederbekam, ihre Natur dadurch ganz verdorben wurde und dieses der Grund 〈war〉 zu allen ihren nachherigen Krankheiten 〈…〉. Diese Krankheiten sind in der Hand Gottes ein sehr kräftiges Mittel zu ihrer Sinnesänderung und Fortgang in den Wegen Gottes gewesen. 〈…〉 Wir haben uns von Kindesbeinen an geliebt mit einer wahren brüderlichen und schwesterlichen Liebe. In gewissen Dingen sehe ich sie als meine Mutter an und verehre sie. Jedoch die Verschiedenheit der Neigungen, Temperamente und Humeurs dienet auch, daß ich ihr nicht wenig Kreuz verursacht habe wider meinen Willen.“ (Zitiert nach: Knieriem/Burkardt, 41, Fußnote 21.)

wir empfelen uns allzusammt] Offenbar meint Goethe sich und seine Eltern, in deren Namen der erste Absatz des Briefes geschrieben wurde.

verstatten] Kanzleisprachlich für ‚gestatten‘.

Empfang der 100 L d'or] Louisdor; Näheres dazu nicht ermittelt. Auch diese Mitteilung deutet auf den Auftragscharakter des Briefes. Es ist schwer vorstellbar, dass der damals 24-jährige Goethe, der noch in seinem Elternhaus lebte und finanziell vom Vater abhängig war, Geldgeschäfte diesen Umfangs ohne Auftrag oder Wissen Johann Caspar Goethes abwickelte.

du Toit] Jean Philippe Dutoit (auch: Dutoit-Membrini) aus Moudon bei Lausanne (Kanton Waadt), geistliches Oberhaupt der waadtländischen Quietisten. Ursprünglich Theologe, hatte Dutoit jedoch auf eine Laufbahn in der Amtskirche verzichtet. Ähnlich wie Fleischbein war er nach einem mystischen Erweckungserlebnis während einer Krankheit zum Anhänger Jeanne Marie Guyons geworden, deren Werke er später neu herausgab. In Lausanne und Genf hatte Dutoit einen Kreis von ‚Erweckten‘ um sich gesammelt, auf die er persönlich und durch seine Schriften starken Einfluss ausübte. Mit dem 21 Jahre älteren Fleischbein, zu dem er in einem schülerhaften Verhältnis stand, unterhielt Dutoit seit Beginn der 1760er Jahre einen regen Briefwechsel. – Außer der vorliegenden Erwähnung finden sich weder in Goethes Briefen noch in seinen Werken oder Tagebüchern Hinweise auf Dutoit.

Mein Vater dancket für die 〈…〉 Stücken] Nach der Formulierung und dem Kontext zu schließen, sind wahrscheinlich Münzen gemeint, die Johann Caspar Goethe über Fleischbein oder direkt von diesem bezogen haben könnte.

seiner Sammlung] Wahrscheinlich die väterliche Münzsammlung. – Das numismatische Interesse Johann Caspar Goethes wird u. a. durch die in seiner Bibliothek nachgewiesenen Spezialwerke zur Numismatik belegt, darunter zwei zur Frankfurter „Müntz-Commission“ (vgl. Götting, 47 und 66).

in beyden Münz Rescriptis] Lat. rescriptum: amtlicher Bescheid, Verfügung, Erlass; hier sind offenbar Münz-Expertisen gemeint.

niemand ​namentlich eingeführet] Wahrscheinlich hatte Fleischbein darum gebeten, in den Expertisen nicht namentlich genannt zu werden, was darauf hindeutet, dass die Sammelstücke aus dem Familienbesitz des Adressaten gewesen sein könnten.

Medizin] Offenbar war Fleischbein zur Zeit, als der vorliegende Brief geschrieben wurde, schon ernstlich erkrankt. Er starb etwa ein halbes Jahr später. Auch für seine zeitlebens leidende Schwester Elisabeth Sophie Prueschenk von Lindenhofen könnte die ‚Medizin‘ bestimmt gewesen sein. Die Persönlichkeit des Adressaten wie auch die folgende Erwähnung Susanna von Klettenbergs lassen vermuten, dass es sich bei dem übersandten Mittel um eine von dem pietistisch-hermetischen Mediziner Johann Friedrich Metz hergestellte Arznei gehandelt hat. Goethe selbst war 1769 von Metz mit einem alchemistischen Wundermedikament behandelt worden (vgl. GB 1 II, zu 130,15–16 ).

Calstädter Wein] Wein aus Kallstadt in der Pfalz.

anverlangten Büchern] Anverlangen: kanzleisprachlich für ‚(jemandem) etwas abverlangen‘, ‚abfordern‘; nur sehr selten im privaten Bereich gebraucht (vgl. GWb 1, 744). – Der Bezug ist nicht ganz eindeutig. Die Formulierung lässt die Vermutung zu, dass Fleischbein in der Buchhandelsstadt Frankfurt um die Besorgung von Büchern – möglicherweise zur Weitergabe im Pyrmonter Quietistenkreis – nachgesucht hatte. Von Guyon erschienen z. B. von 1767 bis 1768 „Lettres chretiennes et spirituelles sur divers sujets qui regardent la vie interieure, ou l'esprit du vrai christianisme. Nouvelle edition / enrichie de la correspondance secrette de Mr. de Fenelon avec l'auteur“ (Londres 〈i. e. Paris〉. – Christliche und geistliche Briefe über verschiedene Themen, das innere Leben betreffend, oder den Geist des wahren Christentums / ergänzt durch die geheime Korrespondenz des Herrn von Fenelon mit der Autorin) sowie von 1767 bis 1791 „Œuvres spirituelles de madame Guyon“ (Paris). – Weiter vgl. die folgende Erläuterung.

Mad. Guion 〈…〉 Sa Vie III tomes] Die französische Mystikerin und Quietistin Jeanne Marie Guyon du Chesnoy geb. Bouvier de la Motte übte durch ihre schriftstellerische Tätigkeit wie auch durch ihre asketisch fromme Lebensführung großen Einfluss nicht nur auf ihre Landsleute aus, sondern auch auf die deutschen Pietisten. Zu ihren einflussreichsten Schülern gehörte François Fénelon, Schriftsteller und Erzbischof von Cambrai. Zum Mythos um die Person und das Leben der Guyon trug auch der Umstand bei, dass sie, in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im Frankreich des ausgehenden 17. Jahrhunderts geraten, verfolgt und längere Zeit gefangen gehalten wurde, zunächst in einem Kloster, von 1698 bis 1703 in der Bastille. – In ihrer Autobiographie „La vie de madame J〈eanne〉 M〈arie〉 B〈ouvier〉 de la Mothe Guion / ecrite par elle-même“ (3 Bde. Köln 1720) reflektiert sie ihren „Lebensentwurf als Mystikerin und Schriftstellerin jenseits aller vorgeformten Muster“ (Ruth Albrecht, RGG​4 3, 1356).

Rechnung über die Arznei Spezies] Nicht überliefert; zur Sache vgl. zu 69,10 .

Brief von H. von Offenbach] Wahrscheinlich ist ein Mitglied der Frankfurter Familie von Uffenbach gemeint, die wie die Fleischbeins ebenfalls der einflussreichen Patrizier- und Kaufmannsgesellschaft Frauenstein angehörte. – Ein Balthasar Christoph von Uffenbach war offenbar auch Taufpate des Adressaten (vgl. Eintrag vom 13. Februar 1700 ins Kirchenbuch der lutherischen Gemeinde in Frankfurt a. M.; abgedruckt bei: Knieriem/Burkardt, 60 f.). – In Frage käme der Frankfurter kaiserliche Rat und Schöffe Johann Friedrich von Uffenbach, ein jüngerer Verwandter des von Goethe in den Paralipomena zu „Dichtung und Wahrheit“ erwähnten gleichnamigen Schöffen, Kunstsammlers, Mäzens und Musikliebhabers, der schon 1769 gestorben war (vgl. Paralipomenon 6, zu 1762; AA DuW 2, 455). Dessen Kunst- und Büchersammlungen wurden 1771 und 1775, nach dem Tod seiner Witwe, versteigert. Der von Goethe beigelegte, nicht überlieferte Brief könnte im Zusammenhang damit stehen.

Ingleichen von H. du Toit.] Jean Philippe Dutoit; der Brief ist nicht überliefert.

Fräulein von Klettenberg] Der Gruß Susanna von Klettenbergs wie auch die folgende Freundschaftsbeteuerung gegenüber Fleischbein sind kein Beleg für eine besondere religiöse Nähe zwischen ihr und dem Adressaten. – Susanna von Klettenberg hatte sich etwa seit Beginn der 1750er Jahre zu einer ‚radikalen‘ Pietistin entwickelt, stand aber doch den Herrnhutern nahe, ohne förmliches Mitglied einer Gemeine zu sein (weiter vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 74 ). Obgleich theologiegeschichtlich auch der Fleischbeinsche Quietismus als Spielart des ‚Radikalpietismus‘ gilt, zählte Fleischbein selbst die „Pietisten“ zu den religiösen „Irrläufern“, von denen er sich und seine Anhänger distanzierte: „Die Herrnhuter 〈…〉 und andre neue Secten und Verführer sind bekant. Man hat daher Ursach sich genau zu Gott zu halten damit Er uns in dieser mehr als jemahls gefährlichen Zeit gegen alle falsche Propheten, Irrgeister, und sonderlich auch die Herumläufer, die sich unter allerhand Masquen verstellen, beschütz und erhalte. Der HERR bewahret die Einfältigen, die in kindlicher einfalt in Ihn vertrauen.“ (Fleischbein an Georg Ludwig von Klinckowström, 28. Oktober 1762; Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne, Sign.: TS 1013I, zitiert nach: Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“ [2005], S. 68.)

ohnzielsetzlich] Kanzleisprachlich für ‚unmaßgeblich‘.

Erfurt] Versehentlich für ‚Frfurt‘; schon von Gräf in seinem Abdruck berichtigt (vgl. GJb 9 [1922], 262).

Dr] Abgekürzt für ‚Diener‘.

J W Goethe Dr] Diese Art der Unterschrift mit den Initialen des Vornamens und dem nachgestellten akademischen Titel findet sich zur gleichen Zeit nur in den Rechtsanwalts-Eingaben Goethes, die er allerdings mit dem Titel ‚Lizentiat‘ unterschreibt. – Goethe hatte in Straßburg am 6. August 1771 den Lizentiatengrad erworben. Im Gebiet des deutschen Reiches wurde nicht zwischen dem Lizentiaten- und dem Doktorgrad unterschieden.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 87 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR087_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 68–69, Nr 87 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 182–188, Nr 87 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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