BuG: BuG I, A 187
Wetzlar Mai/Juni 1772

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 134)

Wetzlar Mai/Juni 1772

Da ich mir alle diese ältern und neuern Zustände möglichst vergegenwärtigt hatte, konnte ich mir von meinem Wetzlar’schen Aufenthalt unmöglich viel Freude versprechen ... Allein wie verwundert war ich, als mir anstatt einer sauertöpfischen Gesellschaft, ein drittes akademisches Leben entgegensprang. An einer großen Wirthstafel traf ich beinah sämmtliche Gesandtschaftsuntergeordnete, junge muntere Leute, beisammen; sie nahmen mich freundlich auf, und es blieb mir schon den ersten Tag kein Geheimniß, daß sie ihr mittägiges Beisammensein durch eine romantische Fiction erheitert hatten. Sie stellten nämlich, mit Geist und Munterkeit, eine Rittertafel vor. Obenan saß der Heermeister, zur Seite desselben der Canzler, sodann die wichtigsten Staatsbeamten: nun folgten die Ritter, nach ihrer Anciennetät; Fremde hingegen, die zusprachen, mußten mit den untersten Plätzen vorlieb nehmen, und für sie war das Gespräch meist unverständlich, weil sich in der Gesellschaft die Sprache, außer den Ritterausdrücken, noch mit manchen Anspielungen bereichert hatte. Einem jeden war ein Rittername zugelegt, mit einem Beiworte. Mich nannten sie Götz von Berlichingen, den Redlichen. Jenen verdiente ich mir durch meine Aufmerksamkeit für den biedern deutschen Altvater, und diesen durch die aufrichtige Neigung und Ergebenheit gegen die vorzüglichen Männer die ich kennen lernte. Dem Grafen von Kielmannsegg bin ich bei diesem Aufenthalt vielen Dank schuldig geworden. Er war der ernsteste von allen, höchst tüchtig und zuverlässig. Von Goué, ein schwer zu entziffernder und zu beschreibender Mann, eine derbe, breite, hannövrische Figur, still in sich gekehrt. Es fehlte ihm nicht an Talenten mancher Art ... Übrigens wurde dieses fabelhafte Fratzenspiel mit äußerlichem großen Ernst betrieben, ohne daß jemand lächerlich finden durfte, wenn eine gewisse Mühle als Schloß, der Müller als Burgherr behandelt wurde, wenn man die vier Haimonskinder für ein canonisches Buch erklärte und Abschnitte daraus, bei Ceremonien, mit Ehrfurcht vorlas. Der Ritterschlag selbst geschah mit hergebrachten, von mehreren Ritterorden entlehnten Symbolen. Ein Hauptanlaß zum Scherze war ferner der, daß man das Offenbare als ein Geheimniß behandelte; man trieb die Sache öffentlich, und es sollte nicht davon gesprochen werden. Die Liste der sämmtlichen Ritter ward gedruckt, mit so viel Anstand als ein Reichstagskalender; und wenn Familien darüber zu spotten und die ganze Sache für absurd und lächerlich zu erklären wagten, so ward, zu ihrer Bestrafung, so lange intriguirt, bis man einen ernsthaften Ehemann, oder nahen Verwandten, beizutreten und den Ritterschlag anzunehmen bewogen hatte; da denn über den Verdruß der Angehörigen eine herrliche Schadenfreude entstand.

In dieses Ritterwesen verschlang sich noch ein seltsamer Orden, welcher philosophisch und mystisch sein sollte, und keinen eigentlichen Namen hatte. Der erste Grad hieß der Übergang, der zweite des Übergangs Übergang, der dritte des Übergangs Übergang zum Übergang, und der vierte des Übergangs Übergang zu des Übergangs Übergang. Den hohen Sinn dieser Stufenfolge auszulegen, war nun die Pflicht der Eingeweihten, und dieses geschah nach Maßgabe eines gedruckten Büchelchens, in welchem jene seltsamen Worte auf eine noch seltsamere Weise erklärt, oder vielmehr amplificirt waren. Die Beschäftigung mit diesen Dingen war der erwünschteste Zeitverderb. Behrischens Thorheit und Lenzens Verkehrtheit schienen sich hier vereinigt zu haben: nur wiederhole ich, daß auch nicht eine Spur von Zweck hinter diesen Hüllen zu finden war.

Ob ich nun gleich zu solchen Possen sehr gern beirieth, auch zuerst die Perikopen aus den vier Haimonskindern in Ordnung brachte, und Vorschläge that, wie sie bei Festen und Feierlichkeiten vorgelesen werden sollten, auch selbst sie mit großer Emphase vorzutragen verstand, so hatte ich mich doch schon früher an solchen Dingen müde getrieben; und als ich daher meine Frankfurter und Darmstädter Umgebung vermißte, war es mir höchst lieb, Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger Neigung an mich schloß, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiderte. Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geübt und geregelt; er befleißigte sich der französischen Eleganz und freute sich des Theils der englischen Literatur, der sich mit sittlichen und angenehmen Gegenständen beschäftigt. Wir brachten viele vergnügte Stunden zusammen zu, in denen wir uns wechselseitig unsere Kenntnisse, Vorsätze und Neigungen mittheilten. Er regte mich zu manchen kleinen Arbeiten an, zumal da er, mit den Göttingern in Verhältniß stehend, für Boie’s Almanach auch von meinen Gedichten etwas verlangte.

J. Chr. Kestner an A. v. Hennings (Konzept) Herbst 1772 (Berend1 S. 108)

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Wetzlar Mai/Juni 1772

Im Früh Jahr kam hier [Wetzlar] der Doctor Goethe von Franckfurt am Mayn. Er sollte hier die Praxin treiben. Er war 23 Jahr alt und passirte hier für einen Philosophen, welchen Titel er aber nicht auf sich kommen lassen wollte. Die schönen Geister bemüheten sich um seine Bekanntschaft; denn er hatte aus den schönen Wissenschaften sein Hauptwerck gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht den sogenannten Brodwissenschaften; er hassete die Juristerey und bedarf ihrer auch nicht, da sein Vater ausserordentlich reich, er aber der einzige Sohn ist. Ich lernte ihn von ohngefähr kennen, und mein erstes Urtheil von ihm war, daß er kein unbeträchtlicher Mensch sey. Sie wissen, daß ich nicht eilig beurtheile.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0187 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0187.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 198 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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