BuG: BuG I, A 91
Dresden Ende Febr. 1768

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 167)

Dresden Ende Febr. 1768

Mein Stubennachbar [J. Chr. Limprecht], der fleißige Theolog, dem seine Augen leider immer mehr ablegten, hatte einen Verwandten in Dresden, einen Schuster [J. G. Haucke], mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechselte. Dieser Mann war mir wegen seiner Äußerungen schon längst höchst merkwürdig geworden, und die Ankunft eines seiner Briefe ward von uns immer festlich gefeiert. Die Art, womit er die Klagen seines, die Blindheit befürchtenden Vetters erwiderte, war ganz eigen: denn er bemühte sich nicht um Trostgründe, welche immer schwer zu finden sind; aber die heitere Art, womit er sein eignes enges, armes, mühseliges Leben betrachtete, der Scherz, den er selbst den Übeln und Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwüstliche Überzeugung, daß das Leben an und für sich ein Gut sei, theilte sich demjenigen mit, der den Brief las, und versetzte ihn, wenigstens für Augenblicke, in eine gleiche Stimmung. Enthusiastisch wie ich war, hatte ich diesen Mann öfters verbindlich grüßen lassen, seine glückliche Naturgabe gerühmt und den Wunsch, ihn kennen zu lernen, geäußert. Dieses alles vorausgesetzt, schien mir nichts natürlicher als ihn aufzusuchen, mich mit ihm zu unterhalten, ja bei ihm zu wohnen und ihn recht genau kennen zu lernen. Mein guter Candidat gab mir, nach einigem Widerstreben, einen mühsam geschriebenen Brief mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Tasche, mit der gelben Kutsche sehnsuchtsvoll nach Dresden.

Ich suchte nach meinem Schuster und fand ihn bald in der Vorstadt. Auf seinem Schemel sitzend empfing er mich freundlich und sagte lächelnd, nachdem er den Brief gelesen: „Ich sehe hieraus, junger Herr, daß ihr ein wunderlicher Christ seid.“ Wie das, Meister? versetzte ich. „Wunderlich ist nicht übel gemeint,“ fuhr er fort, „man nennt jemand so, der sich nicht gleich ist, und ich nenne Sie einen wunderlichen Christen, weil Sie sich in einem Stück als den Nachfolger des Herrn bekennen, in dem andern aber nicht.“ Auf meine Bitte, mich aufzuklären, sagte er weiter: „Es scheint, daß Ihre Absicht ist, eine fröhliche Botschaft den Armen und Niedrigen zu verkündigen; das ist schön, und diese Nachahmung des Herrn ist löblich; Sie sollten aber dabei bedenken, daß er lieber bei wohlhabenden und reichen Leuten zu Tische saß, wo es gut her ging, und daß er selbst den Wohlgeruch des Balsams nicht verschmähte, wovon Sie wohl bei mir das Gegentheil finden könnten.“

Dieser lustige Anfang setzte mich gleich in guten Humor und wir neckten einander eine ziemliche Weile herum. Die Frau stand bedenklich, wie sie einen solchen Gast unterbringen und bewirthen solle? Auch hierüber hatte er sehr artige Einfälle, die sich nicht allein auf die Bibel, sondern auch auf Gottfrieds Chronik bezogen, und als wir einig waren, daß ich bleiben solle, so gab ich meinen Beutel, wie er war, der Wirthin zum Aufheben und ersuchte sie, wenn etwas nöthig sei, sich daraus zu versehen. Da er es ablehnen wollte und mit einiger Schalkheit zu verstehen gab, daß er nicht so abgebrannt sei, als er aussehen möchte, so entwaffnete ich ihn dadurch, daß ich sagte: und wenn es auch nur wäre, um das Wasser in Wein zu verwandeln, so würde wohl, da heut zu Tage keine Wunder mehr geschehen, ein solches probates Hausmittel nicht am unrechten Orte sein. Die Wirthin schien mein Reden und Handeln immer weniger seltsam zu finden, wir hatten uns bald in einander geschickt und brachten einen sehr heitern Abend zu. Er blieb sich immer gleich, weil alles aus Einer Quelle floß. Sein Eigenthum war ein tüchtiger Menschenverstand, der auf einem heiteren Gemüth ruhte und sich in der gleichmäßigen hergebrachten Thätigkeit gefiel. Daß er unablässig arbeitete, war sein Erstes und Nothwendigstes, daß er alles Übrige als zufällig ansah, dieß bewahrte sein Behagen; und ich mußte ihn vor vielen andern in die Classe derjenigen rechnen, welche praktische Philosophen, bewußtlose Weltweisen genannt wurden.

Dichtung und Wahrheit VIII (WA I 27, 170)

Dresden Ende Febr. 1768

Die Stunde, wo die Galerie eröffnet werden sollte, mit Ungeduld erwartet, erschien ... Ich ließ mir die cursorische Demonstration meines Führers gar wohl gefallen, nur erbat ich mir, in der äußeren Galerie bleiben zu dürfen. Hier fand ich mich, zu meinem Behagen, wirklich zu Hause. Schon hatte ich Werke mehrerer Künstler gesehn, andere kannte ich durch Kupferstiche, andere dem Namen nach; ich verhehlte es nicht und flößte meinem Führer dadurch einiges Vertrauen ein, ja ihn ergötzte das Entzücken, das ich bei Stücken äußerte, wo der Pinsel über die Natur den Sieg davon trug: denn solche Dinge waren es vorzüglich, die mich an sich zogen, wo die Vergleichung mit der bekannten Natur den Werth der Kunst nothwendig erhöhen mußte ...

Ich besuchte die Galerie zu allen vergönnten Stunden, und fuhr fort mein Entzücken über manche köstliche Werke vorlaut auszusprechen. Ich vereitelte dadurch meinen löblichen Vorsatz, unbekannt und unbemerkt zu bleiben; und da sich bisher nur ein Unteraufseher mit mir abgegeben hatte, nahm nun auch der Galerie-Inspector, Rath Riedel, von mir Notiz und machte mich auf gar manches aufmerksam, welches vorzüglich in meiner Sphäre zu liegen schien. Ich fand diesen trefflichen Mann damals eben so thätig und gefällig, als ich ihn nachher mehrere Jahre hindurch gesehen und wie er sich noch heute erweis’t.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0091 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0091.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 98 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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