Goethes Briefe: GB 2, Nr. 19
An Johanna Fahlmer

〈Frankfurt a. M. , zweite Hälfte März? 1773〉 → 〈Frankfurt a. M.〉


Einen Morgen gruss hat Ihnen die liebe Sonne schon geben, der besser ist denn meiner. Doch ist auch der nicht zu verachten. Grüsse Sie also und schicke Worte und Wackefield und Was mehr ist – Wörterbuch. Wo sie Bedeutung und Aussprache nach selbst beliebigen Gefallen forschen und finden können. Und dieses geschieht weil es scheinen will als ob Sie ​ 1 noch einige Tage an mir einen unfleissigen lehrmeister haben würden. Denn ich befinde mich in einem Stand von Perturbation in dem es ​ 2 den Seelen, sagen sie, nicht vorteilhafft ist aus der Welt zu gehn. Demohngeachtet, da sich nichts verdrüssliche noch ängstliches einmischt, binn ich dessen wohl zufrieden. Mögen Sie das auch seyn, und an ​ 3 dem so lieblich vorbey fliessenden Wasser nicht allzu lebhafft empfinden wie schon das wäre, wenn Sie geleitet von Frülingssonn und Lufft dahinab seegelten zur Freud und Wonne der Auserwählten, dazu uns Gott allen Gnädiglich verhelfen wolle. Amen

  1. s ​Sie​ ↑
  2. e× ​s ​ ↑
  3. an​ ↑

Wenn Goethe von Frülingssonn ( 17,3 ) spricht, kann sich dies im vorliegenden Fall nur auf das Frühjahr 1773 beziehen. Er hatte Johanna Fahlmer im Herbst 1772 kennen gelernt. Im Frühjahr 1774 hielt diese sich in Düsseldorf auf (vgl. Goethe-Fahlmer, 7). Aus dem Briefanfang geht aber hervor, dass der Brief innerhalb Frankfurts befördert wurde; für denselben Aufenthaltsort spricht auch, dass Goethe sich als Johanna Fahlmers Englischlehrer betätigte (vgl. 16,17–18 ). Im Frühjahr 1775 schließlich sind Ton und Themen von Goethes Briefen deutlich andere (vgl. Nr 203 , 204 , 206 , 215 , 218 , 220 , 224 , 225 , 228 , 232 ). In seinem nächsten Brief an Johanna Fahlmer, der vermutlich vom 9. April 1773 stammt ( Nr 24 ), schreibt Goethe: liebe Tante liebe Nichte ( 20,7 ); wenn mit letzterer Johanna Fahlmers Nichte Charlotte Jacobi gemeint ist, die Ende März oder Anfang April 1773 nach Frankfurt zu ihrer Tante kam (vgl. Datierung zu Nr 24 ), kann angenommen werden, dass der vorliegende Brief vorher geschrieben wurde, wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des März 1773.

H: Privatbesitz, Deutschland. – 1 Bl. 16,5 × 18,5 cm, 1 S. beschr., egh., Tinte.

E: Goethe-Fahlmer (1875), 23 f., Nr 1.

WA IV 2 (1887), 71 f., Nr 133 (nach E; Korrektur nach E und H in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206).

1) Goldsmith' „The vicar of Wakefield“ (vgl. zu 16,17 ).

2) Ein englisches Wörterbuch (vgl. zu 16,17–18 ).

Ob der Briefanfang auf einen Brief oder ein Billett Johanna Fahlmers antwortet, in dem diese Goethe um einen Morgengruß bat (vgl. Wilhelm Fielitz: Goethestudien. Abhandlung zu dem Programm des Wittenberger Gymnasiums Ostern 1881, S. 5), ist unsicher. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Johanna Catharina Sibylla Fahlmer (1744–1821) war die Tochter des kurpfälzischen Kommerzienrats Georg Christoph (nach anderen Quellen: Christian) Fahlmer aus Frankfurt und dessen zweiter Frau Maria geb. Starck. Der Vater war nach Düsseldorf gezogen und hatte dort ein Manufakturgeschäft gegründet (vgl. Goethe-Fahlmer, 4–6; Mannheimer Geschichtsblätter 1905, Sp. 145 f.). Fahlmer war mütterlicherseits der Großvater der Brüder Johann Georg und Friedrich Heinrich Jacobi, Johanna Fahlmer also deren wenige Jahre jüngere Stieftante, die 1774 auch Goethes Bekanntschaft mit den Jacobis vermittelte. Im Juni 1772 war Johanna Fahlmer mit ihrer Mutter von Düsseldorf nach Frankfurt gezogen; dort verkehrte sie mit Goethes Eltern und im Freundeskreis um Goethes Schwester Cornelia.

Weitläufig war Johanna Fahlmer auch mit Goethe verwandt: Catharina Elisabeth Goethe geb. Textor war eine Schwester der Anna Maria Starck geb. Textor, Frau des Frankfurter Pfarrers Johann Jacob Starck, der Goethes angeheirateter Onkel war. Johanna Fahlmers Mutter Maria war eine geborene Starck. In welcher Beziehung sie zu Goethes Onkel Johann Jacob Starck stand, konnte trotz Mithilfe verschiedener Institutionen (GMD, FDH/FGM, JB) nicht sicher geklärt werden; eine früher im FDH aufbewahrte „Chronik der Familie Starck“ von Adolf Starck (Hamburg-Bergedorf 1931) ist nicht mehr vorhanden. Maria Fahlmer (geb. 1701) könnte eine Schwester von Goethes angeheiratetem Onkel Johann Jacob Starck (geb. 1730) gewesen sein, was trotz des Altersunterschieds von 29 Jahren nicht unmöglich ist; dann wären Goethe und Johanna Fahlmer Cousin und Cousine zweiten Grades. Oder Maria Fahlmer war eine Tante von Goethes angeheiratetem Onkel Johann Jacob Starck. Dann wäre Johanna Fahlmer die Tochter einer angeheirateten Großtante Goethes. (Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Goethe und Johanna Fahlmer nehmen ihren Ausgangspunkt im Geschwisterpaar Heinrich und Elsa von Marxheim im 16. Jahrhundert; vgl. Das Geschlecht Hasenclever im ehemaligen Herzogtum Berg. Hrsg. von Hermann Hasenclever. Bearbeitet von Bruno Ewald Hugo Gerstmann. Bd 2. Remscheid und Leipzig 1924, Tafel 15; Mitteilungen der Genealogischen Gesellschaft zu Frankfurt a. M. Heft 2. 1920, Tafel 3, S. 24.)

Goethe lernte Johanna Fahlmer kennen, nachdem er am 11. September 1772 aus Wetzlar, wo er sich seit Mitte Mai 1772 als Praktikant des Reichskammergerichts aufgehalten hatte, nach Frankfurt zurückgekehrt war. Johanna Fahlmer wurde in ihrem Freundeskreis als „liebe, liebevolle, schwermüthige Seele“ beschrieben (Friedrich Heinrich Jacobi an Sophie La Roche, 10. August 1774; JB I 1, 242); auch Goethe rühmt noch in „Dichtung und Wahrheit“ die große Zartheit ihres Gemüths und die ungemeine Bildung des Geistes (AA DuW 1, 511 f. [14. Buch]) und erinnert sich: Sie beschämte uns nach und nach durch ihre Geduld mit unserer grellen oberdeutschen Manier, sie lehrte uns Schonung, indem sie uns fühlen ließ, daß wir derselben auch wohl bedürften. (Ebd., 512.) Es entwickelte sich ein freundschaftlich-vertrauliches Verhältnis zu der nur fünf Jahre älteren Frau, die Goethe mit der in der Familie gebräuchlichen Anrede ‚Tante‘ oder ‚Täntchen‘ anzusprechen pflegte. In seinen Briefen äußert er sich in großer Offenheit und Unmittelbarkeit über Persönliches und Literarisches, über Arbeiten, Pläne und Stimmungen. Das Verhältnis zu Johanna Fahlmer kühlte sich auf Seiten Goethes erst ab, als sie am 29. September 1779 Johann Georg Schlosser heiratete, der seit dem Tod von Goethes Schwester Cornelia (am 8. Juni 1777) verwitwet war. Auch Johanna Fahlmer trat im Lauf der Zeit unter dem Einfluss der sich verstärkenden weltanschaulichen und religiösen Differenzen zwischen Schlosser und Goethe in eine zunehmend kritische Distanz zu Goethe und dessen Werk.

Der vorliegende Band enthält 38 der insgesamt 50 überlieferten Briefe Goethes an Johanna Fahlmer; ein Brief wurde erschlossen (vgl. EB 13 ). Antwortbriefe aus dem Zeitraum bis zur Übersiedlung Goethes nach Weimar sind nicht bekannt oder nicht überliefert. Goethe hat sie vermutlich verbrannt (vgl. dessen Tagebücher, 2. und 9. Juli 1797 [GT II 1, 119 und 120] sowie die „Tag- und Jahres-Hefte“ für 1797 [WA I 35, 73]).

Worte und Wackefield] Johanna Fahlmer benutzte für ihr Englischstudium, in dem sie von Goethe unterstützt wurde, offenbar Oliver Goldsmith' Roman „The vicar of Wakefield“ (London 1766). Wahrscheinlich hatte sie ihr Exemplar Goethe gegeben und ihn gebeten, ihr unverständliche Worte zu erläutern. Die von Wilhelm Fielitz (vgl. Goethestudien, S. 5 f., Anm.) für Worte vorgeschlagene Konjektur „Warton“ (Thomas Warton, englischer Dichter), aus dessen Gedicht „The suicide“ Goethe im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ zitiert (vgl. AA DuW 1, 480), ist aufgrund der eindeutigen Schreibung in H auszuschließen.

Wörterbuch] Welches Wörterbuch Goethe überschickte, ist nicht bekannt. In der Bibliothek seines Vaters (vgl. Götting, 34) befanden sich Wörterbücher von Theodor Arnold (A Compleat Vocabulary, English and German, Oder: vollständig kleines Wörter-Buch, Englisch und Deutsch. Leipzig 1757), Nathan Bailey (A compleat English dictionary, oder vollständiges Englisch-Deutsches Wörterbuch 〈…〉. Anfangs von Nathan Bailey in einem kurzen Compendio herausgegeben, bey dieser dritten Auflage aber um noch mehr als die Hälfte vermehret von Theodor Arnold. Leipzig und Züllichau 1761), Johann König (Der getreue Englische Weg-Weiser. Leipzig 1740) sowie von Christian Ludwig (Leipzig 1757; diese Ausgabe konnte nicht nachgewiesen werden, lediglich folgende: A Dictionary English, German and French 〈…〉. Third Edition. Leipzig 1763).

Perturbation] Lat. perturbatio: Verwirrung, Bestürzung. – Vermutlich gehörte die bevorstehende Vermählung Johann Christian Kestners mit Charlotte Buff zu den Ursachen von Goethes Zustand. Vielleicht hinderte auch die Arbeit am „Götz von Berlichingen“ Goethe, weitere Englischstunden zu geben.

aus der Welt zu gehn] Die Todesmetaphorik, welche mehr scherzhaft als ernsthaft die zweite Hälfte des Briefes bestimmt, könnte mit der Lektüre von Goldsmith' Roman in Zusammenhang stehen. Fielitz verweist auf das 28. und 29. Kapitel, in denen vom Weg der Seele aus der Welt ins Jenseits und von dessen Freuden die Rede ist; vgl. im Einzelnen: Goethestudien, S. 5.

verdrüssliche] Wortabbruch am Seitenrand.

vorbey fliessenden Wasser] Gemeint ist der Main.

dahinab seegelten] Ob damit im Sinne der Todesmotivik ein Sterben im Wasser und Eingehen ins Jenseits gemeint ist (vgl. Fielitz, Goethestudien, S. 5) oder ob es sich um eine Anspielung auf Johanna Fahlmers Plan einer Reise nach Düsseldorf handelt, die freilich erst im September 1773 zustande kam (vgl. Goethe-Fahlmer, 23; DjG​2 6, 260; DjG​3 3, 416), ist nicht zu entscheiden.

Amen] Vgl. GB 1 II, zu 212,23 .

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 19 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR019_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 16–17, Nr 19 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 35–38, Nr 19 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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