BuG: BuG I, A 13
Frankfurt Ende 50er Jahre

Dichtung und Wahrheit II (WA I 26, 75. 99)

Frankfurt Ende 50er Jahre

Weit beharrlicher ... war ich, mit Hülfe unsers Bedienten, eines Schneiders von Profession, eine Rüstkammer auszustatten, welche zu unsern Schau- und Trauerspielen dienen sollte, die wir, nachdem wir den Puppen über den Kopf gewachsen waren, selbst aufzuführen Lust hatten. Meine Gespielen verfertigten sich zwar auch solche Rüstungen und hielten sie für eben so schön und gut als die meinigen; allein ich hatte es nicht bei den Bedürfnissen Einer Person bewenden lassen, sondern konnte mehrere des kleinen Heeres mit allerlei Requisiten ausstatten, und machte mich daher unserm kleinen Kreise immer nothwendiger. Daß solche Spiele auf Parteiungen, Gefechte und Schläge hinwiesen, und gewöhnlich auch mit Händeln und Verdruß ein schreckliches Ende nahmen, läßt sich denken. In solchen Fällen hielten gewöhnlich gewisse bestimmte Gespielen an mir, andre auf der Gegenseite, ob es gleich öfter manchen Parteiwechsel gab. Ein einziger Knabe, den ich Pylades nennen will, verließ nur ein einzigmal, von den andern aufgehetzt, meine Partei, konnte es aber kaum eine Minute aushalten, mir feindselig gegenüber zu stehen; wir versöhnten uns unter vielen Thränen, und haben eine ganze Weile treulich zusammen gehalten.

Diesen so wie andre Wohlwollende konnte ich sehr glücklich machen, wenn ich ihnen Mährchen erzählte, und besonders liebten sie, wenn ich in eigner Person sprach, und hatten eine große Freude, daß mir als ihrem Gespielen so wunderliche Dinge könnten begegnet sein, und dabei gar kein Arges, wie ich Zeit und Raum zu solchen Abenteuern finden können, da sie doch ziemlich wußten, wie ich beschäftigt war, und wo ich aus- und einging. Nicht weniger waren zu solchen Begebenheiten Localitäten, wo nicht aus einer andern Welt, doch gewiß aus einer andern Gegend nöthig, und alles war doch erst heut oder gestern geschehen.

[Folgt: Der neue Paris]

Dieses Mährchen, von dessen Wahrheit meine Gespielen sich leidenschaftlich zu überzeugen trachteten, erhielt großen Beifall. Sie besuchten, jeder allein, ohne es mir oder den andern zu vertrauen, den angedeuteten Ort, fanden die Nußbäume, die Tafel und den Brunnen, aber immer entfernt von einander: wie sie zuletzt bekannten, weil man in jenen Jahren nicht gern ein Geheimniß verschweigen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der eine versicherte: die Gegenstände rückten nicht vom Flecke und blieben immer in gleicher Entfernung unter einander. Der zweite behauptete: sie bewegten sich, aber sie entfernten sich von einander. Mit diesem war der dritte über den ersten Punct der Bewegung einstimmig, doch schienen ihm Nußbäume, Tafel und Brunnen sich vielmehr zu nähern. Der vierte wollte noch was Merkwürdigeres gesehen haben: die Nußbäume nämlich in der Mitte, die Tafel aber und den Brunnen auf den entgegengesetzten Seiten als ich angegeben. In Absicht auf die Spur des Pförtchens variirten sie auch ... Als ich die Fortsetzung meines Mährchens hartnäckig verweigerte, ward dieser erste Theil öfters wieder begehrt. Ich hütete mich, an den Umständen viel zu verändern, und durch die Gleichförmigkeit meiner Erzählung verwandelte ich in den Gemüthern meiner Zuhörer die Fabel in Wahrheit.

Bettina Brentano an Goethe 28. 11. 1810 (Bergemann S. 328)

Frankfurt Ende 50er Jahre

[Nach Elisabeth Goethe] Einmal zur Herbstlese, wo denn in Frankfurth am Abend in allen Gärten Feuerwerke abbrennen und von allen Seiten Raquetten aufsteigen, bemerkte man in den entferntesten Feldern, wo sich die Festlichkeit nicht hin erstreckt hatte, viele Irrlichter, die hin und herhüpften, bald auseinander bald wieder eng zusammen, endlich fingen sie gar an, figurierte Tänze auf zu führen; wenn man nun näher drauf loß kam, verlosch ein Irrlicht nach dem andern, manche thaten noch große Säzze und verschwanden, andere blieben mitten in der Luft und verloschen dann plözlich, andere sezten sich auf Hecken und Bäume – weg waren sie; die Leute fanden nichts, gingen wieder zurück: gleich fing der Tanz von vorne an, ein Lichtlein nach dem andern stellte sich wieder ein und tanzte um die halbe Stadt herum. was wars? – Goethe, der mit vielen Cameraden, die sich Lichter auf die Hüte gesteckt hatten, da draußen herum tanzte.

Bettina Brentano an Goethe 28. 11. 1810 (Bergemann S. 328)

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Frankfurt Ende 50er Jahre

Einmal stand jemand am Fenster bei Deiner Mutter, da Du eben über die Straße herkamst mit mehreren andern Knaben; sie bemerkten, daß Du sehr gravitätisch einherschrittest, und hielten Dir vor, daß Du Dich mit Deinem Gradehalten sehr sonderbar von den andern Knaben auszeignetest. – mit diesem mache ich den Anfang, sagtest Du, und späther werd ich mich mit noch allerlei auszeignen.

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 198)

Frankfurt Ende 50er Jahre

Ich hatte schon als Kind, meine Eltern begleitend, ihn [Rektor Albrecht] manchmal besucht ... Ohne mir unbequem zu sein, examinirte er mich so oft er mich sah, und lobte und ermunterte mich. Eines Tages, bei der Translocation nach öffentlichem Examen, sah er mich als einen auswärtigen Zuschauer, während er die silbernen praemia virtutis et diligentiae austheilte, nicht weit von seinem Katheder stehen. Ich mochte gar sehnlich nach dem Beutelchen blicken, aus welchem er die Schaumünzen hervorzog; er winkte mir, trat eine Stufe herunter und reichte mir einen solchen Silberling. Meine Freude war groß, obgleich andre diese einem Nicht-Schulknaben gewährte Gabe außer aller Ordnung fanden.

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 182)

Frankfurt Ende 50er Jahre

Der Legationsrath Moritz ... kam von jetzt an auch öfters in unser Haus. Er ... war ein Freund der Mathematik, und weil diese in seinem gegenwärtigen Lebensgange gar nicht vorkam, so machte er sich ein Vergnügen daraus, mir in diesen Kenntnissen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, meine architektonischen Risse genauer als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeisters, der uns jetzt auch täglich eine Stunde beschäftigte, besser zu nutzen.

Dieser gute alte Mann [J. M. Eben] war freilich nur ein Halbkünstler. Wir mußten Striche machen und sie zusammensetzen, woraus denn Augen und Nasen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Gesichter und Köpfe entstehen sollten; allein es war dabei weder an natürliche noch künstliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeitlang mit diesem Qui pro Quo der menschlichen Gestalt gequält, und man glaubte uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als wir die sogenannten Affecten von Le Brun zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch diese Zerrbilder förderten uns nicht. Nun schwankten wir zu den Landschaften, zum Baumschlag und zu allen den Dingen, die im gewöhnlichen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geübt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Werth des Originals oder dessen Geschmack zu bekümmern.

In diesem Bestreben ging uns der Vater auf eine musterhafte Weise vor. Er hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da seine Kinder diese Kunst trieben, nicht zurückbleiben ... Sein anhaltender unermüdlicher Fleiß ging so weit, daß er die ganze ansehnliche Sammlung nach allen ihren Nummern durchzeichnete, indessen wir Kinder von einem Kopf zum andern sprangen, und uns nur die auswählten, die uns gefielen.

*Böttiger, Lit. Zustände 1, 58

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Frankfurt Ende 50er Jahre

Göthes Vater war ein steifer, ceremonieuser Frankfurter Ratsherr. Alles eckigte, gezwungen gezwickte Ministerartige hat Göthe von seinem Vater, der ihn übrigens in früher Jugend selbst unterrichtete, und überhaupt ein sehr gelehrter Mann war ... Das gewande, genialische hat er von seiner Mutter. Als Knabe war er sehr ernsthaft und ärgerte sich, wenn seine Gespiele, die er oft hofmeisterte, Polissonerien begingen. So war er in einer gemeinschaftlichen Zeichenstunde der fleisigste, Huschen [Hüsgen] aber (noch jetzt ein Kunstkenner in Frankfurt von welchem wir ein artistisches Magazin ... haben) war immer unfleisig, und aß Wecken. Da rief Göthe immer: der Hußchen frißt Wecken. Auch war er Schiedsrichter, wenn sich die andern bei den Perrücken zerrten. Denn damals trugen die Knaben noch Perrücken ... Ex ore Gerningii (26. 11. 1798).

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 188)

Frankfurt Ende 50er Jahre

Ein Hausfreund, dessen Jugend in die Zeit gefallen war, in welcher die Elektrizität alle Geister beschäftigte, erzählte uns öfter, wie er als Knabe eine solche Maschine zu besitzen gewünscht, wie er sich die Hauptbedingungen abgesehen, und mit Hülfe eines alten Spinnrades und einiger Arzneigläser ziemliche Wirkungen hervorgebracht. Da er dieses gern und oft wiederholte, und uns dabei von der Elektrizität überhaupt unterrichtete; so fanden wir Kinder die Sache sehr plausibel, und quälten uns mit einem alten Spinnrade und einigen Arzneigläsern lange Zeit herum, ohne auch nur die mindeste Wirkung hervorbringen zu können. Wir hielten dessen ungeachtet am Glauben fest, und waren sehr vergnügt, als zur Meßzeit, unter andern Raritäten, Zauber- und Taschenspielerkünsten, auch eine Elektrisirmaschine ihre Kunststücke machte, welche, so wie die magnetischen, für jene Zeit schon sehr vervielfältigt waren.

Dichtung und Wahrheit III (WA I 26, 166)

Frankfurt Ende 50er Jahre

Meine Leidenschaft zu dem französischen Theater wuchs mit jeder Vorstellung; ich versäumte keinen Abend, ob ich gleich jedesmal, wenn ich nach dem Schauspiel mich zur speisenden Familie an den Tisch setzte und mich gar oft nur mit einigen Resten begnügte, die stäten Vorwürfe des Vaters zu dulden hatte: das Theater sei zu gar nichts nütze, und könne zu gar nichts führen. Ich rief in solchem Falle gewöhnlich alle und jede Argumente hervor, welche den Vertheidigern des Schauspiels zur Hand sind, wenn sie in eine gleiche Noth wie die meinige gerathen. Das Laster im Glück, die Tugend im Unglück wurden zuletzt durch die poetische Gerechtigkeit wieder in’s Gleichgewicht gebracht. Die schönen Beispiele von bestraften Vergehungen, Miß Sara Sampson und der Kaufmann von London wurden sehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen öfters den Kürzern, wenn die Schelmstreiche Scapins und dergleichen auf dem Zettel standen, und ich mir das Behagen mußte vorwerfen lassen, das man über die Betrügereien ränkevoller Knechte, und über den guten Erfolg der Thorheiten ausgelassener Jünglinge im Publicum empfinde. Beide Parteien überzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater sehr bald mit der Bühne ausgesöhnt, als er sah, daß ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der französischen Sprache zunahm.

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 280)

Frankfurt Ende 50er Jahre

Von früher Jugend an hatte mir und meiner Schwester der Vater selbst im Tanzen Unterricht gegeben, welches einen so ernsthaften Mann wunderlich genug hätte kleiden sollen; allein er ließ sich auch dabei nicht aus der Fassung bringen, unterwies uns auf das bestimmteste in den Positionen und Schritten, und als er uns weit genug gebracht hatte, um eine Menuett zu tanzen, so blies er auf einer Flûte-douce uns etwas Faßliches im Dreiviertel-Tact vor, und wir bewegten uns darnach so gut wir konnten. Auf dem französischen Theater hatte ich gleichfalls von Jugend auf wo nicht Ballette, doch Solos und Pas-de-deux gesehn und mir davon mancherlei wunderliche Bewegungen der Füße und allerlei Sprünge gemerkt. Wenn wir nun der Menuett genug hatten, so ersuchte ich den Vater um andere Tanzmusiken, dergleichen die Notenbücher in ihren Giguen und Murkis reichlich darboten, und ich erfand mir sogleich die Schritte und übrigen Bewegungen dazu, indem der Tact meinen Gliedern ganz gemäß und mit denselben geboren war. Dieß belustigte meinen Vater bis auf einen gewissen Grad, ja er machte sich und uns manchmal den Spaß, die Affen auf diese Weise tanzen zu lassen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0013 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0013.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 17 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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