BuG: BuG I, A 201
Gießen 18. 8. 1772

J. Chr. Kestner, Tagebuch 18. 8. 1772 (Berend1 S. 101)

Gießen 18. 8. 1772

den 18. Goethe, der den KriegsZahlmeister Merck von Darmstadt hier [Wetzlar] erwartet hatte, ging nach Giessen zu Fuß, traf dort H. Merck schon an, bei KriegsZahlmeister Pfaff, wo Lottgen auch war; sie assen zusammen in Gesellschaft Professor Höpfner p.

Merck an Luise Franziska Merck 18. 8. 1772 (Wagner3 S. 59)

Gießen 18. 8. 1772

Dans ce moment je reviens de Mr. Pfaff, où j’ai trouvé aussi l’amie de Goethe de Wetzlar ... Nous passerons la soirée avec elle.

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 158)

Gießen 18. 8. 1772

In Gießen befand sich Höpfner, Professor der Rechte. Er war als tüchtig in seinem Fach, als denkender und wackerer Mann, von Mercken und Schlossern anerkannt und höchlich geehrt. Schon längst hatte ich seine Bekanntschaft gewünscht, und nun, als jene beiden Freunde bei ihm einen Besuch abzustatten gedachten, um über literarische Gegenstände zu unterhandeln, ward beliebt, daß ich bei dieser Gelegenheit mich gleichfalls nach Gießen begeben sollte. Weil wir aber, wie es in dem Übermuth froher und friedlicher Zeiten zu geschehn pflegt, nicht leicht etwas auf geradem Wege vollbringen konnten, sondern, wie wahrhafte Kinder, auch dem Nothwendigen irgend einen Scherz abzugewinnen suchten, so sollte ich, als der Unbekannte, in fremder Gestalt erscheinen, und meiner Lust, verkleidet aufzutreten, hier abermals Genüge thun. An einem heiteren Morgen, vor Sonnenaufgang, schritt ich daher von Wetzlar an der Lahn hin, das liebliche Thal hinauf; solche Wanderungen machten wieder mein größtes Glück. Ich erfand, verknüpfte, arbeitete durch, und war in der Stille mit mir selbst heiter und froh; ich legte mir zurecht, was die ewig widersprechende Welt mir ungeschickt und verworren aufgedrungen hatte. Am Ziele meines Weges angelangt, suchte ich Höpfners Wohnung und pochte an seine Studirstube. Als er mir herein! gerufen hatte, trat ich bescheidentlich vor ihn, als ein Studirender, der von Akademien sich nach Hause verfügen und unterwegs die würdigsten Männer wollte kennen lernen. Auf seine Fragen nach meinen näheren Verhältnissen war ich vorbereitet; ich erzählte ein glaubliches prosaisches Mährchen, womit er zufrieden schien, und als ich mich hierauf für einen Juristen angab, bestand ich nicht übel: denn ich kannte sein Verdienst in diesem Fach und wußte, daß er sich eben mit dem Naturrecht beschäftigte. Doch stockte das Gespräch einige Mal, und es schien, als wenn er einem Stammbuch oder meiner Beurlaubung entgegensähe. Ich wußte jedoch immer zu zaudern, indem ich Schlossern gewiß erwartete, dessen Pünctlichkeit mir bekannt war. Dieser kam auch wirklich, ward von seinem Freund bewillkommnet, und nahm, als er mich von der Seite angesehn, wenig Notiz von mir. Höpfner aber zog mich in’s Gespräch und zeigte sich durchaus als einen humanen wohlwollenden Mann. Endlich empfahl ich mich und eilte nach dem Wirthshause, wo ich mit Mercken einige flüchtige Worte wechselte und das Weitere verabredete.

Die Freunde hatten sich vorgenommen, Höpfnern zu Tische zu bitten und zugleich jenen Christian Heinrich Schmidt, der in dem deutschen Literarwesen zwar eine sehr untergeordnete, aber doch eine Rolle spielte. Auf diesen war der Handel eigentlich angelegt, und er sollte für manches, was er gesündigt hatte, auf eine lustige Weise bestraft werden. Als die Gäste sich in dem Speisesaale versammelt hatten, ließ ich durch den Kellner fragen, ob die Herren mir erlauben wollten mitzuspeisen? Schlosser, dem ein gewisser Ernst gar wohl zu Gesicht stand, widersetzte sich, weil sie ihre freundschaftliche Unterhaltung nicht durch einen Dritten wollten gestört wissen. Auf das Andringen des Kellners aber und die Fürsprache Höpfners, der versicherte, daß ich ein leidlicher Mensch sei, wurde ich eingelassen, und betrug mich zu Anfang der Tafel bescheiden und verschämt. Schlosser und Merck thaten sich keinen Zwang an, und ergingen sich über manches so offen, als wenn kein Fremder dabei wäre. Die wichtigsten literarischen Angelegenheiten so wie die bedeutendsten Männer kamen zur Sprache. Ich erwies mich nun etwas kühner, und ließ mich nicht stören, wenn Schlosser mir manchmal ernstlich, Merck spöttisch etwas abgab; doch richtete ich auf Schmidten alle meine Pfeile, die seine mir wohlbekannten Blößen scharf und sicher trafen.

Ich hatte mich bei meinem Nößel Tischwein mäßig verhalten; die Herren aber ließen sich besseren reichen, und ermangelten nicht, auch mir davon mitzutheilen. Nachdem viele Angelegenheiten des Tags durchgesprochen waren, zog sich die Unterhaltung in’s Allgemeine, und man behandelte die Frage, die, so lange es Schriftsteller gibt, sich immer wiederholen wird, ob nämlich die Literatur im Auf- oder Absteigen, im Vor- oder Rückschritt begriffen sei? Diese Frage, worüber sich besonders Alte und Junge, Angehende und Abtretende selten vergleichen, sprach man mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade die Absicht gehabt hätte, sich darüber entschieden zu verständigen. Zuletzt nahm ich das Wort und sagte: „Die Literaturen, scheint es mir, haben Jahreszeiten, die mit einander abwechselnd, wie in der Natur, gewisse Phänomene hervorbringen, und sich der Reihe nach wiederholen. Ich glaube daher nicht, daß man irgend eine Epoche einer Literatur im Ganzen loben oder tadeln könne; besonders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse Talente, die von der Zeit hervorgerufen werden, so hoch erhebt und rühmt, andere dagegen schilt und niederdrückt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das Frühjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks. Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl thun, und die Mücken, welche dem Gefühl so verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwärme hervorgerufen; beherzigte man dieß, so würde man dieselbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hören, und die vergebliche Mühe, dieses und jenes Mißfällige auszurotten, würde nicht so oft verschwendet werden.“ Die Gesellschaft sah mich mit Verwunderung an, woher mir so viele Weisheit und so viele Toleranz käme? Ich aber fuhr ganz gelassen fort, die literarischen Erscheinungen mit Naturproducten zu vergleichen, und ich weiß nicht, wie ich sogar auf die Mollusken kam, und allerlei Wunderliches von ihnen herauszusetzen wußte. Ich sagte, es seien dieß Geschöpfe, denen man zwar eine Art von Körper, ja sogar eine gewisse Gestalt, nicht abläugnen könne; da sie aber keine Knochen hätten, so wüßte man doch nichts Rechts mit ihnen anzufangen, und sie seien nichts Besseres als ein lebendiger Schleim; jedoch müsse das Meer auch solche Bewohner haben. Da ich das Gleichniß über die Gebühr fortsetzte, um den gegenwärtigen Schmidt und diese Art der charakterlosen Literatoren zu bezeichnen, so ließ man mich bemerken, daß ein zu weit ausgedehntes Gleichniß zuletzt gar nichts mehr sei. – „So will ich auf die Erde zurückkehren! versetzte ich, und vom Epheu sprechen. Wie jene keine Knochen, so hat dieser keinen Stamm, mag aber gern überall, wo er sich anschmiegt, die Hauptrolle spielen. An alte Mauern gehört er hin, an denen ohnehin nichts mehr zu verderben ist, von neuen Gebäuden entfernt man ihn billig; die Bäume saugt er aus, und am allerunerträglichsten ist er mir, wenn er an einem Pfahl hinaufklettert und versichert, hier sei ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe.“

Ungeachtet man mir abermals die Dunkelheit und Unanwendbarkeit meiner Gleichnisse vorwarf, ward ich immer lebhafter gegen alle parasitischen Creaturen, und machte, so weit meine damaligen Naturkenntnisse reichten, meine Sachen noch ziemlich artig. Ich sang zuletzt ein Vivat allen selbstständigen Männern, ein Pereat den Andringlingen, ergriff nach Tische Höpfners Hand, schüttelte sie derb, erklärte ihn für den bravsten Mann von der Welt, und umarmte ihn so wie die andern zuletzt recht herzlich. Der wackere neue Freund glaubte wirklich zu träumen, bis endlich Schlosser und Merck das Räthsel auflös’ten und der entdeckte Scherz eine allgemeine Heiterkeit verbreitete, in welche Schmidt selbst mit einstimmte, der durch Anerkennung seiner wirklichen Verdienste, und durch unsere Theilnahme an seinen Liebhabereien, wieder begütigt wurde. Diese geistreiche Einleitung konnte nicht anders als den literarischen Congreß beleben und begünstigen, auf den es eigentlich angesehn war.

K. Wagner nach L. J. F. Höpfner (Wagner3 S. 186)

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Gießen 18. 8. 1772

Ganz anders [als in Dichtung und Wahrheit] nahm sie [die Begegnung Goethes mit Höpfner] sich (nach glaubwürdigster Erzählung) im Munde Höpfners aus, wenn er sie dramatisirte, die seltsame Erscheinung des wunderschönen jungen Menschen mit den feuervollen Augen und dem unbeholfnen linkischen Anstande beschrieb, seine komischen Reden wiederholte und dann endlich zur Explosion kam, wie der blöde Student aufsprang und Höpfnern um den Hals fiel, mit den Worten: „Ich bin Goethe! Verzeihen Sie mir meine Posse, lieber H[öpfner]; aber ich weiß, daß man bei der gewöhnlichen Art, durch einen Dritten mit einander bekannt gemacht zu werden, lange sich gegenüber steif und fremd bleibt, und da dachte ich, wollte ich in Ihre Freundschaft lieber gleich mit beiden Füßen hineinspringen und so, hoff’ ich, soll’s zwischen uns sein und werden durch den Spaß, den ich mir erlaubt habe.“

Hallwachs nach Marianne Höpfner (GJb 6, 345)

B2 34

Gießen 18. 8. 1772

Eines Tags meldete sich ein junger Mann in vernachlässigter Kleidung und mit linkischer Haltung zum Besuche bei Höpfner mit dem Vorbringen an, er habe dringend mit dem Herrn Professor etwas zu sprechen. Höpfner, obgleich damit beschäftigt, sich zum Gang in eine Vorlesung vorzubereiten, nahm den jungen Mann an. Die ganze Art und Weise, wie sich derselbe beim Eintreten und Platznehmen anstellte, liess Höpfner vermuthen, dass er es mit einem Studenten zu thun habe, der sich in Geldverlegenheiten befinde. In dieser Ansicht wurde Höpfner dadurch bestärkt, dass der junge Mann damit seine Unterhaltung anfing, in ausführlichster Weise seine Familien- und Lebensverhältnisse zu schildern, und dabei von Zeit zu Zeit durchblicken liess, dass diese nicht die glänzendsten seien. Gedrängt durch die herannahende Collegstunde entschloss sich der Professor sehr bald, dem jungen Mann ohne Weiteres eine Geldunterstützung zufliessen zu lassen und damit zugleich der peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen. Kaum gab er jedoch diese Absicht dadurch zu erkennen, dass er nach dem Geldbeutel in seiner Tasche suchte, so wendete der vermeintliche Bettelstudent das Gespräch wissenschaftlichen Fragen zu und entfernte sehr bald den Verdacht, dass er gekommen um ein Geldgeschenk in Anspruch zu nehmen. Sobald der junge Mann bemerkte, dass der Herr Professor eine andere Ansicht von ihm gewonnen, nahm das Gespräch jedoch die alte Wendung und die Andeutung des Studenten, dass es schliesslich doch auf das Verlangen nach einer Unterstützung abgesehen sei, wurde immer verständlicher. Nachdem Höpfner auf diese Weise ein und das andere Mal sich in der Lage befunden hatte, dem jungen Manne Geld anzubieten und dann wieder davon abstehen zu müssen glaubte, entfernte sich der Student rasch und liess den Herrn Professor voll Zweifel und Vermuthung über diesen räthselhaften Besuch zurück.

Als Höpfner am Abend desselben Tages, doch etwas später wie gewöhnlich in das Lokal trat, wo sich die Professoren der Universität gesellschaftlich zusammen zu finden pflegten, fand er daselbst ein vollständiges Durcheinander. Die ganz besonders zahlreiche Gesellschaft war um einen einzigen Tisch herum gruppirt, theils sitzend, theils stehend, ja einige der gelehrten Herren standen auf Stühlen und schauten über die Köpfe ihrer Collegen in den Kreis der Versammelten hinein, aus dessen Mitte die volle Stimme eines Mannes hervordrang, der mit begeisterter Rede seine Zuhörer bezauberte. Auf Höpfners Frage, was da vorgehe, wird ihm die Antwort: Goethe aus Wetzlar sei schon seit einer Stunde hier. Die Unterhaltung habe nach und nach sich so gestaltet, dass Goethe fast allein nur spräche und alle verwundert und begeistert ihm zuhörten.

Höpfner voll Verlangen den Dichter zu sehen, besteigt einen Stuhl, schaut in den Kreis hinein und erblickt seinen Bettelstudenten zu einem Götterjüngling umgewandelt. Höpfners Erstaunen lässt sich denken.

L. J. F. Höpfner an R. E. Raspe 16. 8. 1772 (Weimar. Jahrbuch 3, 65)

B2 33a

Gießen 18. 8. 1772

Heute Abend oder Morgen kommt unser Merk zu mir. Wären Sie doch auch bey uns. Sie und Gotter und Göthe, (ein Mann von grosen Talenten) und Merk, was sollte das für eine Freude seyn, auch für mich.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0201 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0201.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 203 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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