Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 58
Von Gottfried August Bürger

Januar 1776, Wöllmarshausen

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   Ich bin todt, mein lieber Junge, und in kalten Wasserfluthen versoffen, und versaufe täglich immer mehr und sterbe täglich immer mehr. Meine Lebenssäfte sind ausgetrocknet oder erstarrt bis auf die Galle. Diese ist nun einzige und Selbstherrscherinn meiner ganzen Maschine. Wie gefällt Dir Timon, zu deütsch Gifftmichel, in seiner Höhle? Und wie die Ogres, die so gern frisches Kinderfleisch wittern und fressen mögen? Wenn ich Dich nicht auch für einen Gifftmichel hielte, wenn ich wüste, daß Du ein galanter Menschenfreünd wärest, so würd' ich keinen Schritt mehr nach Dir thun. –


   Ich habe ein gutes Weib und ein schönes Kind vom zweyten Geschlecht, aber was helfen die einem Herzen, über welchem Basilisken brüten. Wie oft ärgere ich mich, daß Die mich nicht ärgern können und wollen. –


   Apropos! mein lieber Göthe, schreib mir doch mal bey Gelegenheit, ob Du Dich kennst? Und wie Dus anfängst Dich kennen zu lernen? Denn ich lern' es nimmer mehr, und kenne Keinen weniger als mich selbst.


   Wenn Du was gemacht hast, das den bösen Geist auf ein Weilchen aus mir heraus bannen kann, so must Du mirs selbst nachweisen,
denn ich liege verrammelt und scheere mich um nichts, was draußen
vorgehet.


   An Deinem Meisterstück sollen ja viele Saüen grunzen und sich
dran reiben und viele Hunde das Bein aufheben. Sie werdens aber
wohl nicht umgrunzen, umreiben, umseichen.


S:  -  D:  BrBü Nr. 202  B : 1775 Oktober 18 (WA IV 2, Nr. 362)  A : 1776 Februar 2 (WA IV 3, Nr. 399)  V:  Druck 

Depressive Urteile über seine derzeitige Lage, obwohl er ein gutes Weib und ein schönes Kind habe: Meine Lebenssäfte sind ausgetrocknet [...]. Wenn G. kein galanter Menschenfreünd wäre, würde B. keinen Schritt mehr nach ihm tun. G. möge ihm schreiben, ob er sich selber kenne und wie er es anfange, sich kennenzulernen. B. kenne Keinen weniger als sich selbst. Mit einem neuen Werk konnte G. es versuchen, den bösen Geist aus B. zu bannen. Von der Kritik an G.s Meisterstück ("Die Leiden des jungen Werthers").

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  Ich bin todt, mein lieber Junge, und in kalten Wasserfluthen versoffen, und versaufe täglich immer mehr und sterbe täglich immer mehr. Meine Lebenssäfte sind ausgetrocknet oder erstarrt bis auf die Galle. Diese ist nun einzige und Selbstherrscherinn meiner ganzen Maschine. Wie gefällt Dir Timon, zu deütsch Gifftmichel, in seiner Höhle? Und wie die Ogres, die so gern frisches Kinderfleisch wittern und fressen mögen? Wenn ich Dich nicht auch für einen Gifftmichel hielte, wenn ich wüste, daß Du ein galanter Menschenfreünd wärest, so würd' ich keinen Schritt mehr nach Dir thun. –

  Ich habe ein gutes Weib und ein schönes Kind vom zweyten Geschlecht, aber was helfen die einem Herzen, über welchem Basilisken brüten. Wie oft ärgere ich mich, daß Die mich nicht ärgern können und wollen. –

  Apropos! mein lieber Göthe, schreib mir doch mal bey Gelegenheit, ob Du Dich kennst? Und wie Dus anfängst Dich kennen zu lernen? Denn ich lern' es nimmer mehr, und kenne Keinen weniger als mich selbst.

  Wenn Du was gemacht hast, das den bösen Geist auf ein Weilchen aus mir heraus bannen kann, so must Du mirs selbst nachweisen, denn ich liege verrammelt und scheere mich um nichts, was draußen vorgehet.

  An Deinem Meisterstück sollen ja viele Saüen grunzen und sich dran reiben und viele Hunde das Bein aufheben. Sie werdens aber wohl nicht umgrunzen, umreiben, umseichen.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 58, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0058_00062.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 58.

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