Goethes Briefe: GB 2, Nr. 196
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

Frankfurt a. M. , 13. Februar 1775. Montag → 〈Uetersen〉

〈Druck〉


Wenn Sie sich, meine liebe, einen Goethe vorstellen konnen, der im galonirten Rock, sonst von Kopf zu Fuse auch in leidlich konsistenter Galanterie, umleuchtet vom unbedeutenden Prachtglanze der Wandleuchter und Kronenleuchter, mitten unter allerley Leuten, von ein Paar schönen Augen am Spieltische gehalten wird, der in abwechselnder Zerstreuung aus der Gesellschafft, ins Conzert, und von da auf den Ball getrieben wird, und mit allem Interesse des Leichtsinns, einer niedlichen Blondine den Hof macht; so haben Sie den gegenwärtigen Fassnachts Goethe, der Ihnen neulich einige dumpfe tiefe Gefühle vorstolperte, der nicht an Sie schreiben mag, der Sie auch manchmal vergißt, weil er sich in Ihrer Gegenwart ganz unausstehlich fühlt.

Aber nun giebts noch einen, den im grauen Biber-Frack mit dem braunseidnen Halstuch und Stiefeln, der in der striechenden Februarluft schon den Frühling ahndet, dem nun bald seine liebe weite Welt wieder geöffnet wird, der immer in sich lebend, strebend und arbeitend, bald die unschuldigen Gefühlen der Jugend in kleinen Gedichten, das kräfftige Gewürze des Lebens in mancherley Dramas, die Gestalten seiner Freunde und seiner Gegenden und seines geliebten Hausraths mit Kreide auf grauem Papier, nach seiner Maase auszudrücken sucht, weder rechts noch links fragt: was von dem gehalten werde was er machte? weil er arbeitend immer gleich eine Stufe höher steigt, weil er nach keinem Ideale springen, sondern seine Gefühle sich zu Fähigkeiten, kämpfend und spielend, entwickeln lassen will. Das ist der, dem Sie nicht aus dem Sinne kommen, der auf einmal am frühen Morgen einen Beruf fühlt Ihnen zu schreiben, dessen größte Glückseligkeit ist mit den besten Menschen seiner Zeit zu leben.

Hier also meine beste sehr mancherley von meinem Zustande, nun thun Sie dessgleichen und unterhalten mich von dem Ihrigen, so werden wir näher rücken, einander zu schauen glauben – denn das sag ich Ihnen voraus daß ich Sie offt mit viel Kleinigkeit unterhalten werde, wie mirs in Sinn schießt.

Noch eins was mich glücklich macht, sind die vielen edlen Menschen, die von allerley Enden meines Vaterlands, zwar freylich unter viel unbedeutenden, unerträglichen, in meine Gegend, zu mir kommen, manchmal vorübergehn, manchmal verweilen. Man weiss erst dass man ist wenn man sich in andern wiederfindet.

Ob mir übrigens verrathen worden: wer und wo sie sind, thut nichts zur Sache, wenn ich an Sie denke fühl ich nichts als Gleichheit, Liebe, Nähe! Und so bleiben Sie mir, wie ich gewiss auch durch alles Schweben und Schwirren, durch unveränderlich bleibe. Recht wohl – ! diese Kusshand – Leben Sie recht wohl.



​Goethe.

H: Verbleib unbekannt; 1930 Herzogliche Lehnsbibliothek Sagan (heute Zagan, Polen), Slg der Herzogin Dorothea von Dino und Sagan (vgl. Julius Petersen: Goethebriefe in Sagan. In: Vimariensia für Max Hecker. 1930, S. 53). – Egh., mit Adresse: Der teuern Ungenannten. (Vgl. Goethe-Stolberg​1, 79.) – Beischluss zu einem nicht überlieferten Brief vermutlich an Heinrich Christian Boie (vgl. EB 58 ).

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 79–81, Nr 2.

D: Goethe-Stolberg​2 (1881), 6–9, Nr 2.

WA IV 2 (1887), 233–235, Nr 290 (wahrscheinlich nach D [1881]).

Textgrundlage: D. – Sämtliche Handschriften der im vorliegenden Band gedruckten Briefe Goethes an Augusta zu Stolberg wurden für Goethe-Stolberg​2 (1881) neu verglichen. Die Handschriften der Briefe, deren Verbleib heute unbekannt ist ( Nr 196 , 233 , 250 ), befanden sich 1881 noch im Besitz Emilie von Binzers in München und wurden dort im Auftrag des Herausgebers von Moritz Carriere autopsiert (vgl. Goethe-Stolberg​2, V f.). Wie ein Vergleich von E und D bei Briefen Goethes an Augusta zu Stolberg zeigt, deren Handschriften überliefert sind, bietet D einen genaueren Text als E, wo orthographische und grammatische Unregelmäßigkeiten, hauptsächlich die Kommasetzung, ss- und ß-Schreibung, korrigiert und vereinheitlicht wurden.

Fassnachts] Fastnachts​ E striechenden] streichenden​ E dass] daß​ E Frankfurt. den 13. Febr. ​/ 1775.] ​in einer Zeile E

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Augusta zu Stolbergs etwa aus der ersten Hälfte des Februar 1775 (vgl. zu 164,35 ). – Der Antwortbrief von etwa Ende Februar/Anfang März 1775 (vgl. zu 170,22 ) ist nicht überliefert.

meine liebe] Obwohl Goethe die Identität der Adressatin vermutlich inzwischen kannte (vgl. zu 164,35 ), hielt er durch Anrede und Adresse (Der teuern Ungenannten.) den Eindruck aufrecht, er schreibe an eine ihm Unbekannte.

im galonirten Rock] Eigentlich ein mit Tressen oder Borten besetzter Mantel, auch: Uniformmantel. – Hier ist ein festlich verziertes Kleidungsstück gemeint. Goethe beschreibt sich als einen im Stil des Rokoko herausgeputzten Kavalier, dessen Äußeres im Kontrast zu seiner gewöhnlichen schlichten Alltagskleidung steht.

in leidlich konsistenter Galanterie] In einem insgesamt hinreichend eleganten Äußeren, in einem der Mode entsprechenden Erscheinungsbild vornehmen Auftretens (vgl. GWb 3, 1064).

umleuchtet 〈…〉 am Spieltische gehalten] Wahrscheinlich beschreibt Goethe eine Abendgesellschaft im Schönemann'schen Haus „Zum Liebeneck“ am Frankfurter Kornmarkt, deren Atmosphäre ihn gleichzeitig anzuziehen und abzustoßen scheint. Parallelen zu dieser Schilderung finden sich in den ersten vier Strophen eines kurz nach diesem Brief entstandenen Gedichts, das unter dem Titel „An Belinden“ im März 1775 in der „Iris“ (2. Bd. 3. Stück, S. 240) erschien:


 Warum ziehst du mich unwiderstehlich Ach in iene Pracht, War ich guter Junge nicht so seelich In der öden Nacht.
 Heimlich in mein Zimmergen verschlossen Lag im Mondenschein Ganz von seinem Schauerlicht umflossen Und ich dämmert ein
 Träumte da von vollen goldnen Stunden Ungemischter Lust Hatte schon dein Liebes Bild empfunden Tief in meiner Brust.
 Bin ich's noch den du bey so viel Lichtern An dem Spieltisch hältst Offt so unerträglichen Gesichtern Gegenüber stellst.

(H: UB Leipzig, Slg Hirzel.)

der in abwechselnder Zerstreuung 〈…〉 den Hof macht] Über Goethes Auftreten in der Frankfurter Gesellschaft im Frühjahr 1775 berichtet ein Brief des Malers und Zeichners Georg Melchior Kraus, bei dem Goethe Anfang 1775 Zeichenunterricht nahm: „Göthe ist jetzo lustig und munter in Gesellschafften, geht auf Bäle und tantzt wie rasend! Macht den Galanten beym schönen Geschlecht, das war er sonsten nicht: Doch hat er noch immer seine alte Laune. Im eyfrigstem Gespräche, kan ihm einfallen, aufzustehen, fortzulaufen und nicht wieder zu erscheinen. Er ist gantz sein, richtet sich nach keiner Menschen Gebräuche, wenn und wo alle Menschen in feyerlichsten Kleidungen sich sehen laßen, sieht man ihn im grösten Negligé, und eben so, im Gegentheil. Göthe will oft zu mir komen und bey mir zeichnen, welches ich ihme sehr gerne erlauben werde. Er hat seit einem Jahr viel gezeichnet, und auch etwas gemalt. Viele Schatten Bilder, und auch andere Gesichter in Profil macht er, trifft öfters recht gut die Gleichheit.“ (Brief an Friedrich Justin Bertuch, 5. März 1775; H: GSA 6/1043.)

niedlichen Blondine] Wohl als Anspielung auf Anna Elisabeth Schönemann zu verstehen.

der Ihnen neulich 〈…〉 Gefühle vorstolperte] Anspielung auf den ersten überlieferten Brief an die Adressatin etwa vom 18. bis 30. Januar ( Nr 188 ). – Zur Selbststilisierung Goethes in seinen Briefen an Augusta zu Stolberg vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 188 .

dumpfe] Hier: in der Stimmung schwankend, unklar, verworren, dunkel. In vergleichbarer Bedeutung wird der Begriff in dieser Zeit häufig von Goethe verwendet, so auch in „Stella“: Es ist ein dumpfer Todenblik in dem Gefühl! 〈…〉 daß ich dumpfen Schlaf, dass ich in hinreissenden Trähnen mein Leben hingäbe! (5. Akt; DjG​3 5, 110; vgl. auch GWb 2, 1290.)

im grauen Biber-Frack 〈…〉 Stiefeln] Biberfrack: Jacke aus gerautem Baumwollstoff (Biber). – Wohl in dem hier erwähnten Biber-Frack oder in einem ähnlichen Kleidungsstück porträtierte Georg Melchior Kraus Goethe kurz nach dessen Übersiedlung nach Weimar (Original von 1775/76: KSW, Museen; vgl. auch Schulte-Strathaus, Nr 25). Dies lässt ein Brief Catharina Elisabeth Goethes vermuten, die 1778 von Herzogin Anna Amalia eine Kopie des Gemäldes erhielt: „Wir finden viele gleichheit drinnen, und haben eine große herrlichkeit damit wie das Ihro Durchlaucht Sich leicht vorstellen können, da wir ihn selbst in 3 Jahren nicht gesehen haben, zumahl da er im Frack gemahlt ist worin ich ihn immer am liebsten so um mich herum hatte, und es auch seine gewöhnliche tracht war.“ (Brief an Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach, 30. November 1778; Pfeiffer-Belli, 432); die Kopie des Gemäldes von Johann Ehrenfried Schumann befindet sich im FDH/FGM.

striechenden] Striechen; ältere (mhd.) Form zu ‚streichen‘; hier: onomapoetisch für die schnelle Bewegung des Windes (vgl. Adelung 4, 434).

in kleinen Gedichten] In dieser Zeit entstand u. a. das Gedicht mit dem Incipit Herz mein Herz was soll das geben? 〈…〉 (DjG​3 5, 27), von dem eine eigenhändige Abschrift Goethes vermutlich dem Brief an Merck vom 10. Februar 1775 beilag (vgl. Beilage zu Nr 193 ); es wurde zuerst im März 1775 in der „Iris“ (2. Bd. 3. Stück, S. 242 f.) gedruckt, und zwar ohne Verfasserangabe und unter dem Titel „Neue Liebe, Neues Leben“. In derselben Nummer der „Iris“ erschien auch „An Belinden“ (vgl. zu 164,1–3 ).

in mancherley Dramas] Wie aus dem Brief an Johanna Fahlmer vom 7.? Februar 1775 hervorgeht, war Goethe zu dieser Zeit offenbar mit einer Überarbeitung des Singspiels „Erwin und Elmire“ beschäftigt, das im März 1775 im 2. Band der „Iris“ (3. Stück) erschien (vgl. zu 163,3 ). Möglicherweise dachte Goethe auch an „Claudine von Villa Bella“, die Anfang April 1775 zumindest in Teilen vorgelegen haben muss (vgl. Datierung zu Nr 228 ). Ebenso könnte „Stella“ gemeint sein. Die erste direkte Erwähnung dieses Stückes findet sich allerdings erst im Brief an Johanna Fahlmer vom 5. März 1775 (vgl. 168,11 ).

Beruf] Hier im übertragenen Sinn: Neigung, innerer Trieb; einen „Beruf bey sich zu etwas empfinden“ (Adelung 1, 886).

sehr mancherley] Sehr: hier verstärkend: sehr vieles (vgl. Grimm 10 I, 162).

von dem Ihrigen] Wie Goethes Brief vom 19. bis 25. März 1775 belegt, erfüllte Augusta erst im März Goethes Bitte (vgl. zu 178,22 ).

die vielen edlen Menschen] In den vorangegangenen Monaten hatten u. a. Klopstock, Johann Lorenz Böckmann, Friedrich Heinrich Jacobi, Heinrich Christian Boie, Carl Ludwig von Knebel und der Erbprinz Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach Goethe in Frankfurt getroffen (vgl. Nr 156 , 157 , 169 , 192 und Chronik 1, 682 und 684).

Ob mir 〈…〉 wer und wo sie sind] Wahrscheinlich mit Bezug auf einen nicht überlieferten Brief Augustas geschrieben. Es ist anzunehmen, dass Goethe entweder durch Boie, über den der vorliegende Brief wahrscheinlich noch befördert wurde, oder durch Augustas Brüder Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg erfahren hatte, wer die teuere Ungenannte war. Die nachfolgende ostentative Versicherung, er fühle nichts als Gleichheit, Liebe, Nähe, unterstützt die Annahme, dass Goethe die Identität der Adressatin und damit ihren Stand als Reichsgräfin kannte (vgl. zu 219,24–27 ).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 196 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR196_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 163–165, Nr 196 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 412–415, Nr 196 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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