BuG: BuG I, A 17
Frankfurt 1762

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 251)

Frankfurt 1762

Auf diesen so braven als unglücklichen Mann [F. L. v. Reineck] wirkte meine Gegenwart sehr günstig: denn indem er sich gern mit mir unterhielt, und mich besonders von Welt- und Staatsverhältnissen belehrte, schien er selbst sich erleichtert und erheitert zu fühlen. Die wenigen alten Freunde, die sich noch um ihn versammelten, gebrauchten mich daher oft, wenn sie seinen verdrießlichen Sinn zu mildern und ihn zu irgend einer Zerstreuung zu bereden wünschten. Wirklich fuhr er nunmehr manchmal mit uns aus, und besah sich die Gegend wieder, auf die er so viele Jahre keinen Blick geworfen hatte. Er gedachte der alten Besitzer, erzählte von ihren Charaktern und Begebenheiten, wo er sich denn immer streng, aber doch öfters heiter und geistreich erwies. Wir suchten ihn nun auch wieder unter andere Menschen zu bringen, welches uns aber beinah übel gerathen wäre.

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 254)

Frankfurt 1762

Ich ... näherte mich dem Alten [F. W. Hüsgen] immer mehr, je mehr ich ihn kennen lernte. Da er sich nur bedeutender Rechtsfälle annahm, so hatte er Zeit genug sich auf andere Weise zu beschäftigen und zu unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn gelebt und seine Lehren vernommen, als ich wohl merken konnte, daß er mit Gott und der Welt in Opposition stehe. Eins seiner Lieblingsbücher war Agrippa de vanitate scientiarum, das er mir besonders empfahl, und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit lang in ziemliche Verwirrung setzte. Ich war im Behagen der Jugend zu einer Art von Optimismus geneigt, und hatte mich mit Gott oder den Göttern ziemlich wieder ausgesöhnt: denn durch eine Reihe von Jahren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß es gegen das Böse manches Gleichgewicht gebe, daß man sich von den Übeln wohl wieder herstelle, und daß man sich aus Gefahren rette und nicht immer den Hals breche. Auch was die Menschen thaten und trieben sah ich läßlich an, und fand manches Lobenswürdige, womit mein alter Herr keineswegs zufrieden sein wollte. Ja, als er einmal mir die Welt ziemlich von ihrer fratzenhaften Seite geschildert hatte, merkte ich ihm an, daß er noch mit einem bedeutenden Trumpfe zu schließen gedenke. Er drückte, wie in solchen Fällen seine Art war, das blinde linke Auge stark zu, blickte mit dem andern scharf hervor und sagte mit einer näselnden Stimme: Auch in Gott entdeck’ ich Fehler.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0017 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0017.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 24 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang