Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 107
Von Johann Kaspar Lavater

12. Januar 1780, Zürich

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So nahe hatt' ich Eüch, u: izt weiß ich so lange
kein Wort von Eüch – –
Heüt geht ab mit der Fuhr
Das Gemählde, die Ruh in Ägypten von
Correge, u: zwey Schattenriße –
Mit der fahrenden Post – die Apokalypse,
die ich unmöglich mehr ganz durchsehen
konnte – du wirst die Schreibfehler wol be-
merken.


Das Portät vom Herzog laß ich noch co-
piren, eh' ich's wegsende. Verzeiht. Es ist
zum Sprechen ähnlich, aber nun seh' ich
das Sonnenklar, daß Jul keinen Grand
Sens hat. Deines, das mir, erschrick aber
nicht, wie unter den Händen weggestoh-
len worden ist – u: das ich, durch magi-
sche Wuth über dem unbegreiflichen Ver-
schwinden, gewiß, ehe du diesen Brief
hast, wieder herschaffen will, u: wenn's
über's Meer geflogen wäre – ist im | 2 |
Grunde elend, ohne deine Seele, hasen-
füßisch gezeichnet "der hat weder den Her-
zog, noch dich gesehen" – ist mein Urtheil.
Mit diesen beyden Dingen send' ich die
Dürrers, mit Bitte der Beschleünigung.
Dieß Jahr ist ein Jahr des Arbeitens, auf-
raümens, Abwerfens für mich – hilf
mir!


Füßli hat mir noch nicht geantwortet. –
Auswurf von ihm leg' ich etwas den Dür-
rern für dich bey.


Gleich mit dem Anfang Februar mach'
ich Anstalt für ein physiognomisches
Cabinet für den Herzog. Sag' ihm, daß
mein Herz an dem seinigen hängt –
Seine Treü u: Festigkeit u: sein reiner
Sinn thut dem innersten meiner Seele
wohl.


Zu unserm Gespräche vom Erhabnen, hätt'
ich einige Schlußsteine; ich erwarte den
Bogen von dir.


Apropos eine Anekdote – die am Tag | 3 |
Eürer Abreise von Schaffhausen, in Schaff-
hausen erzählt ward –


"Goethe u: Lavater standen unten am
Rheinfall. Goethe behauptete der Rhein-
fall sey in Bewegung – Lavater, er
stehe still – Nachdem sie eine Stunde
darüber gezankt – habe L. damit geen-
det "Goethe, du trinkst zuviel Wein,
drum scheint's dir, der Rheinfall sey
in Bewegung" – und G: damit "und
du zuviel Waßer, drum scheint's dir,
er stehe still –"


Ein psychologisches Problem, wie diese
Anekdote aus unserm, unter dem Don-
ner des Rheinfalls gehaltnen Gespräche
sich herausspinnen konnte.


Semmler hat eine scharfe Schrift wider
mich drucken laßen, die ich lezten Frey-
tag Morgen las, u: unter aller Critick
elend u: pöbelhaft fand. Am Freytag abend
erhielt ich eine sehr brüderliche, freylich | 4 |
Taschenspielerische Antwort auf meinen
Brief – aus dem dir eine einzige Zeile
genug für dich seyn mag –


"Rößelt sagt: Steinbart sey ein Windbeü-
tel – "bereden Sie ihn, daß er das öffent-
lich sage" – O die Theologen – du kannst
denken, ob ich froh sey, mit einem solchen
Mann abgebunden zuhaben.


Hier noch etwas zum Beschluß, das Eüch
wol thun wird, wegen der höchst bon
homischen Elendigkeit Die Nachricht vom Herzog.


Herdern grüß. Noch hab' ich ihm nicht ge-
schrieben. Ich hab' schrecklich viel zuthun,
u: fürchterlich den Schnuppen.
Adieü, ich küße dein Wort –

"Seele des Menschen, wie gleichst du    dem Waßer – "Schicksal des Menschen, wie gleichst du    dem Winde.
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Grüß Wedeln, den edeln, den bon et
aimable.


Sage der Herzoginn was herzinnigliches
von mir – u: etwas im Vorbeyrauschen
dem Cammerdiener des Herzogs, daß ich
der beßte aller Menschen wäre, wenn ich
so ein guter Pfarrer wäre, als er ein
vortreflicher Cammerdiener –


Adieü Bruder – ewiger!

   


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 68  B : 1779 November (!) Ende (!) (WA IV 4, Nr. 870)  A : 1780 Februar 7 (WA IV 4, Nr. 887)  V:  Abschrift 

L. übersende Correggios "Ruhe in Ägypten", zwei Schattenrisse sowie sein Manuskript der Apokalypse ("Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn", o. O. u. J.). Urteil über J. Juels Porträt von Herzog Karl August und G. Zusammen mit diesen Bildnissen werde G. die Dürer-Sammlung L.s zum Ordnen erhalten. - J. H. Füßli habe noch nicht geantwortet. Anfang Februar beginne L. ein physiognomisches Cabinet für Karl August vorzubereiten. - Wiedergabe einer Anekdote über G. und L. am Rheinfall bei Schaffhausen. - J. S. Semler habe eine scharfe Schrift wider mich drucken laßen (? "Lavater's und eines Ungenannten Urteile über Herrn C. R. Steinbart's System des reinen Christentums", Halle 1780). Wiedergabe einer Äußerung J. A. Nösselts über G. S. Steinbart aus Semlers Brief an L. - Zitat der Schlußverse aus G.s Gedicht "Gesang der Geister über den Wassern". - Grüße und Empfehlungen, darunter an J. K. Wagner.

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 So nahe hatt' ich Eüch, u: izt weiß ich so lange kein Wort von Eüch – – Heüt geht ab mit der Fuhr Das Gemählde, die Ruh in Ägypten von Correge, u: zwey Schattenriße – Mit der fahrenden Post – die Apokalypse, die ich unmöglich mehr ganz durchsehen konnte – du wirst die Schreibfehler wol bemerken.

 Das Portät vom Herzog laß ich noch copiren, eh' ich's wegsende. Verzeiht. Es ist zum Sprechen ähnlich, aber nun seh' ich das Sonnenklar, daß Jul keinen Grand Sens hat. Deines, das mir, erschrick aber nicht, wie unter den Händen weggestohlen worden ist – u: das ich, durch magische Wuth über dem unbegreiflichen Verschwinden, gewiß, ehe du diesen Brief hast, wieder herschaffen will, u: wenn's über's Meer geflogen wäre – ist im| 2 | Grunde elend, ohne deine Seele, hasenfüßisch gezeichnet "der hat weder den Herzog, noch dich gesehen" – ist mein Urtheil. Mit diesen beyden Dingen send' ich die Dürrers, mit Bitte der Beschleünigung. Dieß Jahr ist ein Jahr des Arbeitens, aufraümens, Abwerfens für mich – hilf mir!

 Füßli hat mir noch nicht geantwortet. – Auswurf von ihm leg' ich etwas den Dürrern für dich bey.

 Gleich mit dem Anfang Februar mach' ich Anstalt für ein physiognomisches Cabinet für den Herzog. Sag' ihm, daß mein Herz an dem seinigen hängt – Seine Treü u: Festigkeit u: sein reiner Sinn thut dem innersten meiner Seele wohl.

 Zu unserm Gespräche vom Erhabnen, hätt' ich einige Schlußsteine; ich erwarte den Bogen von dir.

 Apropos eine Anekdote – die am Tag| 3 | Eürer Abreise von Schaffhausen, in Schaffhausen erzählt ward –

 "Goethe u: Lavater standen unten am Rheinfall. Goethe behauptete der Rheinfall sey in Bewegung – Lavater, er stehe still – Nachdem sie eine Stunde darüber gezankt – habe L. damit geendet "Goethe, du trinkst zuviel Wein, drum scheint's dir, der Rheinfall sey in Bewegung" – und G: damit "und du zuviel Waßer, drum scheint's dir, er stehe still –"

 Ein psychologisches Problem, wie diese Anekdote aus unserm, unter dem Donner des Rheinfalls gehaltnen Gespräche sich herausspinnen konnte.

 Semmler hat eine scharfe Schrift wider mich drucken laßen, die ich lezten Freytag Morgen las, u: unter aller Critick elend u: pöbelhaft fand. Am Freytag abend erhielt ich eine sehr brüderliche, freylich| 4 | Taschenspielerische Antwort auf meinen Brief – aus dem dir eine einzige Zeile genug für dich seyn mag –

 "Rößelt sagt: Steinbart sey ein Windbeütel – "bereden Sie ihn, daß er das öffentlich sage" – O die Theologen – du kannst denken, ob ich froh sey, mit einem solchen Mann abgebunden zuhaben.

 Hier noch etwas zum Beschluß, das Eüch wol thun wird, wegen der höchst bon homischen Elendigkeit Die Nachricht vom Herzog.

 Herdern grüß. Noch hab' ich ihm nicht geschrieben. Ich hab' schrecklich viel zuthun, u: fürchterlich den Schnuppen. Adieü, ich küße dein Wort –

"Seele des Menschen, wie gleichst du  dem Waßer – "Schicksal des Menschen, wie gleichst du  dem Winde.
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 Grüß Wedeln, den edeln, den bon et aimable.

 Sage der Herzoginn was herzinnigliches von mir – u: etwas im Vorbeyrauschen dem Cammerdiener des Herzogs, daß ich der beßte aller Menschen wäre, wenn ich so ein guter Pfarrer wäre, als er ein vortreflicher Cammerdiener –

Adieü Bruder – ewiger!  

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 107, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0107_00119.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 107.

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