Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 23
Von Johann Kaspar Lavater

5. Februar 1774, Zürich

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Mein lieber Goethe!


Deinen Stoß Silhouettes, u: dein Memo-
rial an Kölbeln hab' ich – u: mit der selbℓ
Post ein Kistlein voll Zeichnungen von
Chodowieki erhalten. Fast hätt' ich mich
an allem krank gesehen! Was das für
eine Situation ist – aus 13. Gesichtern sei-
ner Freünde u: Brüder zween aus allen
herauszusuchen – zumal, wenn man
argwöhnisch genug ist, es für möglich zu-
halten – daß du MannsGesichter weib-
lich coeffirt habest. Doch nein – ich such-
te Herder – dem ich heüt schreibe – nicht
wahr N​ọ 13. ist Herder? Und N​ọ 12. die
Herderinn –


N​ọ 1. Ein verständiger Mann!
   2. Der Mund verschnitten – aber, aber,
      welch eine Frau! Welch eine Stirn!
      welche Nase für eine Frau! Welch
      eine MannsSeele! | 2 |
N​ọ 3. Die Nase – mir Antipathie!
   4. Viel, viel trefliches! Unvergleichli-
      ches! Herrliches!
   5. Scheint mir Deinetisch flach?
   6. Gewiß eine etwas schwächere Schwe-
      ster von 4.?
   7. Gut u: schwach – wenig Mann?
   8. Gescheüt u: – stolz!
   9. Der Liebste unter allen.
  10. Nicht mein Mann; wenn er gleich
      trefliche Eigenschaften haben mag.
  11. Ein fester – aber nicht dehmüthi-
      ger Mann.


Und dann deine Epistel an Kölbeln. O
du arger! Lieber! Weh dem, den du züch-
tigst – u: wohl ihm, denn


   "Deine Zucht ist Arzney"


Wie Füßli von Rom mir immer sagte! O
den, den solltest du kennen – Herder
schreibt mir – "Ich verehre ihn recht, und
wäre auf jeden Ort, wo seine Finger-
spitze ruhet, begierig. Er scheint mir | 3 |
in vielem betrachtet, zu seyn, was Goethe,
wie ich ihn kenne! Wenden Sie sich an
den; Er ist ein großer Zeichner" – Von
Füßli kann ich nichts erhalten! Goethe ist
zehn mal mehr Mensch u: Freünd, als
Füßli. Erst wär's dir, meine Briefe an
ihn – aber nochzehnmal mehr erst seinℓ
laconischen Despotismus als den Pen-
dant meiner Weiblichkeit zusehen!


Also, um wieder auf die Hauptsache zu-
kommen – Goethe – Zeichne mir erhabnes
Ideal, oder was du willst – Christus –
oder was du willst! Einmal ein Quart-
blat – in meine Fragmente – Daß heißt
mit andern Worten –


Wirf dich auf deinen Sopha hin – hin
in's Meer deiner Ideale – schärfe Bley-
stift – u: rolle Papier auf, u: gieß dei-
nen Gedanken hin, gieb ihm Form u:
Gränze – heft ihn an die Wand - geh | 4 |
von ihm u: gegen ihm – zur Rechten u:
Linken – u: freüe dich des Werkes dei-
ner Hände – u: frohloke in der Herrlich-
keit deines Hochsinns – dann nimm das
Blat, roll es unter glattes Papier, ver-
sieg'l' es, u: gieb's dem Jean oder Martin
– (oder wie dein Botte heißt, der nicht weiß,
wem er's thut, wenn er deinen Rock aus-
kehrt) u: schärf' ihm ein – die Post nicht
zuversäumen; u: wenn er frömmer ist,
als sein Patron – so laß ihn bey Deinet
ein Buch oder Büchelgen von mir hohlℓ –
auf meine Rechnung Trinkgeld – Fiat.
Tage gehen dahin – ich ruf'! Antworte
mir! Lohne, lohne mein Harren mit
Licht, u: meinen Hunger mit Wahrheit!
Und verachte den Frager, der Wahrheit
tragen kann, Freünd, nicht. Amen.


    L.
   


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  Briefe HA Nr. 18  B : -  A? : 1774 Februar oder März (vgl. RA 1, Nr. 24) 

Dank für den Stoß Silhouettes und G.s Memorial an J. B. Kölbele. Gleichzeitig habe L. ein Kistlein voll Zeichnungen von D. N. Chodowiecki erhalten. Erste Deutung und Identifizierung der Schattenbilder; Irrtum bezüglich Herders Silhouette. - Herder habe ihm (im Brief vom 15. Januar 1774) den Zeichner J. H. Füßli empfohlen, von welchem L. jedoch nichts erhalten könne. Goethe ist zehn mal mehr Mensch u. Freund, als Füßli. - Wiederholte Bitte: zeichne mir erhabnes Ideal [...] - Christus - oder was du willst! [...] in meine Fragmente.

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Mein lieber Goethe!

 Deinen Stoß Silhouettes, u: dein Memorial an Kölbeln hab' ich – u: mit der selbℓ Post ein Kistlein voll Zeichnungen von Chodowieki erhalten. Fast hätt' ich mich an allem krank gesehen! Was das für eine Situation ist – aus 13. Gesichtern seiner Freünde u: Brüder zween aus allen herauszusuchen – zumal, wenn man argwöhnisch genug ist, es für möglich zuhalten – daß du MannsGesichter weiblich coeffirt habest. Doch nein – ich suchte Herder – dem ich heüt schreibe – nicht wahr N​ọ 13. ist Herder? Und N​ọ 12. die Herderinn –

 N​ọ 1. Ein verständiger Mann!  2. Der Mund verschnitten – aber, aber,   welch eine Frau! Welch eine Stirn!   welche Nase für eine Frau! Welch   eine MannsSeele!| 2 | N​ọ 3. Die Nase – mir Antipathie!  4. Viel, viel trefliches! Unvergleichliches! Herrliches!  5. Scheint mir Deinetisch flach?  6. Gewiß eine etwas schwächere Schwester von 4.?  7. Gut u: schwach – wenig Mann?  8. Gescheüt u: – stolz!  9. Der Liebste unter allen.   10. Nicht mein Mann; wenn er gleich   trefliche Eigenschaften haben mag.   11. Ein fester – aber nicht dehmüthiger Mann.

 Und dann deine Epistel an Kölbeln. O du arger! Lieber! Weh dem, den du züchtigst – u: wohl ihm, denn

  "Deine Zucht ist Arzney"

 Wie Füßli von Rom mir immer sagte! O den, den solltest du kennen – Herder schreibt mir – "Ich verehre ihn recht, und wäre auf jeden Ort, wo seine Fingerspitze ruhet, begierig. Er scheint mir| 3 | in vielem betrachtet, zu seyn, was Goethe, wie ich ihn kenne! Wenden Sie sich an den; Er ist ein großer Zeichner" – Von Füßli kann ich nichts erhalten! Goethe ist zehn mal mehr Mensch u: Freünd, als Füßli. Erst wär's dir, meine Briefe an ihn – aber nochzehnmal mehr erst seinℓ laconischen Despotismus als den Pendant meiner Weiblichkeit zusehen!

 Also, um wieder auf die Hauptsache zukommen – Goethe – Zeichne mir erhabnes Ideal, oder was du willst – Christus – oder was du willst! Einmal ein Quartblat – in meine Fragmente – Daß heißt mit andern Worten –

 Wirf dich auf deinen Sopha hin – hin in's Meer deiner Ideale – schärfe Bleystift – u: rolle Papier auf, u: gieß deinen Gedanken hin, gieb ihm Form u: Gränze – heft ihn an die Wand - geh| 4 | von ihm u: gegen ihm – zur Rechten u: Linken – u: freüe dich des Werkes deiner Hände – u: frohloke in der Herrlichkeit deines Hochsinns – dann nimm das Blat, roll es unter glattes Papier, versieg'l' es, u: gieb's dem Jean oder Martin – (oder wie dein Botte heißt, der nicht weiß, wem er's thut, wenn er deinen Rock auskehrt) u: schärf' ihm ein – die Post nicht zuversäumen; u: wenn er frömmer ist, als sein Patron – so laß ihn bey Deinet ein Buch oder Büchelgen von mir hohlℓ – auf meine Rechnung Trinkgeld – Fiat. Tage gehen dahin – ich ruf'! Antworte mir! Lohne, lohne mein Harren mit Licht, u: meinen Hunger mit Wahrheit! Und verachte den Frager, der Wahrheit tragen kann, Freünd, nicht. Amen.

  L.  

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 23, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0023_00025.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 23.

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